Allerdings ist das nur Tarnung, um in einer männerdominierten Gesellschaft wie ein Mann leben zu können. Sie selbst fühlt sich offenbar dennoch als Frau: Als sie ihren toten Vater Angantyr beschwört, bezeichnet sie sich ausdrücklich als seine "Tochter", und in der darauf folgenden Unterhaltung mit ihm nennt sie sich Mädchen.
Es könnte natürlich sein, dass es um eine Tarnidentität handeln. Die Gründe für die Annahme dieser männlichen Identität werden in der Sage aber nicht genau benannt.
Der spektakuläre Identitätswechsel nimmt im Herwörlied erstaunlich wenig Raum ein. Herwörs anschließende Tätigkeit als Totenbeschwörerin bildet den Hauptteil des Liedes.
Herwörlied schrieb:
Agantyr hinterließ als einziges Kind eine Tochter namens Herwör; die wurde groß und stark und gewöhnte sich früh an Schwert und Schild. Es litt sie nicht am Hofe ihres Muttervaters: als Mann gekleidet und bewaffnet, zog sie zu einer Wikingerschar und nannte sich Herward, und bald wählten die Krieger sie zu ihrem Anführer.
Herwör übt offensichtlich schon vor ihrem Identitätswechsel mit Schwert und Schild. Das scheint als Schildmaid auch so erlaubt zu sein.
Sie verlässt den Hof ihr Großvaters, weil siedort nicht bleiben wollte. Aha, das ist es also! (Von diesem Großvater und dem Hof ist sonst weiter nichts bekannt.)
Wozu aber die Tarnung? Und warum tarnt sie sich als Mann? Ein Grund wird einfach nicht genannt!
Im Verlauf der Sage wird deutlich, dass Herwör auch zaubern kann und von einem Geschlecht von Berserkern abstammt. Es wäre durchaus denkbar, dass ihre Verwandlung in einen Mann ein wenig mit Zauberei zu tun hat. Expliziert gesagt wird das allerdings nirgends.
Ihre Verkleidung als Mann wird nicht näher beschrieben, sie offensichtlich gut genug, um sowohl die Wikinger als auch den Hirten auf der Insel Samsey zu überzeugen.
Klar ist aber auch, dass Herwör eigentlich Dinge tun will, die einem männlichen Ehrenkodex völlig widersprechen und für einen Mann wahrscheinlich als Neidingswerk gelten müssten.
Herwör fordert in ihrer Krieger-Identität Herward ihre Gefolgschaft auf, auf der Insel Samsø die Grabhügel auszurauben. Die Mannschaft verweigert den Befehl und Herwör muss allein auf die Insel Samsø. Verweigern die Wikinger die Beteiligung am Grabraub, weil sie ängstlich sind oder weil sie anständig sind?
Am Grabhügel ihres Vaters führt Herwör eine Totenbeschwörung durch. Derartige Zauberei widerspricht deutlich dem männlichen Ehrenkodex. Wenn Frauen zaubern, gilt das nicht als Schande. Unmännliches oder weibisches Verhalten kann man einer Frau nicht vorwerfen.
Folgt man dem Ablauf der Handlung müsste Herwör jetzt noch immer Männerkleidung tragen, aber das scheint in der Sage keine Rolle zu spielen. Herwör gibt sich dem Geist ihres Vaters verbal sofort als dessen Tochter zu erkennen. Ihr Kleidung bleibt völlig unkommentiert.
Kontakte mit Toten sind für Walküren typisch zu sein. Die Herwör in dieser Sage ist eigentlich keine Walküre, die Herwör in der Völund-Sage allerdings schon.
Obwohl Angantyr zu Lebzeiten ein Berserker war, wird er als Gespenst zur Stimme der Vernunft und bezeichnet seine Tochter als wahnsinnig, wirr und toll. Letztlich erpresst Herwör ihren untoten Vater Angantyr, um dessen Zauberschwert Tyrfing zu erhalten. (Eventuell kann man dieser Sage auch noch Informationen abringen, welche Bedeutung Waffen als Grabbeigaben haben.)
