Ich habe hier Was du immer schon wissen wolltest über Germanen - Anarchaeologie.de
folgende "populärwissenschaftliche" Passage gefunden:
Die meisten rechtsrheinischen Stämme schlossen Verträge mit Rom, teilweise wurden sie im Rahmen dieser Verträge linksrheinisch umgesiedelt und erhielten relative rechtliche Autonomie (ausgenommen gegenüber der römischen Obrigkeit) – meist unter der Prämisse, dass sie die Grenze gegenüber verfeindeten Stämmen verteidigten. Auch hierbei zeigt sich, dass die römische Außenpolitik sehr geschickt war: nur allmählich wurden die Stammesgesellschaften in das römische Staatssystem eingegliedert, was über 50 Jahre dauern konnte, wie z. B. bei den Ubiern. Die Quellen berichten uns des Weiteren, dass es immer dann Aufstände oder sogar Kriege von den germanischen Eliten ausgehend gab, wenn ein römischer Statthalter oder Kommandant zu schnell das Aufgeben der indigenen Kulturformen bzw. zu viel Abgaben oder Leistungen forderte. So soll es auch bei Arminius und den Cheruskern gewesen sein.
Ein ›Volksaufstand‹ o. ä. ist nicht nachweisbar, es handelte sich um einen Widerstand germanischer Eliten mit ihren Gefolgsleuten. Es bleibt also das Problem, dass nicht klar ist, welche Rolle bzw. Meinungen die ›normalen‹ Indigenen vertraten, da sie in den Quellen meist stumm bleiben und dies auch archäologisch nicht zu beantworten ist. Der Erfolg des Arminius weist jedoch darauf hin, dass es zumindest unter Varus eine breitere Unzufriedenheit gab, auf der er sein Bündnis und die Angriffe aufbauen konnte. Da es aber auch Germanen auf der Seite des Varus gab, war diese Unzufriedenheit trotzdem offenbar kein Grundkonsens bei den seinerzeitigen Germanen.

Was meint Ihr dazu?
 
Mir persönlich scheint das recht schlüssig, besonders die letzten Sätze. Ich bin kein Spezialist für die Varusereignisse, aber soweit ich weiß, wird zumindest diskutiert, dass auch Hilfstruppen in größerem Umfang übergelaufen sein könnten. Das ist aber eben nur eine Vermutung.

Sicher lässt sich hingegen sagen, dass Arminius' Rückhalt groß genug war, um drei Legionen samt ihrer Auxiliareinheiten zu überwinden und weitgehend aufzureiben. Die Unzufriedenheit muss also schon recht verbreitet gewesen sein.

Anfangs machte man dem toten Varus offenbar auch keine Vorwürfe (jedenfalls keine, von denen wir wüssten), man kann also vermuten, dass er nicht so viel außergewöhnlich falsch machte, sondern die Pläne des Augustus nach bestem Wissen umzusetzen versuchte. Man erwartete also auch in Rom offenbar keinen Aufstand von dieser Dimension.
 
Ein ›Volksaufstand‹ o. ä. ist nicht nachweisbar, es handelte sich um einen Widerstand germanischer Eliten mit ihren Gefolgsleuten. Es bleibt also das Problem, dass nicht klar ist, welche Rolle bzw. Meinungen die ›normalen‹ Indigenen vertraten, da sie in den Quellen meist stumm bleiben und dies auch archäologisch nicht zu beantworten ist.
Meinungsumfragen oder gar ein Referendum gab es freilich nicht, aber auch wenn wir keine Zahlen zu den Aufständischen kennen: Um mehr als die Gefolgsleute der Anführer des Aufstands muss es sich wohl schon gehandelt haben, wenn man damit mehr als drei Legionen vernichten konnte.
 
In dem Zitat werden zig Sachen vermischt und verwechselt. Um es anders zu formulieren. Eine Stammeskoalition ist keine Privatarmee des Arminius. Selbst ein Gefolge von ein paar hundert Mann, was extrem groß ist, kann keine drei Legionen samt Hilfstruppen schlagen und alle Lager bis auf eines einnehmen.
 
Also ich finde die Aussage bemerkenswert, dass es bei den Ubiern 50 Jahre (!) gedauert hat, bis sie zu einem treuen Bundesgenossen oder wie auch immer man das bezeichnen möchte, wurden. Das geschah an der Kontaktzone zum Römischen Imperium.

