Was versteht ihr unter Europa?

Saint-Just schrieb:
Entweder lässt sich Europa als rein geographischer Begriff verstehen- dann spielt aber Kultur, Politik usw. gar keine Rolle. Den Bergen, Tälern und Flüssen ists egal, wer in und auf ihnen lebt. Das wäre aber geschichtlich einigermaßen bedeutungslos.

Oder man will eine kulturelle Einheit "Europa" konstruieren- dann ist "europa" überall da, wo Kultur-Europäer sind. Geographie spielt dann keine Rolle mehr. Wenn dann aber "Europa" auf der ganzen Welt ist, hilft Kultur zur regionalen Abgrenzung auch nicht weiter.

Beide Definitionen bringen also keinen Zentimeter voran.
"Europa" als Begriff in seiner geographischen Definition ist historisch völlig bedeutungslos. Insofern besteht, wie ich schon sagte, keinerlei Anlass, an der Übereinkunft über die geographischen Grenzen Europas etwas zu ändern.

Das Problem ist doch gerade, dass jetzt immer - zu "europapolitischen" Zwecken - nach einer Definition gesucht wird, die den geographischen Begriff in einen historisch-kulturellen Zusammenhang stellt und die dabei in Kauf nimmt, dass einerseits Teile des geographischen Umfangs Europas ausgeschlossen werden können und andererseits Teile hinzugefügt werden sollen, die geographisch nicht zu Europa gehören.

Aber vielleicht sollte man ein solches Problem nicht in einem Geschichtsforum behandeln.
 
Vielleicht mal ein Stichwort aus der Geographie, das wohl nicht uninteressant für's Thema ist:

'mental maps' oder kognitive Karten

Unter diesen Stichpunkten + 'Europa' bekommt man einige interessante sozialgeographische Aspekte zum Thema.

http://igkultur.at/igkultur/europa/1087650540
http://www.hans-bredow-institut.de/forschung/nutzung/30mentalmaps.htm
http://hsozkult.geschichte.hu-berli...37&recno=5&type=artikel&sort=datum&order=down

Das zur Anregung.

Eines haben wir sicherlich alle festgestellt: 'Europa' ist ein vielschichtiger Begriff.

Europa ist eine Institution.
Europa ist eine Idee.
Europa ist eine Wirtschaftsmacht.
Europa ist eine Identität.
Europa ist eine Landmasse.
Europa ist eine Floskel.
Europa ist ein Abgrenzungsinstrument.
Europa ist eine Sehnsucht.

Man könnte das sicherlich ad infinitum weiterführen. Zum spannendsten Aspekt wähle ich den der Identität. Gibt es eine europäische Zugehörigkeit, woher kommt sie und wer darf sich ihrer anmaßen? Nicht politisch, sondern ethnologisch.

Ich gehe davon aus, dass wir uns noch viele Jahrzehnte lang an der Frage, was denn Europa ist, die Zähne ausbeissen werden.

Guten Appetit!
 
hier ist auch ein interessantes Dokument eines Wissenschaftlers mit ausgewiesener Reputation:

Rainer Tetzlaff
Europas islamisches Erbe
Orient und Okzident zwischen Kooperation und Konkurrenz

http://www.ifsh.de/pdf/publikationen/hb/hb138.pdf

Ein kleiner Auszug aus dem Werk (S. 9):

Die Hauptthese der hier vorgelegten skizzenhaften Abhandlung, die ideengeschichtliche und strukturgeschichtliche Aspekte einer interkulturellen Ko-Entwicklung von Orient und Okzident in einer longue-durée-Perspektive zu vereinen sucht, lässt sich wie folgt umreißen: Europa kann sich auf Grund seiner langen und historisch wechselvollen Genese nicht als „christliches Abendland“ verstehen – das verriete eine eurozentrisch verengte Weltsicht und könnte leicht als kulturelle Arroganz diffamiert und dekonstruiert werden.
Vielmehr hat der griechisch- lateinische, jüdisch-christliche Okzident
als fünfte Wurzel noch die Importe aus der islamischen Kultur und Wissenschaft aus dem Mittelalter. Die Selbstvergewisserung ihres oftmals verdrängten eigenen islamischen Erbes kann es den EU-Europäern heute erleichtern, unbegründete eigene Ängste und Vorurteile über Muslime zu hinterfragen und gleichzeitig auch anpassungsbereite Muslime auf ihrem
schwierigen Reformweg in eine neu definierte europäische Moderne mit
Empathie zu begleiten.
Diesem Anliegen ist der folgende Diskussionsbeitrag verpflichtet, der sich
als einen Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur zum Zwecke der interkulturellen Völkerverständigung versteht.

