War das Byzantinische Reich überlebensfähig?

Ravenik:

Ich kann auch für die Zeit zwischen Basileios II. und Mantzikert keine Erstarrung erkennen. Gerade in dieser Zeit setzten doch Entwicklungen ein, die sich unheilvoll auswirkten

Diese Entwicklungen setzten gerade eben aufgrund der Erstarrung der Gesellschaft ein. Die negativen Innen- wie Außen- wie wirtschaftspolitischen Konsequenzen dieser Zeit resultieren gerade eben aus der Lähmung der byzantinischen Gesellschaft.

Einige Kaiser dieser Zeit wie z. B. Romanos III. förderten in Abkehr von der Politik früherer Kaiser aktiv die Großgrundbesitzer

In Abkehr nur von der Politik des Basileios des II. Die Kaiser vor Basileios dem II hatten bereits ebenfalls die Großgrundbesitzer und insbesondere den anatolischen Adel massiv gefördert. Romanos kehrte nur zur Politik seiner Vorgänger zurück. Ganz genau genommen wurden die Großgrundbesitzer auch nicht direkt gefördert, sondern durch die allgemeine Lähmung der Regierung indirekt gefördert. Das Problem waren nicht so sehr, dass Maßnahmen zugunsten des Adels erfolgten, sondern das keine Maßnahmen ergriffen wurden gegen ihn. Bereits vor Basileios war dies so, und die Kaiser nach ihm kehrten nur zu dieser Politik zurück.

Und so ganz nebenbei wurde in dieser Periode auch noch die Trennung zwischen Ost- und Westkirche besiegelt.

Was meiner Meinung nach ebenfalls seine Ursache in der Erstarrrung von Byzanz hat.

Du nennst vor allem außenpolitische und innenpolitische Veränderungen, die meiner Meinung nach gerade eben aus der Erstarrung von Byzanz in diese Zeit herrühren gerade umgekehrt als Beleg für seine Beweglichkeit. Wo du Veränderung siehst, resultiert diese Veränderung für mich gerade eben aus der Erstarrung.

Wobei meine Sicht von Byzanz in dieser Zeit vor allem durch das Werk von Michael Psellos herrührt und daher sicher tendenziös ist.
 
Manche negativen Entwicklungen des 11. Jhdts. waren nicht bloß eine Folge einer "Erstarrung" und Passivität der Kaiser, sondern durchaus gewollt. Manche Kaiser trugen aktiv zu den negativen Entwicklungen bei. Insofern lag keine "Erstarrung" vor, sondern eine durchaus gewollte Entwicklung, bei der die Interessen von dem Kaiser nahestehenden Einzelgruppen über das Wohl des Reiches gestellt wurden. Romanos III. begünstigte die Großgrundbesitzer aktiv, indem er die Epibole, einen gewissen Steuerzuschlag, mit dem sie für Steuerausfälle in ihrer Gemeinde (vor allem durch die Nichtbewirtschaftung von Soldatengütern) aufkommen mussten, abschaffte. Es wurden auch zunehmend Steuerprivilegien oder gar -befreiungen an die Großgrundbesitzer und die Kirche erteilt. Die Steuereinhebung wurde zunehmend verpachtet. Auch die Schwächung des Heeres, indem z. B. Stratioten die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich vom Wehrdienst freizukaufen, oder indem die Macht des strategos im Thema beschnitten wurde, war eine gewollte Entwicklung, um die innenpolitische Bedrohung durch das Militär für den Beamtenadel zu verringern. Unterm Strich kann man also sagen, dass sehr wohl aktive Maßnahmen zugunsten der Großgrundbesitzer und zuungunsten des Militärs ergriffen wurden. Dass man sich auch immer weniger Mühe gab, den Adel im Griff zu behalten, kam nur noch als verstärkendes Element hinzu.

Auch vor Basileios II. hatte es sehr wohl Kaiser gegeben, die den Großgrundbesitz zu bremsen versucht hatten. Beispiele:
- Romanos I. verfügte, dass bei Grundstücksverkäufen Verwandte und Nachbarn des Verkäufers ein Vorkaufsrecht erhielten. Damit sollte der Aufkauf von Grundstücken durch Großgrundbesitzer unterbunden werden. Außerdem ordnete er in einer einmaligen Aktion an, dass binnen drei Jahren jeder Verkäufer sein Grundstück gegen Erstattung des ursprünglichen Kaufpreises zurückverlangen konnte. Illegale Eigentumsveränderungen erklärte er für unwirksam.
- Konstantin VII. machte einen Mindestumfang der Stratiotengüter unveräußerlich.
- Nikephoros II. schränkte zwar das Vorkaufsrecht ein, erhöhte aber die unveräußerliche Mindestgröße der Stratiotengüter.
- Iohannes I. Tzimiskes ließ die Entstehung der Güter von Großgrundbesitzern überprüfen und in ihnen enthaltene ehemalige Stratiotengüter beschlagnahmen.