Anders bei den rechtsrheinischen Germanen im Weser- und Leinetal, also nicht in der unmittelbaren Kontaktzone.
Was der gemeine Bauer dachte wussten wir nicht, für einen Teil des mobilen Stammesadels, sehr attraktiv gewesen sein musste, einen Waffenstillstand, Pakt oder was auch immer mit den Römern zu schließen.
Und da beginnt ja die Spekulation, was auf den Things, die genau die Beziehung zu Rom zum Thema hatten, diskutiert wurde. Waren es nur private Priviliegien für die Sippe des Segestes, was ihn dazu bewogen hatte, in Opposition zur Segimer-Familie zu gehen. Worin lag aber der Vorteil für den gemeinen Bauer? Zumindest muss man seinem Gefolge ja verkaufen, warum es auf einmal gut ist, einer fremden Macht zu dienen. Die Aussicht auf ein Priesteramt bei den Ubiern für nur einen Privilegierten? Für mich nicht sehr überzeugend. Das gilt überhaupt für alle Rochaden und Scharaden der cheruskischen Herrschaftsschicht u.a. - die wir ja im Detail überhaupt nicht kennen.

Oder war es die schlichte Erkenntnis, keine Chance gegen die römische Militärmaschinerie zu haben?
Vernichtet zu werden, in Sklaverei zu enden oder sich (zumindest vorläufig) zu unterwerfen und dann, sobald die Besatzungsmacht schwächelt, die Quästoren, Steuereintreiber umzubringen und den Status Quo wiederherzustellen.

Die römische Besatzungsmacht in den neu okkupierten Gebieten konnte ja auch nur von kurzer Dauer sein, oder?
Es gab entlang der Lippe, entlang des späteren Hellweges die Römerlager (Sommer-/Winterlager), Signalkette, etc. aber anscheinend war alles andere rings herum "Indianerland".
Die Römer konnten sich offensichtlich nicht dauerhaft im Weser- und Leinetal halten. Das Heer des Drusus, Tiberius und Germanicus konnte zwar durch diese Flusstäler entlang der Siedlungskammern und Pfade (waren es Pfade oder schon kleine Wege für Ochsenkarren?) ziehen und Verbrannte Erde hinterlassen oder mehr auch nicht, oder wie seht Ihr das? Die Bevölkerung flieht in die Wälder, in die Berge, wartet ab und kehrt zurück.

Also wie im Vietnamkrieg: Städte besetzt (in Germanien dann die Siedlungskammern und einige größere Dörfer, wenn es die überhaupt gab) aber im Regenwald herrschte der Vietcong und die vom Ho-Tschi-Minh-Pfad einsickernde Nordvietnamesische Armee.
Wenn Tacitus Germanien als Wildnis voller Urwälder und Sümpfe beschreibt, dann ist das kein Ort, wo sich ein stehendes Heer halten kann. Was wollte Drusus an der Elbe? Machtlos vor einem riesigen Strom stehen und was erwartet er auf der anderen Seite? Noch mehr Barbaren und vor allem brennt es hinter seinem Rücken schon wieder? Da wo seine Legionen noch vor kurzem durchzogen, haben die Langobarden etc. schon lange wieder ihre alten Machtverhältnisse rekonstituiert.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier die Zeitleiste (ohne Gewähr) heruntergebrochen auf die Cherusker.

12 v. Chr. Beginn d. Drusus-Feldzug.
11 v. Chr. Drusus i. Cheruskerland. Drusus erreicht die Weser. ⚔ Schlacht bei Arbalo
10 v. Chr. Drusus kämpft gegen Chatten, Sueben, Markomannen u. Cherusker.
9 v. Chr. Drusus verfolgt Cherusker, kann sie aber nicht stellen. Dann stirbt er nach einem Reitunfall.
8 v. Chr. Cherusker unterwerfen sich Tiberius. Cheruskische Gesandtschaft reist nach Gallien an den Hof des Augustus.
4 v. Chr. Tiberius unterwirft die Cherusker erneut [Warum? Waren sie wieder aufständisch?]. Cherusker romfreundliches Verhältnis [wohl nicht alle Fraktionen].
1 n. Chr. Vergebliche Rückführung vertriebener Cherusker in ihr Stammesgebiet. [Wer wurde wo, wie vertrieben und zurückgeführt?].
4 n. Chr. Herbstfeldzug. Tiberius nimmt Cherusker wieder in das Herrschaftsverhältnis auf [Der 1., 2. oder 3. Aufstand jetzt?].
9 n. Chr. Cherusker bilden das neue Zentrum des Widerstandes. ⚔ Varusschlacht.
 