[...]
"
und aus S. 12 ein kleiner Ausschnitt:

"
Der folgende Beitrag versteht sich nicht als ein explizites Plädoyer für oder
gegen die aktuelle und äußerst strittige EU-Beitrittsfrage der Türkei,
die zur Zeit Europa, die Gesellschaften der EU-Staaten und auch die politischen Parteien spaltet, sondern sein Thema ist geographisch und geopolitisch breiter angelegt: Er möchte durch Reflexion der gemeinsamen Vergangenheit und wechselseitiger Austausch- und Lernprozesse zwischen Orient und Okzident zwei Dinge ins Bewusstsein rücken: [...]
"
 
Zuletzt bearbeitet:
Europa als Raum

Vielleicht sollte Europa nicht von seinen Grenzen aus definiert werden, sondern vom Zentrum aus. Sprich: Wieviel % der Bewohner eines Landes sieht sich dauerhaft als Europäer - und zwar zusätzlich zu seiner Region und/oder Nation.

Die Einstellung kann auch schwanken; aber die Entwicklung Europas ist ja auch ein Prozess. Eine endgültige Grenze muss dann nicht gezogen werden. Vielleicht wird Europa ja auch mal wieder kleiner, wenn die Anziehungskraft der Idee Europa nachlässt.

Dieses sollte dann auch jeden nicht von seiner Meinung abhalten (danach wurde ja auch gefragt). Zurück also zur Geographie: Für mich gehören z.B. die kanarischen Inseln zu Afrika; aber die Bewohner dieser Inseln sehen das (zur Zeit?) anders - de facto gehören sie also zu Europa.
In meinem Kopf sieht der Rand Europas so aus:
Azoren, Island, Spitzbergen, Nowaja Semlja, Ural, Kaspisches Meer, historisches Armenien, Osroene, Kilikien, Zypern, Kreta, Malta, Sardinien, Straße von Gibraltar.

Europa ist für mich eine Mischung aus Geographie, gemeinsamer Geschichte,
Kultur und Werten. Wer aufgrund dieser Basis gerne zusammenarbeitet und leben will, der soll dies tun können. Wer jedoch nur aus wirtschaftlichen Gründen Teil der EU werden möchte/geworden ist (England, Polen?) muss dann noch lange kein Europäer sein, kann es aber vielleicht ja noch werden oder geworden sein. :rolleyes:

Vielleicht entwickelt sich der wirtschaftliche Teil der EU ja auch weiter, zu einer Europäisch-Arabisch-Afrikanischen Union z.B.. Deshalb ist Freihandelszone oder EU-Identität für mich eben kein Bindungsmerkmal.

Ich habe jedenfalls ein gutes Gefühl dabei :yes: Europäer zu sein und so sollte es denn wohl auch sein - Freude, schöner Götterfunken...
 
In meinem Kopf sieht der Rand Europas so aus:
Azoren, Island, Spitzbergen, Nowaja Semlja, Ural, Kaspisches Meer, historisches Armenien, Osroene, Kilikien, Zypern, Kreta, Malta, Sardinien, Straße von Gibraltar.

Das ist interessant, aber auch logisch (d.h. nicht, dass ich diese Auffassung teile): Du verlängerst den Ural nach Süden und hast somit Kleinasien als Teil Europas, wo doch die meisten Europa mit dem Kaukasus beendet sehen. So wird dann auch Zypern, das südlich Kleinasiens und westlich der Levante liegt, zu einem Teil Europas. Auch Malta welches auf halbem Weg zwischen Afrika und Europa liegt und deren Bewohner wohl die einzigen römisch-katholische Christen sind, die eine arabische Sprache sprechen (Maltesisch ist ein europäisiertes Arabisch) ordnest Du in Deiner mental map ganz leicht in Europa ein... Woran man eben auch sieht, wie die Nachrichtenwelt oder das Wissen um die Aussengrenzen der EU bzw. politische Tatasachen unsere mental maps beeinflussen.
 
hat er ganz Kleinasien dazugezählt, oder nur Kilikien? Welches ja gegenüber Zypern liegt. Komische Einteilung... ;) warum dann nicht auch Pamphylien aus Kleinasien dazuzählen? ;)

Vielleicht gibts auch noch ein weiteres Kilikien?

