Meines Erachtens stellt die 2. Marokkokrise eine Art Schlüsselerlebnis für die Beziehungen zwischen Deutschland und GB dar.
Tatsächlich habe ich auch einiges zum Ablauf etwas anders in Erinnerung als hier dargestellt.
Zunächst schienen damals sowohl Teile der französischen Regierung und der französische Botschafter in Deutschland Jules Cambon als auch die britische Regierung und Teile der britischen Presse[1] durchaus eine Berechtigung für deutsche Kompensationsfoderungen zu sehen. Insofern ist es interessant hier zu lesen, dass sich die Franzosen vertragsgemäß verhalten haben sollen. Da musds es sich bei der Sicht der Zeitgenossen dann wohl entweder um eine Fehlinterpretation handeln oder die Verpflichtung Frankreichs zur Kompensation wurde mehr als moralisch begründet gesehen. Das wäre mal interessant näher zu untersuchen.
Das britische Kabinett - einschließlich Grey - war auch nicht sonderlich begeistert von der Aktion Frankreichs[2] (wenn ich mich recht erinnere sowieso eine recht eigenmächtige Handlung des damaligen Außenministers Justin Cruppi). In einer ersten Entschließung zur Krise - das war noch vor Entsendung der Panther - hatte das britische Kabinett festgestellt sich nicht in die Verhandlungen zwischen Frankreich und Deutschland einmischen zu wollen, solange britische Interessen nicht betroffen waren und Deutschland auf Besitzungen in Marokko verzichten würde.[3]
Das Problem war nur, dass Kiderlen-Wächter in dieser Situation völlig versagt hat.
Dabei hatte Kiderlen tatsächlich einen recht guten Ruf als Diplomat. Sein Biograph Forsbach scheint ihn auch generell als guten Diplomaten einzuschätzen. So seien die Erfolge in der Bosnischen Annexionskrise im Wesentlichen Kiderlen zu verdanken gewesen, der zu diesem Zeitpunkt aus seinem "Exil" in Rumänien zurückgerufen worden war, und mehr oder weniger das Krisenmanagement übernommen hatte. Auch die Beziehungen zu Rumänien hatte er in seiner Position als Gesandter dort ganz gut stabilisieren können. Auch seine Zeit in Istanbul als Vertreter des dortigen Botschafters Marschall von Bieberstein war eine recht erfoglreiche Zeit gewesen. Letztlich war das wohl der Grund, warum ihn Bethmann auch als Außenminister wollte. Ich persönlich vermute, dass Kiderlen mehr der Balkanspezialist war, aber eben zu wenig Erfahrung im Umgang mit den westlichen europäischen Mächten hatte. Daher halte ich seine Berufung zum Außenminister - wenn man wie Bethmann gerade die Beziehungen zu GB priorisierte - für verfehlt. Hier hätte ein Spezialist für GB berufen werden müssen, wie es unter anderem der Freund Bethmanns Karl von Eisendecher war. Leider fühlte sich ersterer von letzterem ungerechtfertigt kritisiert und wollte ihn daher nicht auf dem Posten haben.
Kiderlens Fehler waren von erstaunlicher Vielfalt. Als weniger gravierend würde ich noch die Zurückweisung der Angebote Spaniens ansehen. Zwar wäre eine diplomatische gegenseitige Unterstützung durchaus wünschenswert gewesen, aber die war nicht zwingend notwendig. Sehr viel problematischer war zunächst, dass Kiderlen überhaupt nicht kommuniziert hat, was er eigentlich wollte - und der Grund dafür war, dass Kiderlen die Krise eben auch zum Aufbrechen der Entente benutzen wollte. Hätte Kiderlen von vornherein klar gemacht, dass es für ihn um eine Kompensation im Kongo geht, hätte GB sich vermutlich nie eingemischt. Die Auswirkungen, die das auf die zukünftigen Beziehungen zwischen Deutschland und GB hatte, können gar nicht unterschätzt werden.
In diesem Zusammenhang ist auch Kiderlens Kooperation mit der extremen Rechten - namentlich den Alldeutschen - zu sehen. Erst mit Kiderlens Hilfe kam es zu der massiven Propaganda für ein deutsches Marokko, was natürlich auch die Verhandlungen mit dem Nachbarn erheblich belastete und GB auf den Plan rief. Mehr noch - erst diese Propaganda führte dazu, dass die letztlich erworbenen Kongogebiete als diplomatische Niederlage angesehen wurden. Das hatte auch nachhaltige langfristige Folgen für die Innenpolitik gehabt.