Und da beginnt ja die Spekulation, was auf den Things, die genau die Beziehung zu Rom zum Thema hatten, diskutiert wurde. Waren es nur private Priviliegien für die Sippe des Segestes, was ihn dazu bewogen hatte, in Opposition zur Segimer-Familie zu gehen. Worin lag aber der Vorteil für den gemeinen Bauer? Zumindest muss man seinem Gefolge ja verkaufen, warum es auf einmal gut ist, einer fremden Macht zu dienen. Die Aussicht auf ein Priesteramt bei den Ubiern für nur einen Privilegierten? Für mich nicht sehr überzeugend. Das gilt überhaupt für alle Rochaden und Scharaden der cheruskischen Herrschaftsschicht u.a. - die wir ja im Detail überhaupt nicht kennen.
Oder war es die schlichte Erkenntnis, keine Chance gegen die römische Militärmaschinerie zu haben?
Vernichtet zu werden, in Sklaverei zu enden oder sich (zumindest vorläufig) zu unterwerfen und dann, sobald die Besatzungsmacht schwächelt, die Quästoren, Steuereintreiber umzubringen und den Status Quo wiederherzustellen.

Die Antwort darauf ist zumindest aus Judäa überliefert:
What have the Romans ever ...?
 
Die Römer konnten sich offensichtlich nicht dauerhaft im Weser- und Leinetal halten. Das Heer des Drusus, Tiberius und Germanicus konnte zwar durch diese Flusstäler entlang der Siedlungskammern und Pfade (waren es Pfade oder schon kleine Wege für Ochsenkarren?) ziehen
Zum Marschieren waren Flusstäler nur wenig geeignet. Vor der Regulierung waren die Täler von zahlreichen Sümpfen, Nebenarmen und Altarmen durchzogen. Flusstäler hatten eine verkehrstechnische Bedeutung allein durch die Schifffahrt.
Auch Ochsenkarren spielten für Kriegszüge eine sehr untergeordnete Rolle. Ochsenkarren sind extrem langsam und für den standardmäßigen Heerestross ungeeignet.

Die Germanen nutzten ihre Wege für Warentransport und Truppenbewegungen, dieselben Wege wurden auch von den Römern genutzt.

"Es muss daher eigentlich nicht besonders betont werden, dass im Gegensatz zu den geradeaus verlaufenden gepflasterten römischen Straßen mit gefestigtem Untergrund die Bohlen- und Sandwege in Germanien den marschierenden Legionen primitiv vorkamen. Aber derartige Wege dienten in Mitteleuropa bis in die Zeit Napoleons für den überregionalen Verkehr, für Postkutschen und Reisewagen sowie auch für Truppenbewegungen, ehe man besser die Eisenbahn benutzte." (Heiko Steuer, „Germanen“ aus Sicht der Archäologie, Berlin 2021)
 
Zum Marschieren waren Flusstäler nur wenig geeignet. Vor der Regulierung waren die Täler von zahlreichen Sümpfen, Nebenarmen und Altarmen durchzogen. Flusstäler hatten eine verkehrstechnische Bedeutung allein durch die Schifffahrt.

Hi Sepiola,

eine sehr gute Bemerkung.
Die Leine mäandrierte mit Sicherheit sehr stark. Aber wie meinst Du denn ist Drusus durch das Leinetal durchmarschiert? Das bewaldete Leinebergland war doch sicherlich noch schwieriger als die Leineaue, oder?
Aber wahrscheinlich gab es in der Zeit schon einen Sandweg durch das Leinetal, vermute ich mal.
 