Für mich ist Europa die Kontinentalplatte bzw. Schelf und ein Kulturraum, auch Werteraum und mittlerweile Friedensraum, was das wichtigste überhaupt ist.
 
Naja, wenn schon die südlichsten und östlichsten Teile der Türkei als historisch europäische Gebiete gesehen werden ("historisches Armenien", Osro(h)ene), dann gehe ich mal davon aus, dass die unmittelbar an Europa grenzende Westtürkei subsummiert ist.
 
Rein geografisch gesehen zählt lediglich 4% der Türkei zu Europa - nämlich die "europäische" Türkei - während der kleinasiatische Rest zu Asien gehört. Insofern sind natürlich auch Georgien, Armenien, Aserbeidschan usw. nicht mehr Bestandteil von Europa.

Wann immer dieses Thema auftaucht, gegenwärtig besonders im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen, muss man irgendwo vernünftige Grenzen ziehen bei der Frage, was nun zu Europa zählen soll. Wer z.B. die Türkei einbeziehen will, der muss auch zu Georgien, Armenien, Aserbeidschan "ja" sagen. Vielleicht auch zu Kasachstan und Turkmenistan?

Anspruch erheben auch die nordafrikanischen Staaten Tunesien und Marokko, die sagen: Wenn man die Türkei aufnimmt, so muss man uns das gleiche Recht zubilligen, denn unsere Geschichte war auch mit der europäischen verflochten. Wenn man das fortführt, so zählt sich bald halb Asien und Afrika zu Europa, um seiner wirtschaftlichen Segnungen teilhaftig zu werden, was dann irgendwann jeden Rahmen sprengt.

Um die Absurdität zu vertiefen:: Griechenland, Rumänien und Bulgarien könnten den Anspruch erheben, in eine arabische Wirtschaftsgemeinschaft aufgenommen zu werden, da sie immerhin 350 Jahre Bestandteil eines islamischen Staates - nämlich des Osmanischen Reichs - waren.

Also: Europas Grenzen verlaufen am Ural und Bosporus und dort sollte man sie auch stehen lassen.
 
Interessanter Gedanke, Dieter.

Wäre Bulgarien, usw. so stark wirtschaftlich, institutionell und auch kulturell mit arab. Ländern und ihrer imaginären AU verflochten, wie die Türkei mit der EU, dann würde ich dafür pladieren, dass Griechenland, etc. in die AU aufgenommen wird... ;)

Zentralasien sollten lieber in eine GUS oder ähnlich eintreten, nach dem Vorbild der EU.

Die Bücke der Türkei sollte besser uns gehören, dann können wir sie kontrollieren. Brücken sind strategisch äußerst wertvoll... :)

Aber ich denke, dass wird hier zu politisch, wobei die Grenzen wie immer schwammig sind.


Ich lese mir erstmal den ganzen Thread durch.
Ciao und LG, lynxxx
 
Rein geografisch gesehen zählt lediglich 4% der Türkei zu Europa - nämlich die "europäische" Türkei - während der kleinasiatische Rest zu Asien gehört. Insofern sind natürlich auch Georgien, Armenien, Aserbeidschan usw. nicht mehr Bestandteil von Europa.
....
Also: Europas Grenzen verlaufen am Ural und Bosporus und dort sollte man sie auch stehen lassen.


wie bereits vorher schon diskutiert verliefen die Grenzen Europas nicht immer so wie sie heute mehrheitlich definiert werden. Ich besitze z. B. einen kleinen Blechglobus (für Schmuck so 1925/30) in dem ganz Arabien in blau zu Europa gezählt wird...:trost:
Wie im vorherigen Text begründet: Es muss nicht unbedingt eine allgemeingültige geographische Definition Europas geben. Meine kann genauso richtig sein wie Deine, wie auch die mögliche Definition EU = Europa usw.

lynxx; schrieb:
hat er ganz Kleinasien dazugezählt, oder nur Kilikien? Welches ja gegenüber Zypern liegt. Komische Einteilung... ;) warum dann nicht auch Pamphylien aus Kleinasien dazuzählen? ;)


Der gedachte südliche Rand liegt natürlich auf der gedanklichen Linie Kreta - Zypern; Kleinasien, Anatolien und den Karaman zähle ich somit auch zu Europa:winke:. Wär' sonst wirklich sehr komisch:scheinheilig:

El Quijote schrieb:
Auch Malta welches auf halbem Weg zwischen Afrika und Europa liegt und deren Bewohner wohl die einzigen römisch-katholische Christen sind, die eine arabische Sprache sprechen (Maltesisch ist ein europäisiertes Arabisch) ordnest Du in Deiner mental map ganz leicht in Europa ein... Woran man eben auch sieht, wie die Nachrichtenwelt oder das Wissen um die Aussengrenzen der EU bzw. politische Tatasachen unsere mental maps beeinflussen.


