Romanisch-germanische Sprachgrenzen im frühen Mittelalter

Dieses Thema im Forum "Völkerwanderung und Germanen" wurde erstellt von Sepiola, 24. Februar 2020.

  1. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Inwiefern "verrannt"?

    1. Habe ich irgendetwas behauptet, was zu diesem Wiki-Artikel in Widerspruch steht?

    2. Ist ein Wiki-Artikel der Weisheit letzter Schluss?
     
  2. Divico

    Divico Aktives Mitglied

    Ich hatte den Eindruck, Du wolltest "Tobel" zu einem urgermanischen Wort erklären.

    Der Artikel beruft sich hier auf den renommierten Ortsnamensforscher Paul Zinsli, der Tobel für romanischen Ursprungs hält und damit keineswegs allein steht. Wer anderes behauptet, muss das sehr gut begründen.
     
  3. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Also tubus (> engl. tube (Kanal), span. tubo (Schlauch, Bierglas)) ist sicher lateinisch. Ob aber tubus Grundlage für Tobel ist, ist eine andere Frage.

    Das allerdings ist kein ordentliches Argument sondern eines ad verecundiam. Unabhängig von der Frage, ob Zinsli richtig liegt oder nicht.
     
  4. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Ich erkläre es immer wieder gerne: Es gibt deutsche Wörter (althochdeutsche, mittelhochdeutsche, mainfränkische, alemannische...), die einen lateinischen Ursprung haben.
    Einige Beispiele:

    Frucht (lat. fructus)
    Insel (lat. insula
    Pflanze
    (lat. planta)
    Weiler (lat. villaris)
    Ziegel (lat. tegula)

    Den Gegenstand 'Ziegel' haben die Germanen wohl erst durch die Römer kennengelernt. Pflanzen und Früchte, Weiler und sogar Inseln dürften ihnen dagegen schon immer bekannt gewesen sein. Sobald die Wörter in den deutschen Wortschatz integriert waren, konnten damit weitere Wörter - und eben auch Ortsnamen - gebildet werden.
    Es gibt also keinen Grund, im hohenlohischen Dobelbach, im mittelfränkischen Eckartsweiler oder im thüringischen Ziegelheim das namengebende Wirken einer romanischen Bevölkerung zu vermuten.

    Siehe auch hier:
     
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  5. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Also ich zitiere einfach mal die beiden renommiertesten etymologischen Wörterbücher des Deutschen:
    Kluge:
    "Keine eindeutige Vergleichsmöglichkeit. Anklingend sind akslav. dupina f. ‛Loch’ und andererseits lit. daubà f. ‛Schlucht’. Vielleicht ist das Wort entlehnt, da es nur in Gebieten vorkommt, die unter römischem (und keltischem?) Einfluss standen."​
    Pfeifer:
    "Herkunft unbekannt."
    Selbstverständlich halte ich es für möglich, dass der Tobel romanischen Ursprungs ist. Es ist aber nur eine von mehreren Möglichkeiten.
    Insofern ist der Wiki-Artikel unvollständig und irreführend.


    Die Geländebezeichnung Tobel ist deutsch, nicht romanisch. Das ist eine Tatsache, keine "These". Es mag sein, dass es sich hier ursprünglich um ein Lehnwort handelt, wie bei Tausenden anderer deutscher Wörter. Die Dutzende Namen der Tobel-/Dobelbäche und -gräben sind garantiert kein Erbe der alten Römer.

    Klausmann/Krefeld schreiben (unter Bezug auf die Kluge-Auflage von 1967, aktuelle Auflage siehe Zitat oben), das Wort trete "nur innerhalb des obergermanisch-rätischen Limes in Erscheinung". Dass diese Behauptung so nicht richtig ist, habe ich bereits belegt.
     
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  6. Divico

    Divico Aktives Mitglied

    Allerdings weiß man, dass Alemannen, denen das ursprünglich romanische Lehnwort "Tobel" geläufig war, auch wieder gen Norden gezogen sind. Zuletzt sind im 18./19. Jahrhundert Melker aus der Schweiz bis nach Ostpreußen gezogen — und auf dem Rückweg brachten sie den Tilsiter Käse mit, der in der Schweiz bis heute sehr beliebt ist (aber das nur am Rande).

    "Tobel" scheint mir jedenfalls in die gleiche Kategorie wie "Klus" zu gehören — ein geografisches Lehnwort aus dem Lateinischen, wie auch das von Dir aufgeführte "Insula".
     
