Im vorliegenden speziellen Fall jedoch greift m.E. nach die grössere Glaubwürdigkeit von Überrestquelle gegenüber der Traditionsquelle nicht, da beide Propaganda-Charakter haben.
Deshalb schrieb ich, dass bei Briefen die Sachlage etwas komplizierter sei, als bei anderen Überrestquellen. Stephan III. mag vielleicht versuchen, den beiden fränkischen Brüdern seine Interpretation der politischen Verhältnisse in Italien unterzujubeln: Eines kann er aber nicht: Ihnen etwas über ihre tatsächlichen Eheverhältnisse zu erzählen - also allenfalls aus moralischer Perspektive. Karl und Karlmann wissen, wen sie geheiratet haben bzw. nicht geheiratet haben. Es ist also allenfalls der Infomationsstand den man in Rom gehabt haben mag, an dem herumzudeuteln ist, ob der gut oder schlecht war. Karl aus propagandistischer Absicht zu unterstellen, er sei verheiratet gewesen, obwohl er es nicht war, ergibt in einem Brief an Karl keinen Sinn. Es ergäbe allenfalls Sinn, Karls Friedelehe aufzuwerten.
Eine propagandistische Absicht hinter der hier diskutierten Aussage Stephans zu vermuten, hat Auswirkungen auf die Annahme, wie der Brief "zugestellt" wurde. Gab es zwei Abschriften, die jeweils an die beiden fränkischen Königshöfe gesandt wurden? Oder sollte der Brief öffentlich verlesen werden?
Stephan III. war als Gegner von Desiderius gegen eine Verbindung Karls mit den "treulosen und stinkenden Langobarden", also musste er behaupten, dass Karls erste Ehe legitim und daher nicht auflösbar sei, ganz unabhängig vom tatsächlichen Status der Ehe und auch ohne dass er wissen musste, wer genau jetzt Karls erste Frau überhaupt war.
Die Behauptung wäre ein ziemlich stumpfer Nadelstich, wenn Karl und Karlmann es besser wussten.
Auch wenn die Karlsvita erst 50 Jahre später entstand, war Einhard doch ein Zeitgenosse Karls und als Nachfolger Alkuins bereits in dessen Politik involviert (noch bevor er Ratgeber Ludwigs wurde).
Es ging um die ca. 50 Jahre Abstand zwischen Stephans Brief und Einhards Karlsvita als den beiden diskutierten Quellen.
Stell dir vor, heute schreibt jemand über die Kanzlerschaft Brandts und vor 50 Jahren. Nehmen wir zusätzlich an, es handele sich um zwei CDU-nahe Journalisten.
Der Journalist vor 50 Jahren würde die Kanzlerschaft ("Wandel durch Annäherung") Brandts geißeln. Als Verrat an Deutschland, an den deutschen Interessen, an den Vertriebenen, als Einknicken vor dem Ostblock, und offenbar sei seine Abkehr vom Kommunismus ja nur vorgespielt. Sein Kollege 50 Jahre später mit dem Wissen um den Prozess seit dem Ende der Kanzlerschaft Brandts, dem Mauerfall, der Wiedervereinigung, der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche etc. würde mindestens eine mildere, womöglich sogar positive Bilanz von Brandts Kanzlerschaft ziehen.
Und als Ratgeber Ludwigs war Einhard erst recht daran interessiert, frühere Ehen Karls als illegitim einzustufen (auch wenn die möglichen Thronaspiranten verstorben waren), um Ludwigs Anspruch völlig zweifelsfrei darstellen zu können.
Pippin war seit 811 tot, er hatte keine Nachkommen.
Von "Desiderata" sind keine Nachkommen bekannt. Vermutlich gab es sie nicht.
Ludwigs Mutterbrüder waren auch schon 810 und 812 gestorben.
Es gab schlicht
keinen legitimen Bruder, gegen den Einhard Ludwigs Anspruch auf den Thron hätte verteidigen müssen. Die Gefahr für Ludwig kam auch weniger von seinen illegitimen Brüdern als vielmehr der nächsten Generation. Bernhard zum Beispiel als Neffe von Ludwig und Sohn von dessen Mutterbruder Karlmann/Pippin hätte Einhard auf diese Weise nicht aus dem Rennen werfen können. Und ansonsten drohte Ludwig die meiste Gefahr von seinen eigenen Söhnen, die 830 und 833 gegen ihn rebellierten. Seine (illegitimen) Halbbrüder Drogo und Hugo blieben dabei treu an seiner Seite.
Es gibt ja auch mit den "Gesta episcoporum Mettensium" (Entstehungszeit: 766-791) von Paulus Diaconus noch eine Quelle Z, welche zeitnaher entstanden ist und wo Himiltrud zwar als Adlige, aber ebenfalls als Konkubine bezeichnet wird. Ich kann kein Latein, ich meine aber dass Folgendes soviel heisst wie "vor der legalen Ehe" ?
"Habuit tamen, ante legalem connubium ex Himiltrude nobili puella filius nomine Pippinum"
Wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass Paulus' Werk als "pro-karonlingisch" gilt (also wieder Propaganda). Aber hinsichtlich der Entstehungszeit der Gesta dürfte diese Sichtweise direkt auch für Pippin den Buckligen relevant gewesen sein.
Interessante Quelle. Bezeichnenderweise benennt Paulus Karlmann-Pippin von Beginn an Pippin und gar nicht erst Karlmann:
Hic ex Hildegard coniuge quattuor filios et quinque filias procreavit. Habuit tamen, ante legale connubium, ex Himiltrude nobili puella filium nomine Pippinum. Natorum sane eius quos ei Hildegard peperit, ista sunt nomina: primus dictus est Karolus, scilicet patris ac proavi vocabulo nuncupatus; secundus item Pippinus, fratri atque avo aequivocus, tertius Lodobich qui cum Hlothario, qui biennis occubuit, uno partu est genitus; ex quibus iam Deo favente minor Pippinus regnum Italiae, Lodobich Aquitaniae tenent.