Serbien im
Osmanischen Reich
Genauso simplifiziert wie das Mittelalter wird von
den meisten Serben auch die anschließende Zeit der
osmanischen Herrschaft (Mitte des 15. bis zur ersten
Hälfte des 19. Jh.) wahrgenommen. Während sogar
die serbischen Autoren des frühen 19. Jahrhunderts,
also der Zeit der intensivsten Kämpfe gegen die türkische
Herrschaft, wie z.B. der Erzpriester Mateja
Nenadovic, die osmanische Epoche differenziert
betrachten, ist das heutige populäre Bild der „Türkenzeit“
in Serbien meistens schwarz-weiß (es ist
sicherlich eindeutig, welcher Seite welche Farbe zuzuordnen
ist.). Es wird z.B. ignoriert, dass das Osmanische
Reich nicht ein türkischer Nationalstaat war,
sondern ein theokratisches multinationales Imperium,
dessen Sultan als Kalif das Oberhaupt der Muslime
war, als Herrscher in Konstantinopel sich aber
auch einigermaßen als Nachfolger der Römischen
Kaiser verstand. Auch Serben standen in diesem Staat
die höchsten öffentlichen Ämter offen, vorausgesetzt,
sie traten zum Islam über. Serben wurden zu höchstrangigen
Wesiren, auch zu Großwesiren – Äquivalenten
zu Reichskanzlern. Selbstverständlich sind solche
Tatsachen jedem serbischen Historiker bekannt. Dass
aber die heutigen Geschichtsstudenten in Serbien
nicht Türkisch lernen müssen, die Sprache also, in
welcher mehr als 350 Jahre lang Entscheidendes über
Serbien geschrieben wurde, die Sprache, in welcher
z.B. die ersten Volkszählungen in Serbien durchgeführt
wurden, sagt einiges über die – bewusste oder
unbewusste – Verdrängung dieser Epoche.
Das Millet-System und das
Spezifische des serbischen
Nationalgefühls
Der Grund dafür, dass das Volk die zu Muslimen gewordenen
Serben, die zu osmanischen Amtsträgern
wurden, nie als eigene Aristokratie anerkannt hat,
liegt aber zum großen Teil im osmanischen Millet-
System begründet. Nach diesem Rechtssystem waren
die Oberhäupter der Kirchen und Glaubensgemein-
schaften für das Verhalten der eigenen Herde verantwortlich.
Dadurch wurden in Serbien die Geistlichen
zu einer Volksaristokratie und die Kirche zum Ethnarch
– Volksanführer. Das führte im Gegenzug dazu,
dass sich die Volkszugehörigkeit immer mehr mit der
Zugehörigkeit zur Serbisch-Orthodoxen Kirche verband.
So wurden die muslimisch gewordenen als Janitscharen
rekrutierten Serben, die z.B. im 16. Jh.
einige der höchsten Wesirposten inne hatten, meistens
nicht als Serben wahrgenommen (eine Ausnahme
ist der bekannte Mehmet-Pascha Sokolovic,
Großwesir unter Süleyman dem Prächtigen, dem aber
z.B. ein Teil der kroatischen Geschichtsschreibung
kroatische und nicht serbische Volkszugehörigkeit
zuschreibt).
Das osmanische Millet-System ist für die Entwicklung
des serbischen Nationalgefühls und seine Verbindung
mit der Kirche von größter Bedeutung.
Auch heute werden die slawischen Muslime von den
Serben häufig pejorativ „Türken“ genannt, womit die
schicksalhafte Verbindung zwischen Kirche und Nation
betont wird. ...