Was die Kirchenspaltung betrifft, so war da allenfalls der Kaiser "erstarrt". Von Patriarch Michael Kerullarios wurde sie aktiv vorangetrieben, und der Kaiser widersetzte sich nicht. Allerdings hatte bereits Basileios II. die Politik seiner Vorgänger, die die Kircheneinheit wahren wollten, u. a. um ihren Anspruch auf Italien besser aufrechterhalten zu können, aufgegeben und eine inoffizielle Abkapselung ermöglicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ravenik:

Was mir auffällt ist, dass du immer Maßnahmen und Erlässe von Kaisern her nimmst, und darob der bloßen Existenz dieser postulierst, dass keine Erstarrung vorlag. Unter Erstarrung verstehe ich aber nicht die völlige Abwesenheit von politischen Maßnahmen.

Wir reden daher etwas aneinander vorbei. Eine Gesellschaft ist meiner Auffassung nicht allein dann erstarrt, wenn gar nichts mehr getan wird, es keinerlei politische Handlungen mehr gibt.

In jeder Gesellschaft, gleich wie erstarrt sie ist, finden trotz dieser Erstarrung politische Handlungen statt, greift der Staat/Kaiser mal so und mal anders in die Geschicke des Staates ein.

Mein Eindruck ist daher, dass wir beide den Begriff Erstarrung verschieden definieren und aufgrund der unterschiedlichen Auffassung darüber was Erstarrung einer Gesellschaft bedeutet hier eben aneinander vorbei schreiben.

Meiner Meinung nach war die byzantinische Gesellschaft in dieser Zeit erstarrt, dass schließt aber gerade eben meiner Definition nach nicht aus, dass auch in einer solchen erstarrten Gesellschaft politische Handlungen stattfinden. Was also verstehe ich unter Erstarrung in Bezug auf Byzanz in dieser Zeit:

Insofern lag keine "Erstarrung" vor, sondern eine durchaus gewollte Entwicklung, bei der die Interessen von dem Kaiser nahestehenden Einzelgruppen über das Wohl des Reiches gestellt wurden. Romanos III. begünstigte die Großgrundbesitzer aktiv, indem er die Epibole, einen gewissen Steuerzuschlag, mit dem sie für Steuerausfälle in ihrer Gemeinde (vor allem durch die Nichtbewirtschaftung von Soldatengütern) aufkommen mussten, abschaffte. Es wurden auch zunehmend Steuerprivilegien oder gar -befreiungen an die Großgrundbesitzer und die Kirche erteilt. Die Steuereinhebung wurde zunehmend verpachtet. Auch die Schwächung des Heeres, indem z. B. Stratioten die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich vom Wehrdienst freizukaufen, oder indem die Macht des strategos im Thema beschnitten wurde, war eine gewollte Entwicklung, um die innenpolitische Bedrohung durch das Militär für den Beamtenadel zu verringern. Unterm Strich kann man also sagen, dass sehr wohl aktive Maßnahmen zugunsten der Großgrundbesitzer und zuungunsten des Militärs ergriffen wurden.

Das Thema: Beamtenadel der Hauptstadt gegen Militäradel auf dem Land ist ein Thema, dass sich bereits lange Zeiträume durch die byzantinische Gesellschaft zog, bereits lange bevor diese erstarrte.

Gerade aber das Übermaß an Macht dass der Beamtenadel, die Bürokratie nach Basileios dem II erlangte ist meiner Ansicht nach der wesentliche Faktor für die Einordnung der byzantinischen Gesellschaft als einer erstarrten Gesellschaft. Diese Gesellschaft erstarrte aufgrund der Übermacht der Bürokratie und der Planwirtschaft des Beamtenadels und die von dir hier ausgeführten aktiven Maßnahmen waren also kein Anzeichen, dass die Gesellschaft nicht erstarrt war, sondern im Gegenteil. Diese ganze Entwicklung ist gerade eben ein Beleg für die Erstarrung der Gesellschaft gewesen.

Die Trennung von Großgrundbesitzern und Beamtenadel war zudem nicht gegeben, da der Beamtenadel sich ebenfalls aus den geförderten Großgrundbesitzern rekrutierte. Von daher könnte man eher davon sprechen, dass sich hier zwei rivalisierende Gruppen innerhalb der Großgrundbesitzer gegenüber standen, von denen die eine für die Erstarrung der Gesellschaft zu ihrem Vorteil eintrat, was ihr dann nach dem Tod von Basileios dem II auch gelang.