  7. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Du hast da was wichtiges überlesen:

     
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  8. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Vielleicht versuchst Du erst einmal, die These zu präzisieren, die Du vertreten möchtest:

    Wie soll Deiner Meinung nach der lateinische Name gelautet haben?
    In welchem Jahrhundert soll er ins Deutsche integriert worden sein?
    Welche Lautentwicklungen hat er demnach durchgemacht?

    Und was genau soll damit speziell für die Geschichte des 1149 erstmals erwähnten Ortes Dobel "begründet" werden?


    Die Frage "Warum nicht?" ersetzt keine Argumente, und Gegenthesen widerlegen nichts. Ich stelle auch gern mal eine auf:

    Warum sollen nicht mittelalterliche Zuwanderer aus romanischen Gebieten den mittleren Schwarzwald besiedelt und so erst die "Schwarzwaldromania" gebildet haben?

    (Die These stammt nicht von mir, siehe Karl Siegfried Bader, Zur Tal-, Dorf- und Stadtverfassung des Schwarzwaldes, in: Der Schwarzwald - Beiträge zur Landeskunde, hrsg. Ekkehard Liehl/Wolf-Dieter Sick, Bühl 1980)



    Aus "duc" soll sich "der Begriff" des "dux" entwickelt haben? Wo hast Du das her?
     
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  9. Heine

    Heine Aktives Mitglied

    Genau, in welcher romanischen Sprache gibt es denn ein analoges Beispiel, dass das Wort für 'Tal, Schlucht' vom lateinischen 'tubulus' für Röhrchen stammt? Wie fand der Lautwandel statt? Bisher weiß man, dass Paul Zinsli diese Herleitung gemacht hat (haben soll). Wie begründet Zinsli seine Herleitung?

    In der Schweiz gibt es übrigens eine Ost-West-Bezeichnungs-Grenze. Im Amt Luzern z.B. verdrängt 'Tobel' erst seit dem 17. Jh. das ursprüngliche 'Bachtalen' (Peter Mulle, Tobel, Graben, Bachtalen, Räumliche Struktur und historische Schichtung im südlichen Kanton Luzern, DOI: 10.2436/15.8040.01.136).
     
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  10. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

    Für völlig unmöglich halte ich das nicht. Setzt aber voraus - und das wäre in der Tat schwierig! - dass das Wort erst nach der Hochdeutschen Lautverschiebung, die ja gerade im bairisch-alemannischen Raum (bairisch ≠ bayrisch!!!) am frühesten stattfand, in den alemannischen Sprachgebrauch eingegangen wäre.

    Ich habe mir gerade auf Wikipedia das rumänische Äquivalent zum deutschen Artikel Schlucht (chei[le]) angeschaut und darin diesen schönen Satz gefunden:

    În Elveția cheile inaccesibile din Alpi, care au frecvent forma literei „V”, sunt numite „Tobel” pe când în Germania de sud cheile sunt numite „Klingen”.​

    In der Schweiz werden unerreichbare Alpenschluchten, die oft die Form des Buchstabens V haben, Tobel genannt. In Süddeutschland werden Schluchten Klingen genannt.
    (Ich nehme an, irgendwann einmal hat ein Rumäne (oder Moldawier) einen dt. wikipedia-Artikel übersetzt, anders kann ich mir nicht erklären, wie diese doch relativ irrelevante Information in den rumänischen Artikel gerutscht ist.)
     
  11. Heine

    Heine Aktives Mitglied

    Ich halte es auch nicht für unmöglich, aber die bloße Berufung auf Wikipedia mit Hinweis auf Zinsli ist etwas wenig (à la Wikipedia schafft Fakten).
     
    Zuletzt bearbeitet: 8. August 2020
  12. Divico

    Divico Aktives Mitglied

    Mir gibt es inzwischen auch zu denken, dass es im Rätoromanischen keinen Kognat zu Tobel zu geben scheint.
     
  13. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Johannes Hubschmid führt einen dolomitenladinischen Kognat an:
    https://www.ortsnamen.ch/Texte/Hubschmid_Vorindogermanisch.pdf

    Das ist in der Tat der Knackpunkt.
    Es wird noch ein wenig schwieriger:

    Die lateinische tabula wurde mehrmals ins Deutsche entlehnt.

    Zuerst vor der Lautverschiebung. Da wurde dann aus der tabula das Zabel. ('Spielbrett', 'Schachbrett', das Wort ist heute so gut wie ausgestorben.)