Malta sortiere ich in Europa ein, weil es eigentlich zu Sizilien gehört hat, bevor es die Johanniter als Lehen erhalten haben; auch vor der EU wurde es geographisch z.B. Fischer Weltalmanach 1990 zu Europa gezählt...
:eek:fftopic: Ich finde die Sprachenvielfalt in Dagestan viel interessanter...



Grüße, Enginger
 
Geologisch ist Europa (im Unterschied zu den anderen 4 Erdteilen) überhaupt kein Kontinent, sondern ein Anhängsel Asiens. Dass es trotzdem als Erdteil gilt, ist historisch bedingt und der jahrhundertelangen eurozentristischen Deutungshoheit zuzuschreiben. Weil eine geografische Abgrenzung sein muss, haben sich weitgehend Gebirge und Fluss Ural durchgesetzt.
 
Geologisch ist Europa (im Unterschied zu den anderen 4 Erdteilen) überhaupt kein Kontinent, sondern ein Anhängsel Asiens. Dass es trotzdem als Erdteil gilt, ist historisch bedingt und der jahrhundertelangen eurozentristischen Deutungshoheit zuzuschreiben...
Hier muß ich leider wiedersprechen, mit Hilfe eines anderen Links, der eine Landkarte zeigt, in dem zu sehen ist, daß Europa und Asien vor 306 Mio. Jahren durchaus nicht immer eine gleiche Landmasse gebildet haben:

http://www.geologieinfo.de/palaeokarten/karte-spaetes-karbon-vor-306-mio-jahren.html
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier muß ich leider wiedersprechen, mit Hilfe eines anderen Links, der eine Landkarte zeigt, in dem zu sehen ist, daß Europa und Asien vor 306 Mio. Jahren durchaus nicht immer eine gleiche Landmasse gebildet haben:

Noch früher gab es sogar Pangäa, und da war "Europa" schon mal dabei.;)
Pangäa - Wikipedia
Vor 300 Mio. gab es noch keine Menschen, die die Erde in Kontinente hätten einteilen und diese benennen können. Seit es Menschen gibt, ist Europa ein Anhängsel Asiens. Und seit der Name Europa erfunden wurde sowieso.

Übrigens: Auch wenn hier das Geschichtsforum ist: Afrika ist dabei auseinanderzubrechen Ostafrikanischer Graben - Wikipedia und Nordafrika wird mit Europa zusammenstoßen, wobei das Mittelmeer verschwinden wird. Also schon mal die Badetücher einsammeln. Es dauert nur noch ein paar Mio. Jahre. :pfeif:
 
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Noch früher gab es sogar Pangäa, und da war "Europa" schon mal dabei.;)
Pangäa - Wikipedia
Vor 300 Mio. gab es noch keine Menschen, die die Erde in Kontinente hätten einteilen und diese benennen können. Seit es Menschen gibt, ist Europa ein Anhängsel Asiens. Und seit der Name Europa erfunden wurde sowieso.
Ja, soweit klar, aber du meintest ja geologisch und rein geologisch stimmt es eben nicht...
Aber das nur am Rande...
Was die Menschen angeht, konnten sie aber auch schon sehr früh Asien von Europa unterscheiden.
;)
 
Ja, soweit klar, aber du meintest ja geologisch und rein geologisch stimmt es eben nicht...
Aber das nur am Rande...
Auch wenn hier nicht das Geologieforum ist und die Wissenschaftlichkeit der Wikipedia nicht unumstritten ist, der Einfachheit halber ein Zitat:
Eurasien bildet eine zusammenhängende Landmasse, die auch größtenteils auf derselben Kontinentalplatte ruht, lediglich im Süden Eurasiens existieren mehrere separate kleinere Platten.
Kontinent - Wikipedia
Was die Menschen angeht, konnten sie aber auch schon sehr früh Asien von Europa unterscheiden.
;)
Genau darum geht´s. Es ist keine geologische, sondern historisch-kulturelle Abgrenzung.
 
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