Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

@Shinigami

Da werden jetzt meines Erachtens verschiedene Punkte vermischt.

@Dion dürfte insofern Recht haben, als es im Islam keine Aufklärung im Sinne einer nachhaltigen oder gar globalen religiösen Reform gegeben hat, die auch nur annähernd an die Liberalisierung heranreichen würde, die das Christentum und (in geringerem Maße) das Judentum durchgemacht haben.

Säkulare Muslime gibt es fast nur in der Türkei, wo Atatürk den Laizismus durchboxte, und als Produkt des Assimilation in die westlichen Wohlstandsgesellschaften, die ihrerseits umso säkularer werden, desto mehr ihr Wohlstand wächst. Und selbst in Deutschland musste kürzlich die einzige wirklich liberale Moschee aufgrund von Drohungen und mangels Interesse schließen.

Hingegen hat es – mangels einheitlicher Organisation und allgemein anerkannter Autoritäten – im Islam kein zweites vatikanisches Konzil gegeben, keinen synodalen Weg, keine Öffnung selbst durch die höchsten Glaubenskreise. Nicht einmal @Dion wird bestreiten, dass die Kirchen heute sehr viel liberaler sind als noch 1823, 1923 oder selbst 1973. Das liegt natürlich auch daran, dass westliche Gesellschaften individualistischer sind insb. als arabische und zentralasiatische, und auch im Glauben eine Mitbestimmung verlangen, und im Christentum die Rolle der Glaubensgemeinschaft (Urkirche) ohnehin höher ist als v.a. im sunnitischen Islam.

Richtig ist freilich auch, dass der Islamismus ein Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts ist.

Sprechen wir nun aber von "der Aufklärung" im Allgemeinen, so meinen wir meist den Prozess der Rationalisierung in der europäischen Philosophie und Naturwissenschaft seit dem Humanismus und, verstärkt, dem achtzehnten Jahrhundert. Die Schrecken von Faschismus und Kommunismus stehen nur scheinbar im Widerspruch zum Faktum und dem Erfolg der Aufklärung, sondern sind krasse Auswüchse der in ihr ausgefochtenen Konflikte. Rassenlehre, Sozialdarwinismus und die Abwertung des Individuums zur Verfügungsmasse des Kollektivs sind durchaus in sich rational, wenn man die widerwärtigen Ziele ihre Verfechter teilt: eiskalt rational. Der Totalitarismus ist pervertierte Aufklärung ohne Moral. Nicht von ungefähr beruft er sich auf (angebliche) Naturgesetze und offenkundige Grundwahrheiten, und nicht umsonst stand er stets auf Kriegsfuß mit der Religion.
 
Sprechen wir nun aber von "der Aufklärung" im Allgemeinen, so meinen wir meist den Prozess der Rationalisierung in der europäischen Philosophie und Naturwissenschaft seit dem Humanismus und, verstärkt, dem achtzehnten Jahrhundert

Nun, ich für meinen Teil verstehe unter "Aufklärung" vor allem einen bestimmten sozialen Habitus und damit ein eher kulturgeschichtliches Phänomen, dessen Wirkmächtigkeit im Hinblick auf große Umbrüche ich für meinen Teil eher bezweifle.

Die Schrecken von Faschismus und Kommunismus stehen nur scheinbar im Widerspruch zum Faktum und dem Erfolg der Aufklärung, sondern sind krasse Auswüchse der in ihr ausgefochtenen Konflikte.
Das kommt darauf an, von welchen Aspekten wir reden.

Ich meine da weniger die politischen Inhalte bestimmter Lehren und Totalitarismen, als viel mehr auch die Formen, in denen sie stattgefunden haben.
Dion möchte Aufklärung ja als eine Bewegung verstanden wissen, die die Macht von Religionen und religiösen Institutionen gebrochen habe.

Das halte ich, wenn ich mir etwa anschaue, was sich im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt, für nicht richtig.

Man muss es gar nicht an den Inhalten totalitärer Systeme festmachen, es reicht eigentlich die religiösen Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen im 19. Jahrhundert annzuschauen, den zur Wende des 20. Jahrhunderts immer populärer werdenden Spiritismus mit seinen esoterischen Auswüchsen etc. etc.

Wenn man sich das 18. und das 19. Jahrhundert anschaut, fällt im religiösen Bereich vor allem auf, dass die althergebrachten Authoritäten innerhalb der etablierten Christlichen Kirchen an Autorität einbüßen, dass geht aber entgegen Dions Vorstellung so überhaupt nicht mit einer allgemeinen Abwendung von Religion und spirituellen Praktiken an sich einher, sondern einfach nur mit einem größeren Pluralismus offizieller und inoffizieller Religionen/Quasireligionen einher und damit eben ein Wechsel der entsprechenden Autoritäten.

Das ändert aber nichts an dem Umstand, dass es religiöse und quasireligiöse Strukturen und damit entsprechend verbundene Autoritäts- und Machtstrukturen gab und das Modell Machtausübung qua religiöser oder quasireligiöser Autorität weiterhin funktionierte, nur dass die Religion dann eben in Teilen nicht mehr das Christentum war, sondern der Sozialdarwinismus, diverse Formen von Sozialutopien, "Theosophische" Gruppierungen etc.
Aber das Modell blieb im noch lange Kern das Gleiche.


Hinsichtlich der Liberalisierung des Christentums und dem Vergleich mit der muslimischen Welt:

Ist die (graduelle, davon wirklich liberal im modernen Sinne zu sein, ist es ja mitunter weit entfernt) Liberalisierung des Christentums tatsächlich Ergebnis von Aufklärung?

