Ist der Osten ‚menschlicher’ und der Westen ‚kapitalistischer’?
(Ich beziehe mich hier auf Beitrag 55 von Gandolf in dieser Diskussion. Wenn ich den ganzen Beitrag zitiere, wird dieser hier noch länger und unübersichtlicher.)
Hallo Gandolf,
deinen langen Beitrag habe ich mit großem Interesse gelesen und mir gleich noch mal die ganze (sehr angenehme und gepflegte) Diskussion zum Lesen ausgedruckt.
Eine These, wie die oben genannte, würde ich nie formulieren, schon deswegen, weil ich ungern Thesen aufstelle, die haben meist so einen Allgemeingültigkeitsanspruch. Was ich hin und wieder ganz gern tue: ein Beispiel in den Raum stellen, meist aus meinem ganz kleinen Erfahrungsbereich. Wenn es dann solche Assoziationen wie die in deinem Beitrag vorgetragenen auslöst, muss ich mir natürlich Gedanken über meine Herangehensweise und Formulierungen machen. Und ich denke, dass, obwohl ich mir diesen Post sehr lange überlegt hatte, doch mehr Marcia als ihr Sohn daraus gesprochen hat.
Ich sehe keinen großen Gegensatz zwischen deinem und meinem Beitrag, Gandolf. Mein erster Gedanke, als ich vom Kuppelversuch deines Mandanten las, war: Der hat es wirklich schnell begriffen! Nimm das Ganze doch als Kompliment – offensichtlich galtest du ihm als gute Partie!
Das, was du über seine weitere Karriere schreibst, passt ja auch hervorragend dazu.
Ich würde deine These, wenn es denn sein muss, eher umkehren und die heutigen neuen Bundesländer als ein Gebiet bezeichnen, wo der Kapitalismus sehr viel ‚ungeschminkter’ agiert, einfach, weil der Strukturwandel sehr plötzlich kam, wegen des Arbeitskräfteüberschusses, der damit verbundenen Verunsicherung der Leute und ihrer Bereitschaft, sich auf schlechtere Arbeitsbedingungen einzulassen, um überhaupt ein Auskommen zu haben. Das allerdings hat mehr mit veränderten und sich immer noch verändernden wirtschaftlichen Bedingungen als mit traditionellen Mentalitäten zu tun.
Allerdings schließe ich mich denen an, die in dieser Diskussion schon zum Ausdruck gebracht haben, dass vierzig Jahre unterschiedlicher Geschichte und Lebensweise ihre Spuren hinterlassen haben und sich solche Unterschiede nicht plötzlich aufheben (lassen). Nicht einmal mit der nächsten Generation, denn diese wurde und wird ja auch durch die Eltern und Großeltern mitgeprägt. Und warum sollte man nicht mit solchen Unterschieden - neben den ohnehin schon vorhandenen regionalen und zwischenmenschlichen – leben können! Sie werden sich sehr viel langsamer auflösen, als man das in der anfänglichen Euphorie angenommen hatte.
Ich würde nicht einmal behaupten, dass man im Osten menschlicher
war – dass man es nicht
ist, steht für mich außer Frage - , eher würde ich sagen, dass andere Rahmenbedingungen zu anderen Lebensstrategien und –plänen geführt haben, du hast das Beispiel der Notwendigkeit, Beziehungen zu pflegen, um an knappe Güter zu gelangen, angeführt, allerdings fällt mir dazu ein, dass hier in den neuen Bundesländern nach der Wende oft gesagt wurde, Beziehungen seien nun noch notwendiger als zuvor, vor allem, wenn es um Jobs ging, und das ist ja auch im gemeinsamen Deutschland heute nicht anders.
Mein Sohn, um noch mal darauf zurückzukommen, ist noch sehr jung und sollte, denke ich, sein Ungebundensein noch eine ganze Weile genießen dürfen. Ich rate ihm und meinen anderen Kindern überhaupt dazu, die Entscheidung, eine Familie zu gründen (wenn es denn einmal so weit ist), sehr genau zu überdenken, denn sie ist heute mit sehr viel ernsteren Konsequenzen verbunden, als das zu meiner Zeit in der DDR der Fall war. Ich - ganz egoistisch - bin froh, als Mutter noch in den Genuss staatlicher Unterstützung in Form von Kinderbetreuungsplätzen, Arbeitsplatzgarantie nach der Erziehungszeit und weiterer Zuwendungen für Familien gekommen zu sein.
Heute ist der Druck auf Eltern sehr viel größer, ebenso die Last der Verantwortung, während eine halbwegs übersichtliche Lebensplanung kaum noch möglich ist. Dass Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft bei ihrer Entscheidung für Familie und Kind(er) schon immer stärker den materiellen Aspekt berücksichtigen mussten und es heute im vereinten und zunehmend von Globalisierung beeinflussten Deutschland beinahe noch mehr tun müssen, hat seine Ursache in den anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, aber ich meine, dass diese Rahmenbedingungen und die Notwendigkeit, sich mit ihnen zu arrangieren, über Lebenbewältigungsstrategien, die ja auch durch Erziehung und Vorbild vererbt werden, auch auf die Mentalität der Menschen einwirken. Deshalb hat die Bemerkung meines Sohnes ziemlich genau meinen Nerv getroffen. Paradoxerweise, so meine Sicht, hat die allgemeine und bis ins Kleinste wirkende Unfreiheit in der DDR aber zu kleinen persönlichen "Freiheiten" in der Lebensplanung geführt, einfach deswegen, weil viele existentielle Dinge geregelt waren und man diese nicht erkämpfen und mit unbequemen Kompromissen bezahlen musste. Das Leben in der DDR war einfach, bequem und überschaubar, wenn man keine großen Ansprüche stellte, und angesichts einer zunehmend komplizierter werdenden Welt ist (mitunter verklärende) Blick zurück in die vermeintliche Idylle immer wieder verlockend.
Ich bin ja feige und habe mir die Neuzeit-Themen und die Vergangenheitsbewältigung für mein Rentenalter vorgenommen. Wenn ich aber doch ein bisschen vorgreife und mir überlege, wie es funktionieren könnte, denke ich, dass es ohne eine Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in der Biografie einschließlich ihrer positiven und negativen Aspekte keine in die Zukunft gerichtete gesamtdeutsche Identität geben kann. Oder einfach gesagt: Wer seine Wurzeln verleugnet, verleugnet sowohl sich selbst als auch seine Zukunft. Womit wir wieder bei den Unterschieden wären...