Das bewaldete Leinebergland war doch sicherlich noch schwieriger als die Leineaue, oder?
Wir stellen uns die Mittelgebirge immer bewaldet vor, weil sie es heute sind. Der Teutoburgerwald rund um Tecklenburg war jahrhundertelang recht kahl, heute ist er natürlich baumbestanden und niemand würde darauf kommen, dass stellenweise dort, wo heute dichter Wald ist vor 150 Jahren nach Weiden und Äcker lagen.

Daraus kann man natürlich keine Rückschlüsse über den Baumbestand des Leineberglandes vor 2000 ziehen. Aber du solltest dich mit der Möglichkeit gedanklich vertraut machen, dass die Verteilung der Wälder damals eine andere war, als heute.
 
BerndHH, Du hattest ja oben den Begriff Gefolgschaft erwähnt.

Die Cherusker waren nicht insgesamt eine Gefolgschaft. Das folgt schon daraus, dass zwei konkurrierende Adelssippen bekannt sind. Außerdem berichtet Tacitus in den Annalen an einigen Stellen vom Funktionieren typischer Stammesorgane. Der Vorwurf, Arminius wolle sich zum König aufschwingen, hätte bei gefolgschaftlicher Organisation keinen Sinn ergeben.

Was war eine Gefolgschaft?

Freie Krieger leisteten dem Gefolgschaftsherrn einen Treueeid. Dafür wohnten sie am Hof des Gefolgschaftsherrn und wurden dort versorgt. Sie wurden auch an der Beute beteiligt. Ihr Status als freier Krieger wurde nicht beeinträchtigt. Dafür kämpften sie an der Seite des Gefolgschaftsherrn, der auch eine Rangordnung aufstellen konnte. Den Gefolgschaftsherrn in der Schlacht zu überleben galt als Schande. Keine Bauern also, sondern eher vom reichen Rancher engagierte Revolvermänner, um einen deiner plakativen Vergleiche zu benutzen.

Solche Gefolgschaften waren weltweit in verschiedenen Ausprägungen verbreitet. In Europa wurden sie in späterer Zeit mit Gütern ausgestattet und die Institution verband sich mit dem Vasallentum. Der Truchsess (Niederdeutsch: Drost) war ursprünglich der Vorsitzende der Gefolgsleute. Später wurden damit regional unterschiedliche Funktionen innehabende Amtsträger bezeichnet. Und 'Gesinde' bezeichnete ursprünglich nicht die Dienerschaft, sondern das Gefolge. Es kam vor, dass der Gefolgschaftsherr sich eher ärmlich kleidete und die Ausstaffierung des Gefolges für Glanz sorgte. Auch das Gegenteil konnte der Fall sein. Damit will ich darauf hinweisen, dass es ganz verschiedene Ausprägungen gab, also immer in Quellen geschaut werden muss, was zutraf.

Ein Gefolgschaftsherr musste sein Gefolge ernähren können. In Stammesgesellschaften war ein Gefolge von 300 Kriegern groß. Mächtige Könige wie Attila konnten sicher mehr ernähren und die germanischen Leibgarden von Kaisern und Feldherren dürften sich oft als Gefolge verstanden haben.

In diese Frage spielt hinein, dass wir die Wirtschaftsordnung nicht kennen. Besiedelten hauptsächlich freie Krieger kleine und mittlere Höfe zwischen wenigen Gutshöfen des Adels und einigen von Unfreien bewirtschafteten Betrieben? Überwog der Adel so sehr, dass die Krieger großteils davon abhängig waren? Tacitus berichtet, dass Sklaven mit eigenen Höfen ausgestattet waren. Wie groß war ihr Anteil? Dazu gab es zig Theorien, meist je nach der politischen Überzeugung gestaltet. Die Wahrheit ist schon länger bekannt: Wir wissen es ganz einfach nicht.

Weitere bewaffnete Gruppen*:

Noch eine urtümliche Erscheinung, ebenfalls weit verbreitet, erwähnen die Quellen: Junge Krieger tun sich zu einer Bande zusammen, um Ruhm zu gewinnen. Oder vielleicht eher für erste Erfahrungen als Krieger bei Viehraub und anderen kleinen Gewalttaten. Jedenfalls konnten Adlige solche Banden für einen Kriegszug um sich scharen. Und bei berühmten Männern kamen sicher nicht nur Jugendliche. Selbst im frühen Rom gab es Kriegerbanden, deren zwei zu rituellen Zwecken noch zu Augustus Zeiten existierten. (die Salier: nicht zu verwechseln mit den Salfranken und der Dynastie der Salier)

Davon musst du das Stammesaufgebot unterscheiden, dass auf Beschluss der Stammesversammlung Krieg führte. Noch ein weltweit auftretendes Phänomen, egal ob Gesellschaften in Sippen oder Stämmen organisiert sind.