Byzanz hatte nach dem Tod von Basileios dem II eine stark planwirtschaftlich ausgerichtete Wirtschaft und Verwaltung. Alles wurde der Hauptstadtbürokratie unterworfen, überreguliert, und dadurch vollständig gelähmt. Selbst fähigere Kaiser wie Isaak Komnenos konnten die Macht des Beamtenadels nicht mehr durchbrechen, dieser setzte sich nach dem Tod von Basileios II vollständig durch.
 
Wir reden tatsächlich aneinander vorbei, weil wir "Erstarrung" unterschiedlich definieren. So wie Du den Ausdruck verwendest, kann man immer von einer Erstarrung reden, egal ob das Reich noch aktiv regiert und Maßnahmen gesetzt werden oder nicht. Ich hingegen verstehe unter "Erstarrung" einen Zustand, in dem eben nicht mehr regiert, sondern nur noch administriert wird, sich die Regierung also darauf beschränkt, die Steuern einzutreiben, den Beamten ihre Gehälter auszubezahlen und allenfalls noch gelegentlich neue Bauten zu errichten, aber keine Reformen mehr durchführt, nicht mehr aktiv Maßnahmen setzt, um bestimmte (in ihren Augen!) Missstände abzustellen und gewünschte Entwicklungen herbeizuführen. Bei einer "Erstarrung" ist also das System eingefroren, Regierung und Beamtenschaft begnügen sich mit der Erhaltung des Status quo, es entsteht ein "Reformstau", Maßnahmen werden nur noch ergriffen, um den Bestand des Status quo sicherzustellen. Eine derartige Erstarrung lag im 11. Jhdt. aber nicht vor, sondern die dem Beamtenadel und der Großgrundbesitzerschaft entstammenden Kaiser ergriffen (neben der zunehmenden bloßen Nichtdurchführung vorhandener Maßnahmen, die den Großgrundbesitz bremsen sollten) auch aktiv Maßnahmen, um ihre Macht zu festigen, ihre Schicht zu begünstigen und die Macht des Militärs zu schwächen. Diese Maßnahmen waren auch Reformen, denn "Reform" bedeutet ja nur, dass ein Zustand von der Regierung absichtlich verändert wird, nicht dass die Änderung auch positiv sein muss (was ohnehin Ansichtssache ist). Eine "Erstarrung" war nur das Ziel dieser Reformen, indem ein Zustand geschaffen werden sollte, in dem es der hohen Beamtenschaft und den Großgrundbesitzern gut geht und das Militär innenpolitisch für die zivilen Machthaber keine Gefahr mehr darstellt, aber dieser Zustand musste erst einmal herbeigeführt werden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ravenik:

Wenn ich dich richtig verstehe, dann gibt es nach deiner Auffassung gar keine erstarrten Gesellschaften, erstarren also Staaten nie.

So wie Du den Ausdruck verwendest, kann man immer von einer Erstarrung reden, egal ob das Reich noch aktiv regiert und Maßnahmen gesetzt werden oder nicht.
Das ist wiederum nicht das was ich meinte. Meine Auffassung von Erstarrung beinhaltet aber aktive Maßnahmen, die den Status Quo zementieren sollen, darin liegt der Unterschied zu deiner Auffassung. Aktive Maßnahmen sind kein Widerspruch zu Erstarrung und werden auch in erstarrten Gesellschaften ergriffen, um den Status Quo zu erhalten (der sich ansonsten ja gar nicht auf Dauer erhalten lässt, womit jede (gewünschte) Erstarrung rasch wieder enden würde.

Den ansonsten gäbe es wiederum nie eine erstarrte Gesellschaft, da in jeder erstarrten Gesellschaft die Umstände die Eliten dazu zwingen, aktive Maßnahmen zum Erhalt des Status Quo zu treffen.

Meinem Verständnis nach also ist eine Gesellschaft dann erstarrt, wenn die aktiven Maßnahmen der Nicht-Veränderung dienen, wen aktive Regierung also mit dem Zweck stattfindet, die Veränderung zu verhindern.

aber keine Reformen mehr durchführt, nicht mehr aktiv Maßnahmen setzt, um bestimmte (in ihren Augen!) Missstände abzustellen und gewünschte Entwicklungen herbeizuführen
Eine Regierung kann auch aktiv Misstände fördern und ungewünschte Entwicklungen ebenso. Aktive Maßnahmen sind nicht als Selbstzweck etwas Gutes, sondern nur dann, wenn sie dem Überleben des Staates dienlichen Zielen gelten. Und aktive Maßnahmen können nicht nur Erstarrung als Ziel haben, wie du es postulierst, sie können auch dem Erhalt der Erstarrung dienen.

Eine "Erstarrung" war nur das Ziel dieser Reformen, indem ein Zustand geschaffen werden sollte,
Genau so meine ich das auch, in Wahrheit sind wir gar nicht weit auseinander.