Die Entsendung der Panther (eine Maßnahme übrigens, die der Kaiser zunächst ablehnte und zu der er erst überredet werden musste) war dann der dritte Fehler, der für sich genommen weniger gravierend war, als man gemeinhin annimmt. Natürlich hat es insofern die britischen Entscheidungsträger alarmiert, weil hier eben ein deutsches Kriegsschiff operiert hat und das ganz allgemein den Fokus auf die Bedrohung durch die deutsche Flotte gelenkt hat. Die Tatsache, dass Kiderlen aber nichts über seine Absichten verlauten ließ, abgesehen von der Agitation der (All)deutschen Presse für ein deutsches Westmarokko, ließ dann die Befürchtung eines deutschen Marinestützpunktes im Atlantik aufkommen (auch wenn diese nicht in jeder Hinsicht rational waren).
Am problematischsten war dann, dass Metternich - im Wesentlichen weil von Kiderlen darüber im Unklaren gelassen - auf die Anfragen Greys, was denn die Deutschen jetzt genau von Frankreich wollten, nicht beantwortete. Gerade dieses Schweígen wurde als Affront gegen GB gewertet. Man fürchtete schließlich eine Dreiteilung Marokkos zwischen Spanien, Frankreich und Deutschland ohne dass dabei britische Interessen berücksichtigt würden.[4] Das war so nicht hinnehmbar und einer der entscheidenden Faktoren für die Rede Lloyd Goerges im Mansion House.
Das erstaunliche ist, dass nach Forsbach Kiderlen selbst die Briten eigentlich richtig einschätzte - er hatte nur nicht mit der Heftigkeit ihrer Reaktion gerechnet.
Hätte Kiderlen von Anfang an kommuniziert, was er eigentlich wollte und sich voll und ganz auf die Kompensation in Marokko konzentriert, hätter er dort sicherlich noch mehr herausschlagen können und hätte vor allem die Briten nicht verprellt. Grey hatte eine Kompensation im Kongo klar unterstützt und zwar sogar bis zum Alima als südlicher Linie.[5] Dafür hat er erheblichen Druck auf Frankreich ausgeübt.[6] Abgesehen von der grundsätzlichen Nutzlosigkeit der Kolonien hätte das der deutschen Regierung intern wie extern entsprechendes Prestige gebracht und wäre wohl als diplomatischer Sieg gewertet worden, ohne dass es die Beziehungen zu GB beeinträchtigt hätte. Auch die Franzosen hatten genug einflussreiche Politiker, die an einer friedfertigen Lösung interessiert waren. Besonders Jules Cambon unterstützte großzügige Kompensationen im Kongo[7] und der neue Premier Caillaux war ebenso zu Kompensationen zur Erreichung einer detente bereit[8].
Die langfristigen Auswirkungen auf die Beziehungen zu GB sind noch gravierender: Die Eskalation der Krise führte zur Abwendung Lloyd Georges (und eventuell auch Churchills) vom bisher eher deutsch-freundlichen Flügel innerhalb der Liberalen (dieser Punkt ist allerdings umstritten in der historischen Forschung), führte zur Ersetzung McKennas durch Churchill als First Lord of the Admiralty und dieser Umstand letztlich zur informellen britisch-französischen Flottenkooperation im Mittelmeer und im Nordseekanal und führte auch zur noch engeren Zusammenarbeit der britischen und französischen Generalstäbe. Von der Beeinträchtigung des Deutschlandbildes in der Öffentlichkeit man ganz zu schweigen.
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[1] Morris, Radicalism against War, S. 240, 247 f.
[2] Dockrill, in: Hinsley (Hrsg.), British foreign policy under Sir Edward Grey, S. 271 f.; Stevenson, Armaments and the Coming of War in Europe, S. 184.
[3] Stevenson, Armaments and the Coming of War in Europe, S. 184.; Morris, Radicalism against War, S. 238, 240.
[4] Dockrill, in: Hinsley (Hrsg.), British foreign policy under Sir Edward Grey, S. 272.
[5] Dockrill, in: Hinsley (Hrsg.), British foreign policy under Sir Edward Grey, S. 273, 275.
[6] Dockrill, in: Hinsley (Hrsg.), British foreign policy under Sir Edward Grey, S. 280, 283, 285.
[7] Dockrill, in: Hinsley (Hrsg.), British foreign policy under Sir Edward Grey, S. 280, 283, 285; Hayne, The French Foreign Office and the Origins of the First World War, S. 222 f.
[8] Forsbach, Alfred von Kiderlen-Wächter, Bd. 2, S. 489 ff.