Die Verbündeten der Römer hatten zu deren Kriegen Kontingente zu stellen. Wir wissen nicht, wie die aufgestellt wurden. Vielleicht eine Kombination aller drei Möglichkeiten oder etwas ganz anderes. Nach anderen Fällen ist dafür eine Anzahl von 1000 oder von 500 Kriegern wahrscheinlich. Vielfache davon werden in dieser Phase selten gewesen sein. Es wird vermutet, dass Arminius ein solches Aufgebot der Cherusker auf Seite der Römer während des illyrischen Aufstands geführt hat.

Genaues wissen wir wenig, aber diese 4 Einrichtungen sind in den Quellen erwähnt.

Literaturtipp mit vielen bunten Bildchen:

Nach den Funden reich illustriert zum Aussehen germanischer Krieger und für ein breiteres Publikum geeignet:

Andreas Strassmeir (Autor), Andreas Gagelmann (Illustrator), Das Heer des Arminius - Germanische Krieger zu Beginn des 1. nachchristlichen Jahrhunderts (= Heere und Waffen Bd. 11), Berlin 2009. (64 Seiten, Zeughaus Verlag, was Wargamer und Reenactor so lesen.) Den historischen Überblick zu Beginn darfst du nicht auf die Goldwaage legen, der Rest ist das Geld wert.

Leider gibt es so einen Band nicht zum Alltag und zur Kleidung der Frauen. Krieg verkauft sich eben immer noch besser.

*Einzelne Sippen erwähne ich nicht als bewaffnete Gruppe, weil die Quellen es nicht tun. Frühere Zeiten behaupteten Aufgebote nach Wohnorten oder Sippen oder beides. Das hat keinen Rückhalt an den Quellen.
 
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Hi Riothamus,

bin Dir sehr dankbar, dass Du diese Begrifflichkeit noch einmal dargelegt hast.
Und auch den Literaturtipp, den ich mir mal vorknöpfen werde.

Wie soll man sich das ingesamt vorstellen? Hier meine Vorstellungswelt - vielleich liege ich auch absolut daneben:
Germanien ein (zumindest für die Römer) undurchschaubarer Flickenteppich aus Siedlungsgebieten/-kammern, Dialekten, Stämmen, Unterstämmen und diese unterteilen sich wieder in zahlreiche Sippen.
Ein Gehöft - Langhaus - drei Generationen einer Sippe. Mehrere Gehöfte, mehrere Sippen ein Dorf. Ein oder mehrere Dörfer - ein Gefolgschaftsherr (Warlord)

Ein Dorf sollte besser wehrhaft sein.
Wie ein Wehrdorf mit angespitzten Holzpflöcken und Wachen, um Überfälle abzuwehren.

Wesergau - Sippe A, Sippe B, Gefolge A+B aber nicht ...
Leinegau - Sippe C, Sippe D

Die Germanen waren Kleinbauern/Subsistenzlandwirte und einige Wenige hatten mehr als andere. 50, 100 Rinder vielleicht. Vielleicht durch Erbe oder Gewalt/Raubrittertum angeeignet.
Du erwähnst den Viehdiebstahl.
Fürst Segestes hatte also seinen gewissen Herrschaftsbereich. Jetzt kommen Räuber aus dem Gefolge des Fürsten Segimer und stehlen 10 Rinder von seinen Waldweiden/Hudeweiden was auch immer.
Viehdiebstahl heißt entweder den Großbauern etwas aus ihrer Menge nehmen oder einem Kleinbauern seinen einzigen Besitz, was bei ihm entweder Schuldknechtschaft oder Hunger zur Folge hat. Oder beides.