    Indessen entwickelte sich das b im Romanischen zum labiodentalen Reibelaut v (italienisch tavola, rätoromanisch tavla). Bei der zweiten Entlehnung ins Althochdeutsche wurde dieser Reibelaut stimmlos, daher stammt die Tafel.

    Tubulus hätte zu *Zubel geführt, *tovale zu *Tofel.
     
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  14. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Hier bespricht Thomas Krefeld sehr schön ein Reliktwort *bovale 'Herbstgras', das im Bündnerromanischen als bual, in alemannischen bzw. bairischen Mundarten Vorarlbergs und Tirols als Bofel erhalten ist.
    Das Wort Tobel wird auch hier wieder einmal erwähnt, über die mögliche lautliche Entwicklung erfährt man auch hier wieder einmal - nichts.
    https://www.romanistik.uni-muenchen...nverzeichnis/reliktwort_arealdistribution.pdf
     
  15. Erich

    Erich Aktives Mitglied

  16. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Ich möchte auf einen interessanten Artikel hinweisen:

    Winfried Schmitz, Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen, in: Germania inferior - Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt (Hrsg. Thomas Grünewald), Berlin/New York 2001
    Teile des Textes sind hier einsehbar: Germania inferior

    Untersuchungsgebiete sind:
    I. Rhein-Mosel-Gebiet
    II. Oberrheingebiet, Schweizer Mittelland, Rätien
    III. Rhônetal vom Quellgebiet über den Genfersee bis Valence

    Im Rhein-Mosel-Gebiet zeigen sich zwei unterschiedliche Zonen:
    "Im nördlichen Abschnitt des Rheintals und an der Mosel weisen die Inschriften nach Buchstabenformen, Sprache und Namen starke römische Traditionen auf; die aus dem südlichen Abschnitt des Rheintals [Andernach bis Worms] stammenden Grabinschriften sind stärker germanisch geprägt."

    Stärker germanisch geprägt heißt:
    1. Es fehlt an gedichteten Texten (in Köln und Trier finden wir noch Hexameter), die eine gewisse "Schultradition" voraussetzen.
    2. Es überwiegen germanische Namen (ob es sich hier um romansierte Germanen oder germanisierte Romanen handelt, lässt sich nur aufgrund der Namen nicht entscheiden).
    3. Es sind sprachliche Defizite feststellbar (gemeint sind nicht Vulgarismen, sondern Hinweise, dass der Schreiber kein Muttersprachler war).
    4. Die Buchstaben weisen den "rheinfränkischen Schrifttyp" auf.

    "Die Auswertung des inschriftlichen Materials lässt deutlich hervortreten, dass nur im Rhein- und Moseltal selbst eine römische, städtische und christliche Tradition weiterlebte."

    Während im ersten Untersuchungsgebiet über tausend Grabinschriften belegt sind (auch nach Abzug der überreichlichen Belege aus Trier sind es noch über 250), sieht es im zweiten Untersuchungsgebiet (Oberrheingebiet, Schweizer Mittelland, Rätien) mit ganzen 8 Grabinschriften äußerst mager aus:
    "Mit Ausnahme der Inschrift von Bad Dürkheim-Leistadt sind am Oberrhein südlich von Worms bisher keine spätantik-frühmittelalterlichen Inschriften gefunden worden. Spätantik-frühmittelalterliche Grabinschriften begegnen erst wieder in dem spätantiken Kastellort Kaiseraugst (Augusta Raurica) bei Basel, in einem Boppard sehr ähnlichen siedlungsgeschichtlichen Kontext.
    [...]
    Zeugnisse einer starken Siedlungskontinuität fehlen nach Ausweis der Inschriften ebenso in der mittleren Schweiz."

