dekumatland
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Die Uraufführung der Symphonie fantastique – Episode de la vie d’un artiste (op.14) von Hector Berlioz am 5. Dezember 1830 in Paris kann als musik- und ästhetikgeschichtlicher Wendepunkt bezeichnet werden: der wohl kulturhistorisch wichtigste Rezensent der Uraufführung - Heinrich Heine (sic!) - attestierte, dass die Kunst nun plötzlich um die neue Dimension des Hässlichen (und auch des Bösen, des Vulgären etc.) erweitert sei. Anlaß für diese korrekte Beobachtung waren:
- die Integration des "vulgären" Konzertwalzers in die Sinfonik
- der brutale Vulgärmarsch "Gang zum Richtplatz"
- die parodistische musikalische schwarze Messe ("Traum eines Hexensabbath") mit dem gräßlich verbogenen dies irae Motiv
Hinzu kommt noch, u.a. von Franz Liszt formuliert, das Novum der Dramatisierung der Sinfonik, was man als Keimzelle/Ansatz der so genannten Programmmusik bezeichnen kann.
...und nicht zu vergessen, dass dieses Monstrum einer Sinfonie über Nacht den gewaltigen spätromantischen Orchesterapparat etablierte: Berlioz´ Lehrbuch zur Instrumentation wurde quasi eine Art Bibel sämtlicher nachfolgenden Komponisten - auch Wagner, Verdi, Liszt, Brahms, Bruckner, Tschaikowski, Grieg bis Sibelius, R. Strauß, Skrjabin, Mahler zehrten von dieser Orchestrationslehre!
Aber kulturhistorisch am folgenreichsten dieses monströsen Orchesterwerks rabenschwarzer Romantik ist seine ästhetische Dimension bzw. seine von Heine erstmals erkannte Erweiterung des Ästhetischen.
Hier findet sich nun auch ein Bezug zum ungemein raffiniert und tückisch strukturierenden Opernkomponisten Guiseppe Verdi: die Integration des Häßlichen in die Ästhetik (Berlioz) regte Verdi zu einem totalen in-Frage-stellen ästhetischer Gewohnheiten an, ja sogar zu einer totalen Umwertung gewohnter Muster und Erwartungshaltungen!
was kann man sich darunter vorstellen?
Verkürzt gesagt setzten die im ersten Drittel des 19. Jh. Furore machenden italienischen belcanto Opern von Donizetti, Bellini, auch Rossini (als Vertreter der komischen Oper) und der "grand opera" von Meyerbeer, Halevy, Auber usw. überall, gleichgültig was Text und Handlung betraf, schöne ebenmäßig strukturierte und vor allem effektvolle Gesangspartien ein, vornehmlich da capo Arien. Ob auf der Bühne gerade aufrichtig-ernste Inhalte oder satirisch-komisches, tragisches oder heiteres mitgeteilt wurde: die Musik dazu war in jeder Situation mehr oder weniger gleich - effektvoll, gekonnt, dazu auf Wirkung a priori angelegt, kurzum die typische strophige da capo Arie.
Im Vordergrund der musikalischen Gestaltung der belcanto-Ära waren also effektvolle virtuose, dabei überschaubar strukturierte Arien; selbst den sehr gelungenen belcanto Arien dieser Art, z.B. die berühmte casta diva Arie oder die Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor sind entwicklungslose, aber perfekt organisierte/proportionierte Glanznummern -- ob nun geliebt, gestorben oder das Schicksal bejammert wurde: man tat dies sängerisch auf der Bühne in ebenmäßiger, virtuoser Schönheit.
Wie Wagner, so misstraute Verdi ebenfalls der Gattung Nummernoper und ihrer wesentlichen Bestandteile wie da capo Arie und dem Wechsel von Solo- und Massenszenen (pezzo concertato) -- allerdings, wie übrigens Wagner auch, lernte Verdi es, diese Strukturen anzuwenden und zu übertreffen: so finden sich die sängerisch virtuosesten und schwierigsten belcanto-Partien verblüffenderweise in den Frühwerken, in den Werken der "Galeerenjahre" beider Komponisten - zu nennen wären da Senta´s Ballade aus dem fliegenden Holländer von Wagner oder die Wahnsinnsarie der Lady Macbeth *) von Verdi.
Beide, Wagner und Verdi, kannten und konnten nicht nur die Nummernoper, sie verfügten auch, weil sie es gelernt hatten, über die neuen Instrumentationstechniken von Berlioz UND sie kannten und verfügten über die neuen musikalischen Strukturen der Programmmusik. Sie waren also beide in der Lage, die vorhandenen musikalisch-ästhetischen Gepflogenheiten nicht nur zu erfüllen, sondern auch zu übertreffen (!)