Gerade die Maßnahmen der Regierung in Byzanz nach Basileios dem II waren durch die Reihe Maßnahmen, die den Status Quo, die Vorherrschaft des Beamtenadels zementieren sollten. Wie diese Maßnahmen angedacht waren und wie sie wirkten sind wir durch Michael Psellos sehr gut informiert, der als Insider und Angehöriger des Beamtenadels sehr weitreichend selbst in die Politik eingriff, mit immer dem gleichen Ziel: Der Zementierung des Status Quo.

Bei einer "Erstarrung" ist also das System eingefroren, Regierung und Beamtenschaft begnügen sich mit der Erhaltung des Status quo, es entsteht ein "Reformstau", Maßnahmen werden nur noch ergriffen, um den Bestand des Status quo sicherzustellen.

Genau das war meiner Meinung nach in der Zeit nach Basileios dem II der Fall. Es wurden zwar viele Reformen von Kaisern beschlossen, diese wurden aber in der Realität nicht umgesetzt, es bestand also ein immer rasanter zunehmender Reformstau.

Das byzantinische System war eingefroren, es veränderte sich nur noch in einem Bereich: das Militär wurde fortlaufend schwächer, was aber ein systeminhärenter Prozess war und gerade eben aus der Erstarrung und Reformunfähigkeit der Gesellschaft heraus rührte. Die Gesellschaft hatte eine bestimmte Form angenommen, in der das Militär immer schwächer wurde, das lag nicht an Erlässen der Kaiser allein, im Gegenteil. Die Bevölkerung selbst entzog sich so gut es ging dem Militärdienst, deshalb ja nahmen so viele das Angebot an, sich vom Militärdienst loszukaufen.

Alle Maßnahmen nach Basileios dem II die tatsächlich durchgeführt wurden, dienten meiner Ansicht nach dem Erhalt des Status Quo.

aber dieser Zustand musste erst einmal herbeigeführt werden
Meiner Ansicht nach war dieser Zustand den du detaillierter beschreibst bereits wenige jahre nach dem Tod von Basileios dem II erreicht. Um es zeitlich noch genauer einzugrenzen: Unter der Herrschaft von Konstantin dem IX war dieser von dir beschriebene Zustand bereits erreicht und wurde ab da nur noch aufrecht erhalten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Nun bekommt auch das Byzantinische Reich seinen climate-impact. :D

Die Verluste im Süden werden hier mit einer Phase des "urbanen Kollapses" in Verbindung gebracht. Das muss nun nicht der Weisheit letzter Schluss sein, interessant zu lesen ist es allemal.

Im freien download als "early edition" aus der PNAS
Ancient trash mounds unravel urban collapse a century before the end of Byzantine hegemony in the southern Levant


Dabei ist das nicht ganz neu:
Es wurde kalt um Byzanz

Presse, zB
Byzantinisches Reich: Spurensuche im antiken Müllberg - SPIEGEL ONLINE - Wissenschaft
Did Climate Change Help Take Down the Byzantine Empire? - D-brief
 
Die Verluste im Süden werden hier mit einer Phase des "urbanen Kollapses" in Verbindung gebracht. Das muss nun nicht der Weisheit letzter Schluss sein, interessant zu lesen ist es allemal.
Einen urbanen Kollaps gab es in allen Teilen des Reiches, zu beobachten ist im archäologischen Befund, dass die Bewohner der Städte enger aneinanderrücken, obwohl sie nicht unbedingt weniger werden, das öffentliche Gebäude aufgegeben und/oder ungenutzt werden (Thermen werden plötzlich zu Nekropolen, Garumfabriken entstehen in vormaligen Vergnügungsvierteln...) bzw. Verfällen (Aquädukte, Stadtmauern, Theater...).

Übrigens, weil es irgendwie passt und die muslim. Eroberung angesprochen wird: Entgegen unserem Klischee vom frühislamischen Beduinenkrieger spricht der Qur'ān eine ganz andere Sprache: er richtet sich an die Bewohner der Handelsstädte der arab. Halbinsel, die nomadisch lebenden Wüstenbewohner betrachtet er latent verächtlich. Insofern ist die frühislamische Kultur eigentlich - entgegen unserem Klischee - eine städtische.
 
Ich meine nicht unbedingt dich und mich, sondern den durchschnittlichen Europäer, dessen Araberbild - egal ob feindlich beseelt oder romantisch vernebelt - doch eher den kameltreibenden Zeltbewohner zeigt, als den Städter. Wobei ich vom Frühislam (Muhammad und die vier rechtgeleiteten Kalifen) sprach und du in dem Beitrag die Epoche des klassischen Islam (Umayyaden und v.a. 'Abbasiden) beschreibst.
 
Zurück
Oben