    "Zu berücksichtigen ist, dass sich die Sitte, einen Grabstein mit lateinischer Inschrift aufzustellen, gerade in den Gebieten, in denen nur in geringer Zahl Grabsteine gefunden wurden, stärker auf die adelige Oberschicht beschränkt haben wird. Insofern ist für die Funddichte von Inschriften entscheidend, welchen Anteil Franken und andere Germanen gerade in den Oberschichten einnahmen.
    [...]
    Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in Süddeutschland und in der Schweiz. Die siedlungsgünstigen Gebiete am Oberrhein waren von den Alamannen früh in Besitz genommen worden, und so zeigt sich dort eine frühe und wirksame Germanisierung. Sprachwissenschaftliche Untersuchungen weisen auf, dass die Zahl romanischer Reliktwörter wesentlich geringer als im Rhein-Mosel-Gebiet ist und die Rückzugsgebiete der gallorömischen Bevölkerung nicht im Rheintal selbst, sondern im mittleren Schwarzwald, in unzugänglicheren Regionen lagen, also typische Reduitsiedlungen darstellen. Diese Gebiete waren keine Zentren städtisch-römischen Lebens, und so fehlen dort christliche Inschriften. Antike städtische Kultur fiel dort nicht mit den romanischen Reliktarealen zusammen. Auch in den Gebieten, in die die Alamannen vordrangen, also in Richtung Burgundische Pforte, Schweizer Mittelland und in den rätischen Raum, wirkte sich eine frühe Germanisierung und eine sehr zögerliche Übernahme des christlichen Glaubens dahingehend aus, dass trotz der Anlage von Kastellen in der Spätantike lateinische Inschriften fehlen."
     
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  17. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Aus dem Pontes-Tesseninos-Thread:
    Dort hast Du mich (indirekt) auf die dreibändige, sehr detailversessene Dissertation von Marcus G. M. Meyer "Die ländliche Besiedlung von Oberschwaben zur Römerzeit" (Stuttgart 2010) aufmerksam gemacht, in der es auch einen kleinen Abschnitt "Hinweise aus den Flur- und Ortsnamen" (Band I, S. 51f) gibt.

    Im Untersuchungsgebiet Oberschwaben ist unter 77 gesicherten ländlichen Siedlungen in keinem einzigen Fall die Erhaltung eines römischen Siedlungsnamens nachweisbar.

    "Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass von den gesicherten 77 ländlichen Siedlungen (vici und Gutshöfe bzw. andere Siedlungen) die Flurnamen nur in 20 Fällen Hinweise auf Ruinen geben, in drei möglicherweise, in 54 Fällen aber nichts von der Existenz archäologischer Überreste im Boden verraten. Das weist m. E. darauf hin, dass diese Gebäudeüberreste schon vor sehr langer Zeit sehr gründlich abgetragen wurden und in keiner Erinnerung mehr blieben."

    Von den hinweisgebenden Flurnamen beziehen sich die allermeisten auf Mauerreste ("Maueräcker", "Auf den Mäuern" u. a.), in manchen Fällen machte die Fantasie späterer Generationen aus den Mauerresten eine Kirche oder ein Schloss ("Kirchstätte", "Schloßbühl") bzw. in einem Fall einfach ein "Heidenhäuslein".

    Im Abschnitt "Schicksal der Ruinen in nachrömischer Zeit" (S. 362f) resümiert Meyer:
    "Zunächst fällt auf, dass die römerzeitlichen Siedlungsplätze nicht mit denen aus merowingischer Zeit übereinstimmen, die die Ausgangspunkte für manche der heutigen Städte und Dörfer bildeten. Andererseits belegen aber Bestattungen aus dem Frühmittelalter in römischen Ruinen, dass sich die Siedlungen nicht allzu weit entfernt befunden hatten. Die Ruinen römischer Steingebäude, die zu dieser Zeit noch als Schutthaufen im Gelände sichtbar waren, wurden dann als Grabhügel genutzt.
    Die Nutzung römischer Ruinen als Friedhöfe oder Grabhügel lässt sich in Baden-Württemberg häufiger beobachten. Da die damaligen, ausschließlich in Holzhäusern lebenden Menschen mit den Überresten der Steingebäude nur wenig anfangen konnten, fanden die zu dem Zeitpunkt lediglich wertvolles Acker- oder Wiesenland belegenden Ruinen auf diese Weise wenigstens noch eine sinnvolle Verwendung."
     
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  18. Erich

    Erich Aktives Mitglied

    Eine Literaturempfehlung meinerseits:
    Wolfgang Kleiber und Max Pfister: "Aspekte und Probleme der römisch-germanischen Kontinuität
    Sprachkontinuität an Mosel, Mittel- und Oberrhein sowie im Schwarzwald"
     
  19. El Quijote

    El Quijote Moderator Mitarbeiter

     
  20. Sepiola

    Sepiola Aktives Mitglied

    Und außerdem erst letzte Woche im Pontes-Tesseninos-Thread:

    Vielleicht war das als running gag gedacht.

     
    andreassolar und Pardela_cenicienta gefällt das.

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