Alles in allem eine extrem rechtlose Zeit. Anarchie? Oder ein sehr ausgeklügeltes System aus Stammesrecht, welches bei jedem Thing wieder neu ausgehandelt oder bestimmt wurde.
Und dazwischen vagabundierende Kriegerhorden, die sich keinen Verpflichtungen eines Things unterwerfen und sich das mit Gewalt nehmen, was auch immer sie brauchen.

Und dann kommt das Heer des Drusus und stößt genau in diesen Flickenteppich hinein.
Versteht die germanischen Interna natürlich nicht. Dorf A könnte zur Gefolgschaft B gehören und Dorf B schon zu C. Das ist für die Römer genauso frustrierend wie vielleicht das afghanische Bergland für die westlichen Streitkräfte oder?

Noch etwas zur Gefolgschaft.
Du erwähntest, dass die Gefolgschaft den Tod eines Gefolgschaftsherren nicht überlebte. Treueeid - Ehrenkodex was auch immer.
Fürst Segestes fällt auf einmal im Kampf gegen die Chatten z.B. Das würde dann bedeuten, dass alle anderen Untergefolgschaftsführen damit automatisch ihr Leben verwirkt hätten und wie ein Samurai den Freitod wählen müssten?!?
Loyalität ja aber bis über den Tod hinaus? Für mich passt das nicht ins Bild. Klingt so nach Waffen-SS. "Sterben Sie uns mal einen vor, Herr Offizier."
Heeresführer A fällt, okay, dann geht es mit Heeresführer B eben weiter, vielleicht hat sich ja der Unterführer B im Kampf gegen C bewährt und wäre dann im Gefolge D eine große militärische Bereicherung.

Aber dazu kennt man die germanischen Ehrenbegriffe wohl viel zu schlecht. Wenn es die überhaupt gab. Ich als Neuzeitmensch sehe das natürlich eher opportunistisch udn würde mich als Heerführer jeweils dem opportunen Warlord andienen.
 
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Sorry, wenn ich mich noch einmal einmische.
In der WP habe ich etwas zu Schamane vs. Priester gefunden:

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Wenn ich mich recht erinnere, wurde hier gesagt, dass die Germanen keine Schamanen sondern "Priester" hatten, die durch eine religiöse Institution eingesetzt wurden. So kann man das aber nicht ausdrücken.
 
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"Schamane" stammt meines Wissens aus dem Kulturkreis indigener Völker Sibiriens. Ich bin nicht sicher, ob es sinnvoll ist, solche Begriffe auf die Germanen der Zeitenwende zu übertragen. Dazu kommt, dass diese Gegenüberstellung doch recht wertend ist und offenkundig auf eher fragwürdigen Mutmaßungen beruht. Ich bezweifle beispielsweise, dass sibirische Schamanen "von der lokalen Religion unabhängig" gewesen sein können. Wie soll man sich das denn vorstellen? Ein Mensch ist doch immer von der Kultur geprägt, in der er aufwuchs, und dazu gehört sicherlich nicht zuletzt das religiöse Umfeld. Auch dass Priester keinen Einfluss auf die Lehre ihrer Religion haben und völlig von der "vertretenen Religion abhängig" sein sollen, erscheint mir eher etwas eigenartig. An welche Art von Priestern denkt der Autor denn da?
 
Das frage ich mich auch. Man denke nur an das Christentum und all seine Richtungsstreitigkeiten vor allem in der Spätantike: Viele der Protagonisten, die unterschiedliche Lehren u. a. zur Natur Christi entwickelten, waren Priester.
Auch dass Priester durch eine religiöse Institution eingesetzt werden, kann man so allgemein nicht sagen. Im alten Rom wurden Priester teilweise gewählt, und auch im Christentum kam es immer wieder vor, dass Priester von ihrer Gemeinde selbst gewählt wurden oder diese freie Priesterwahl zumindest gefordert wurde.
 
Gut akzeptiert, Schamanen gab es bei den Germanen nicht.

Na ja, aber wenn wir von germanischen Priestern sprechen, dann wären sie von einer religiösen Institution, einer "Wotanskirche" oder derart als Funktionsträger eingesetzt und hätten eine verliehende Amtswürde? Wohl nicht.
Und das ist ja genau der Punkt, der mir so surreal erscheint. Der Adelige X hat auf einmal eine Eingebung, stellt auf einmal fest, dass er eine ganz besondere Verbindung zu den Göttern hat und bekommt auf einmal ein Amt an diesem Ubieraltar, hatten wir ja bereits. Erscheint skurril.
Oder ein Seher. Was ist das? Ein alter blinder Mann oder eine weise Frau mit dem zweiten Gesicht, der/die sich aber auch erst einmal in Trance versetzen muss, um in die Zukunft zu sehen?
 
