Die Intention des Artikels 231, der das Kapitel der Reparationsthematik des Vertragswerkes einleitet, diente primär zur Begründung der Reparationsforderungen. Das im Deutschen Reich daraus der sogenannte Kriegsschuldartikel gemacht wurde, ist eine die der Wahrheit vernebelnde nationalistische Agitation und Frontbildung geschuldet. Man hat sich ja nicht einmal die Zeit genommen, das Vertragswerk vernünftig zu analysieren. Schon am 08.Mai 1919 polterte die erste Presseverlautbarung der Reichsregierung, „ die Friedensbedingungen würden die völlig wirtschaftliche Vernichtung Deutschlands bedeuten. In die gleiche Fanfare stießen dann die Presse wie die Frankfurter Zeitung.
Das ist zu unterstreichen. Mit dem Wortlaut von Artikel 231 allein - worauf Du richtig hinweist - kommt man nicht weiter, es sei denn, möchte die verzerrte deutsche Wahrnehmung und die Kriegsschulartikel-Debatte fortführen.
Man kann das im Ergebnis zuspitzen:
1. der Artikel 231 ist der Kompromiss aus den internen alliierten Verhandlungen.
2. Die Formulierung ist Ausdruck der Erkenntnis nach zähen internen Diskussionen, dass Deutschland die entstandenen Kriegsschäden nicht würde bezahlen können
3. Er ist Öffnungsklausel für die Verhandlungen über die Höhe der Leistungen, orientiert an der deutschen Leistungsfähigkeit nach Reorganisation der Kriegsfolgen
4. er ist Kompensation für die massiv interessierte Öffentlichkeit der Siegerstaaten, denen politisch verkauft werden musste, dass nicht einmal (nur!) die Kriegsschäden ausgeglichen werden konnten
5. die ausfallenden Ansprüche auf Kriegsschäden-Erstattung sollte Deutschland moralisch mit der Verantwortung für den Kriegsausbruch quittieren, wenn es schon insoweit nicht zahlen würde, weil klar war, dass es nicht alles zahlen konnte.
Als Hinweis: die Kriegsschäden auf alliierter Seite hat Turgot bereits angesprochen, von den Sachschäden bis hin zu den Opferpensionen. Die seriösen britischen Schätzungen reichten von 18 bis 25 Mrd. GBP (also 360 bis zu 500 Mrd. Mark), die französischen bis zu 40 Mrd. GBP (800 Mrd. Mark). Der britischen und amerikanischen Seite war klar, dass die Reparationen maximal zwischen 100 und 160 Mrd. Mark liegen würden, also nur ein Bruchteil der Schäden.
Wenn die Entstehungsgeschichte der Klausel betrachtet wird, ist eindeutig, dass hier keine Kausalitäten in Bezug auf deutsche Leistungspflichten umschrieben werden, oder Begründungen konstruiert werden sollten, sondern der Erlass der Verpflichtung des Verlierers auf Erstattung der Kriegsschäden.
Die deutsche Nachkriegsdiskussion, mit dem Ziel einer Beseitigung der Lasten, hat diese Intention ebenso verzerrt wie die deutsche Delegation die Zusammenhänge überhaupt nicht erkannt hatte, und statt dessen - im Angesicht der bis dato größten europäischen Katastrophe - mit Plattheiten wie "Stolz einer Nation", "Demütigung", "Verbrecher", "Tribute" o.ä. operierte. Die Extremen von Links und Rechts haben dann diesen Vorgang im Kampf gegen die junge Republik instrumentalisiert.
Die "War Guilt Clause", bzw. was daraus gemacht wurde, ist somit ein originär deutsches Problem, nicht ein alliiertes. Die verheerenden Folgen der Politpropaganda hat sich insoweit auch die deutsche Seite zuzuschreiben, inkl. der politischen Radikalisierung.