Und hier, vor dem Hintergrund des Könnens, des Verfügens - was übrigens ein absolut geniales melodisches Talent **) voraussetzt - setzt Verdis geniale Umwertung des gewohnten ein: die schlicht strukturierte, aber effektvoll virtuose belcanto-Arie wird bei Verdi zur Chiffre der Lüge!
man kann es sich gar nicht genüßlich genug auf der Zunge zergehen lassen: das perfekte ebenmäßig proportionierte "Schöne" wird zur Chiffre der Verlogenheit, der Lüge, der Unwahrheit!
berühmte Beispiele:
- das arioso bella figlia de l´amore des Duca aus Rigoletto
- die vordergründig schöne-sentimentale Arie di provenza il mar il suol des Vater Germont aus La Traviata
beide, Duca und Germont, lügen - aber sie lügen in perfektem belcanto --- für den Hörer ist diese geradezu unerträglich "schöne" Musik zunächst nicht als verlogen erkenntlich (dazu muss man den Text kennen, was eigentlich Voraussetzung für das rezipieren einer Oper ist)
man könnte fragen: ist das vielleicht niur Zufall? Nein! Vergleicht man die Strukturen der psychologisch angelegten aufrichtigen Arien (z.B. Violettas gewaltige e strano Arie, Aidas Nilarie, König Phillips herzzerreißendes ella giammai m´amo) mit den belcanto-Lügenarien, so stellt man fest, dass die Lügenarien allesamt in der typischen belcanto-da-capo-Manier strukturiert sind, wohingegen die aufrichtigen Arien komplexer "musikdramatischer" strukturiert sind.
die gewohnte und erwartete Schönheit in traditioneller Form ist bei Verdi die Chiffre der Lüge - ganz offensichtlich teilte Verdi Wagners Kritik an Nummernoper und grand Opera!
und dass die gewohnte Schönheit brüchig wird, das ist Verdis folgenreiche Innovation - die vermeintlichen "Leierkastenmelodien" (Strawinski) erweisen sich als bewußte und gezielte ästhetische Umwertung
...vielleicht regt das, weil wir ja das Wagner- und Verdijahr haben, dazu an, die Musik beider Komponisten aufmerksamer und vielleicht anders zu hören --- und vielleicht, bei gutem Willen, merkt man, dass Opern mehr sind als nur passives ästhetisches Wohlgefallen
________________________
*) jede Sopranistin, die für derart mörderische Partien überhaupt in Frage kommt, macht einen größeren Bogen um Verdis Lady Macbeth als um die berühmten Partien der Norma oder Lucia...!!!
**) hier kann man nur bewundernd konstatieren, dass Wagner und Verdi wie Schubert, Mozart und Puccini, zu den allergrößten Melodikern der Musikgeschichte zählen
- die Integration des "vulgären" Konzertwalzers in die Sinfonik
- der brutale Vulgärmarsch "Gang zum Richtplatz"
- die parodistische musikalische schwarze Messe ("Traum eines Hexensabbath") mit dem gräßlich verbogenen dies irae Motiv
Hinzu kommt noch, u.a. von Franz Liszt formuliert, das Novum der Dramatisierung der Sinfonik, was man als Keimzelle/Ansatz der so genannten Programmmusik bezeichnen kann.
...und nicht zu vergessen, dass dieses Monstrum einer Sinfonie über Nacht den gewaltigen spätromantischen Orchesterapparat etablierte: Berlioz´ Lehrbuch zur Instrumentation wurde quasi eine Art Bibel sämtlicher nachfolgenden Komponisten - auch Wagner, Verdi, Liszt, Brahms, Bruckner, Tschaikowski, Grieg bis Sibelius, R. Strauß, Skrjabin, Mahler zehrten von dieser Orchestrationslehre!
Aber kulturhistorisch am folgenreichsten dieses monströsen Orchesterwerks rabenschwarzer Romantik ist seine ästhetische Dimension bzw. seine von Heine erstmals erkannte Erweiterung des Ästhetischen.
Hier findet sich nun auch ein Bezug zum ungemein raffiniert und tückisch strukturierenden Opernkomponisten Guiseppe Verdi: die Integration des Häßlichen in die Ästhetik (Berlioz) regte Verdi zu einem totalen in-Frage-stellen ästhetischer Gewohnheiten an, ja sogar zu einer totalen Umwertung gewohnter Muster und Erwartungshaltungen!
was kann man sich darunter vorstellen?
Verkürzt gesagt setzten die im ersten Drittel des 19. Jh. Furore machenden italienischen belcanto Opern von Donizetti, Bellini, auch Rossini (als Vertreter der komischen Oper) und der "grand opera" von Meyerbeer, Halevy, Auber usw. überall, gleichgültig was Text und Handlung betraf, schöne ebenmäßig strukturierte und vor allem effektvolle Gesangspartien ein, vornehmlich da capo Arien. Ob auf der Bühne gerade aufrichtig-ernste Inhalte oder satirisch-komisches, tragisches oder heiteres mitgeteilt wurde: die Musik dazu war in jeder Situation mehr oder weniger gleich - effektvoll, gekonnt, dazu auf Wirkung a priori angelegt, kurzum die typische strophige da capo Arie.