Und das ist ja genau der Punkt, der mir so surreal erscheint. Der Adelige X hat auf einmal eine Eingebung, stellt auf einmal fest, dass er eine ganz besondere Verbindung zu den Göttern hat und bekommt auf einmal ein Amt an diesem Ubieraltar, hatten wir ja bereits. Erscheint skurril.
Oder ein Seher. Was ist das? Ein alter blinder Mann oder eine weise Frau mit dem zweiten Gesicht, der/die sich aber auch erst einmal in Trance versetzen muss, um in die Zukunft zu sehen?
Man wurde dazu gemacht. Wir nennen heute den Papst Potifx Maximus (oberster Brückenbauer). Dieses Amt gab es aber schon vor dem Christentum. Der Pontifex Maximus war - in dieser Funktion! - ein Priester. Aber er wurde in dieses Amt gewählt. Und konnte weitere Identitäten haben. Die Funktion eines Priesters ist nur bedingt die, dass er per se eine bestimmte Verbindung zu den Göttern habe. Es geht vielmehr darum, dass er gewisse Rituale [korrekt] ausübt.
Z.B. Germanicus war Augur. D.h. er las aus dem Vogelflug die Zukunft und zog daraus laut Tacitus während der Schlacht bei Idistaviso strategische Schlussfolgerungen.
 
Und das ist ja genau der Punkt, der mir so surreal erscheint. Der Adelige X hat auf einmal eine Eingebung, stellt auf einmal fest, dass er eine ganz besondere Verbindung zu den Göttern hat und bekommt auf einmal ein Amt an diesem Ubieraltar, hatten wir ja bereits. Erscheint skurril.
Oder ein Seher. Was ist das? Ein alter blinder Mann oder eine weise Frau mit dem zweiten Gesicht, der/die sich aber auch erst einmal in Trance versetzen muss, um in die Zukunft zu sehen?
Das konnte völlig unterschiedlich sein.
El Quijote hat schon angesprochen, dass es regelrechte "Seher"-Ämter gab, deren Inhaber bestellt wurden, um anhand bestimmter Zeichen die Zukunft vorherzusagen oder den Willen der Götter zu deuten, ohne dass dafür irgendeine Form plausibel gemachter höherer "Berufung" oder eine "Glaubhaftmachung" einer übernatürlichen Befähigung erforderlich gewesen wäre. Diese Art von Wahrsagerei, die aus der Deutung bestimmter Zeichen bestand, konnte einfach gelernt werden. Auch Cicero war Augur - was ihn nicht davon abhielt, sich in seiner Schrift "De divinatione" ("Von der Weissagung") höchst kritisch mit der Wahrsagerei auseinanderzusetzen.
Die Pythia in Delphi wiederum soll durch aus der Erde austretendes Gas in eine Art Trance versetzt und in diesem Zustand von Apollon "begeistert" worden sein.
In der Mythologie kannte man aber auch "Seher", die tatsächlich eine übernatürliche Befähigung, in die Zukunft zu schauen, besessen haben sollen (z. B. Teiresias), teils als direktes Geschenk der Götter (Kassandra).
Grundsätzlich konnte bald jemand als "Seher" auftreten - sofern es ihm gelang, die Menschen von einer entsprechenden Begabung zu überzeugen.
 
Guten Morgen,

das bedeutet, es waren anscheinend ganz "normale" Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die auch mitten in der Dorfgemeinschaft lebten. Niemand mit Hasenscharte, dem zweiten Gesicht oder irgendwelchen natürlichen/übernatürlichen Besonderheiten, die man einer besonderen Nähe zu den Göttern zusprechen konnte.
Priester, die dann wohl nur zu den Opferhandlungen ihre weißen Gewänder anzogen.

Bei WP wird man unter dem Begriff "Germanischer Priester" auf "Godentum" weitergeleitet aber das scheint dann nur Island zu betreffen.
 
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