Das Zauberschwert scheint Herwör aber gar nicht mehr zu benutzen. Der tote Angantyr weissagt, dass sie einen Sohn namens Heidrek bekommt. Und dieser Heidrek wird das verfluchte Zauberschwert erhalten, dass der ganzen Sippe den Tod bringt.
Im Herwörlied wird die Erfüllung der Prophezeiung nicht mehr beschrieben, aber da in anderen Sagen ihre Nachfahren auftauchen, muss sie die Prophezeiung erfüllt haben.
Frauen müssen keine männliche Tarnidentität annehmen, um in den Krieg ziehen zu dürfen - zumindest nicht in dieser nicht ganz normalen gotischen Königsfamilie, die nur aus Berserkers und Schildmaid besteht. Das beweist die andere Herwör im Hunnenschlachtlied. Herwörs Enkeltochter gleichen Namens darf in Frauengestalt als Heerführerin und Kriegerin in die Schlacht gegen die Hunnen ziehen. Ein Kampfverbot für Frauen scheint es im Tyrfing-Sagenkreis nicht zu geben. Eine derartige Schlussfolgerung würde aber voraussetzen, dass der Tyrfing-Sagenkreis als ganzes eine in sich stimmige Handlung hätte. Bei genauerer betrachtet haben aber nicht mal die einzelnen Lieder eine in sich stimmige Handlung.
Neidingswerk – Wikipedia
Eine große Schande ist es auch, von einer Frau geschlagen zu werden, da man sich für diese Demütigung nicht an ihr rächen kann. Gewalt gegen Frauen war Neidingswerk.
Sørensen (1980) S. 94.
Das würde gegen die Existenz von Kriegerinnen sprechen. Allerdings woher weiß Sörensen das ?
Die Schande liegt hier doch bei den Männern, die nach männlichem Ehrenkodex keine Frauen schlagen dürfen. Männer, die gegen den männlichen Ehrenkodex verstoßen, indem sie sich unmännlich oder weibisch verhalten, würden als Schwächlinge, Feiglinge etc. gelten oder sogar dahingehend abgwertet, sie würden bei homosexuellen Praktiken den passiven Part einnehmen. Der Vorwurf unmännlich und weibisch zu sein, ist auf Frauen gar nicht anwendbar.
Diese Thematik wird vor allem in den Vinland-Sagen bearbeitet. Freydis nutzt die Ehrvorstellungen der Männer mehrfach schamlos aus, um ihre Ziele zu erreichen.
Beim Angriff der Skraelinge zieht die schwangere Freydis ihr Schwert und zeigt dem Feind ihren nackten Busen. Die Skraelinge wollen nicht gegen diese Frau kämpfen. Ich unterstelle, dass aus Sicht der Sage dieser männlichen Ehrenkodex auch für die Skraelinge gilt. Die Skraelinge werden anschließend von Freydis als Feiglinge tituliert.
Wer eine schwangere Frau angreift, ist ein Feigling und wer vor ihr wegläuft auch. Es ist ein für die Männer nicht lösbaren Problem, dass für Freydis zum Vorteil wird.
Um eine Fehde gegen die isländischen Händler Helgi und Finnbogi anzuzetteln erfindet sie die Lügengeschichte, sie sei von Helgi und Finnbogi geschändet worden. Umgehend brechen ihr Ehemann und ihr Gefolge auf, um das Verbrechen an der Frau zu rächen. Freydis setzt hier ganz geschickt das weibliche Rollenklischee ein, um die Männer zu einem Raubüberfall anzustacheln.
Fredydis Männer töten alle Männer von Helgis und Finnbogi. Ihr Ehemann weigert sich aber die gefangenen Frauen der Isländer zu töten. Freydis greift daraufhin selbst zur Axt und ermordet die Frauen.
Der fiese Trick in in dieser Geschichte ist, dass Freydis gar kein Mann ist und deswegen auch schlimmer und grausamer sein kann als jeder Mann.