dann diese Anspannung im Ersten Weltkrieg - und da, im Druckgefäß des  Ersten Weltkrieges, entsteht auch dieser spezifische deutsche  Nationalismus, und das ist immer gepaart, auch der Neid gegenüber den  Juden, mit dem eigenen Schwächegefühl. Man muss sich doch klar machen:  Um 1900 haben Juden zehn Mal so oft Abitur gemacht wie deutsche  Christen, zehn Mal so oft, und sie haben im Durchschnitt - das ist  statistisch damals berechnet worden - vor dem Ersten Weltkrieg fünf Mal  so viel verdient wie deutsche Christen. Diese Phänomene und die sozialen  Spannungen, der Hass und der Neid - und das macht den spezifischen  deutschen Antisemitismus aus -, ... Und man braucht den Antisemitismus  nicht mehr auf den Antisemitismus zurückzuführen, sondern man kann  sagen: Es sind bestimmte Phänomene und Ursachen in der deutschen  Geschichte, und ich würde sagen, insbesondere die Rückständigkeit der  deutschen Bildungsinstitutionen, vor allem der elementaren, und die  gleichzeitige Gewährung der wirtschaftlichen Freiheit an die Juden 1808,  '12. Die gab es natürlich auch für die Mehrheitsdeutschen, die  christlichen Deutschen, aber die wussten davon nichts anzufangen, die  hatten Angst vor Freiheit und Gewerbefreiheit, die fühlten sich in den  alten, gewissermaßen leibeigenen, behüteten zünftischen Umständen wohl.
Heinemann: Sie sprachen von Neid und Missgunst. Kann man damit den Völkermord der Nationalsozialisten begründen?
Aly:  Na, ich finde, dass man mal über Neid einfach reden kann. Das ist  dieser offensichtliche Rückstand, das ist dieses Gefühl der Schwäche,  mangelnder Schlagfertigkeit, mangelnder wirtschaftlicher Intelligenz,  nicht genügender Geistesgegenwart, das die Mehrheit der deutschen  Christen gegenüber diesen voranschreitenden, in die Moderne stürmenden  Juden empfindet. Und dass dann Neid entsteht, ist nämlich ein  verborgenes Gefühl, das man sich selber nicht eingesteht. Und dann  flüchtet man ins Kollektiv, weil man nur so genügend Stärke für sich  selber erwerben kann, macht den anderen, den Beneideten schlecht, und  freut sich - da man sich den Neid selber nicht eingesteht -, wenn andere  sozusagen dem Beneideten Nachteiliges zufügen.