Im Vordergrund der musikalischen Gestaltung der belcanto-Ära waren also effektvolle virtuose, dabei überschaubar strukturierte Arien; selbst den sehr gelungenen belcanto Arien dieser Art, z.B. die berühmte casta diva Arie oder die Wahnsinnsarie aus Lucia di Lammermoor sind entwicklungslose, aber perfekt organisierte/proportionierte Glanznummern -- ob nun geliebt, gestorben oder das Schicksal bejammert wurde: man tat dies sängerisch auf der Bühne in ebenmäßiger, virtuoser Schönheit.
Wie Wagner, so misstraute Verdi ebenfalls der Gattung Nummernoper und ihrer wesentlichen Bestandteile wie da capo Arie und dem Wechsel von Solo- und Massenszenen (pezzo concertato) -- allerdings, wie übrigens Wagner auch, lernte Verdi es, diese Strukturen anzuwenden und zu übertreffen: so finden sich die sängerisch virtuosesten und schwierigsten belcanto-Partien verblüffenderweise in den Frühwerken, in den Werken der "Galeerenjahre" beider Komponisten - zu nennen wären da Senta´s Ballade aus dem fliegenden Holländer von Wagner oder die Wahnsinnsarie der Lady Macbeth *) von Verdi.
Beide, Wagner und Verdi, kannten und konnten nicht nur die Nummernoper, sie verfügten auch, weil sie es gelernt hatten, über die neuen Instrumentationstechniken von Berlioz UND sie kannten und verfügten über die neuen musikalischen Strukturen der Programmmusik. Sie waren also beide in der Lage, die vorhandenen musikalisch-ästhetischen Gepflogenheiten nicht nur zu erfüllen, sondern auch zu übertreffen (!)
Und hier, vor dem Hintergrund des Könnens, des Verfügens - was übrigens ein absolut geniales melodisches Talent **) voraussetzt - setzt Verdis geniale Umwertung des gewohnten ein: die schlicht strukturierte, aber effektvoll virtuose belcanto-Arie wird bei Verdi zur Chiffre der Lüge!
man kann es sich gar nicht genüßlich genug auf der Zunge zergehen lassen: das perfekte ebenmäßig proportionierte "Schöne" wird zur Chiffre der Verlogenheit, der Lüge, der Unwahrheit!
berühmte Beispiele:
- das arioso bella figlia de l´amore des Duca aus Rigoletto
- die vordergründig schöne-sentimentale Arie di provenza il mar il suol des Vater Germont aus La Traviata
beide, Duca und Germont, lügen - aber sie lügen in perfektem belcanto --- für den Hörer ist diese geradezu unerträglich "schöne" Musik zunächst nicht als verlogen erkenntlich (dazu muss man den Text kennen, was eigentlich Voraussetzung für das rezipieren einer Oper ist)
man könnte fragen: ist das vielleicht niur Zufall? Nein! Vergleicht man die Strukturen der psychologisch angelegten aufrichtigen Arien (z.B. Violettas gewaltige e strano Arie, Aidas Nilarie, König Phillips herzzerreißendes ella giammai m´amo) mit den belcanto-Lügenarien, so stellt man fest, dass die Lügenarien allesamt in der typischen belcanto-da-capo-Manier strukturiert sind, wohingegen die aufrichtigen Arien komplexer "musikdramatischer" strukturiert sind.
die gewohnte und erwartete Schönheit in traditioneller Form ist bei Verdi die Chiffre der Lüge - ganz offensichtlich teilte Verdi Wagners Kritik an Nummernoper und grand Opera!
und dass die gewohnte Schönheit brüchig wird, das ist Verdis folgenreiche Innovation - die vermeintlichen "Leierkastenmelodien" (Strawinski) erweisen sich als bewußte und gezielte ästhetische Umwertung
...vielleicht regt das, weil wir ja das Wagner- und Verdijahr haben, dazu an, die Musik beider Komponisten aufmerksamer und vielleicht anders zu hören --- und vielleicht, bei gutem Willen, merkt man, dass Opern mehr sind als nur passives ästhetisches Wohlgefallen
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*) jede Sopranistin, die für derart mörderische Partien überhaupt in Frage kommt, macht einen größeren Bogen um Verdis Lady Macbeth als um die berühmten Partien der Norma oder Lucia...!!!
**) hier kann man nur bewundernd konstatieren, dass Wagner und Verdi wie Schubert, Mozart und Puccini, zu den allergrößten Melodikern der Musikgeschichte zählen