Ich würde behaupten, dass die Transformation der christlich geprägten Gesellschaften Europas durch die Industrialisierung und die Veränderung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung da eine weit mächtigere Triebfeder gewesen sein mögen, als die Aufklärung als ideengeschichtliches oder kulturhistorisches Phänomen, weil dadurch die gesellschaftlichen und materiellen Grundlagen, auf der die christliche Religion einmal aufgerichtet worden war ihr Fundament verlor und daher um eine Reform nicht herum kam.

Wenn in weiten Teilen der muslimisch geprägten Welt eine entsprechende Liberalisierung nicht stattgefunden hat, würde ich eher fehlende Industrialisierung als Transformator der materiellen Grundlagen der Gesellschaft als Ursache betrachten, als fehlende Aufklärung.
 
Säkulare Muslime gibt es fast nur in der Türkei, wo Atatürk den Laizismus durchboxte, und als Produkt des Assimilation in die westlichen Wohlstandsgesellschaften, die ihrerseits umso säkularer werden, desto mehr ihr Wohlstand wächst.
Wieso gibt es "säkulare Muslime" nur in der Türkei? Ich denke, die gibt es in jedem Land, in dem Muslime leben. Bei einem Aufenthalt im Iran konnte ich feststellen, dass dort sehr viele Muslime sehr säkular denken und sich auch möglichst so verhalten. Sie gehen nicht oder nur selten in die Moschee und beten nicht 3x am Tag. Die Emanzipationsbewegung iranischer Frauen gegen den Kopftuchzwang in der Öffentlichkeit ist ja sogar hier durch die Medien gegangen.

Wenn es um die Verbindung von Staat und Religion geht, ist die natürlich im Iran ausgeprägter als in der Türkei. Dennoch gilt im Iran eine beschränkte Religionsfreiheit. Abgesehen von Bahai (die dort als ketzerische Moslems wahrgenommen werden) können verfassungsgemäss dort Christen, Zoroastrier und auch Juden ihren Glauben leben. Synagogen gibt es, aber die meisten Juden sind nach Israel ausgewandert. Für Moslems kann aber eine Abkehr vom Islam bestraft werden.

In der Türkei hingegen gibt es bspw. mit der Ditib auch eine Verknüpfung von Staat und Religion, die eher durch konservative Denkmuster auffällt. Eine solche Verknüpfung dürfte es in einem rein säkularen Staat eigentlich gar nicht geben.
 
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Nicht einmal @Dion wird bestreiten, dass die Kirchen heute sehr viel liberaler sind als noch 1823, 1923 oder selbst 1973.

Das kann man für Europa so attestieren. In den USA sieht es mit den Evangelikalen mE anders aus.

Nicht von ungefähr beruft er sich auf (angebliche) Naturgesetze und offenkundige Grundwahrheiten, und nicht umsonst stand er stets auf Kriegsfuß mit der Religion.

Naja, die NSdAP hat sich immer als christliche Partei verstanden, und in Spanien waren Franco & die Kirche mWn auch ein Herz und eine Seele.
 
Naja, die NSdAP hat sich immer als christliche Partei verstanden, und in Spanien waren Franco & die Kirche mWn auch ein Herz und eine Seele.
Der Vatikan war der erste Staat, der die Regierung Franco, noch während des Bürgerkrieges als spanische Regierung und Gesprächspartner anerkannte. Das nimmt man linkseitig in Spanien dem Vatikan bis heute übel. Allerdings muss man dazu berücksichtigen, dass in Spanien schon seit längerem ein Kulturkampf herrschte, der sich im Bürgerkrieg auch nicht zum ersten Mal gewaltsam entlud, nur da besonders grausam und die Republik schaffte es nicht, Kirchen und Klöster vor Angriffen zu schützen, nach dem Putsch der Militärs und Falangisten sowieso nicht mehr. Die Kirche musste sich von der Republik angegriffen sehen und war damit automatisch auf der Seite der Nationalen. Das wiederum hat natürlich seine Wurzel darin, dass die Kirche insbesondere in Spanien (fast) immer auf der Seite der Herrschenden gestanden hatte...
Was heute vergessen wird, ist, dass die einzige legale Opposition nach 1939 nominell zwar eine katholische war, dieser aber durchaus Liberale und Linke in ihren Reihen hatte.

Manche Faschismusforscher scheiden den Franquismus vom italienischen Fascismus und dem deutschen Nationalsozialismus, weil er NICHT antikatholisch war, anders als eben der Fascismus und der Nationalsozialismus. Und wenn man den Antikatholizismus als konstituierendes Element des Faschismus sähe, dann wäre der Falangismus nicht einmal faschistisch - eine Sichtweise, die aber wohl mehrheitlich als absurd angesehen werden dürfte und v.a. Francos Weltsicht angesichts des sich abzeichnenden Kriegsendes 1944 wiedergäbe, als Franco gegenüber Newsweek sich vom Faschismus distanzierte. Franco war auch selber nie Mitglied des partido único - der 'einzigen Partei'.

Die NSDAP war eine Partei in einem in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. noch stark christlich geprägtem Land. Dass sie sich aber als christlich verstanden hätte, sehe ich nicht. Rosenberg hat zwar Luther verehrt, aber das Christentum durch eine Religion des Blutes ersetzen wollen. Nun war Rosenberg selbst für Nazis ziemlich abgedreht. Hitler äußert sich in seinen beiden Büchern kaum inhaltlich zum Christentum. Das Christentum war einfach eine Realität, mit der man umgehen musste, als dezidiert/ausdrücklich antichristliche Partei hätte die NSDAP keine Wahlerfolge verbuchen können. Die NSDAP musste also als totalitäre Massenbewegung, als die sie sich verstand, zumindest nach außen hin anschlussfähig für die christliche Mehrheitsbveölkerung sein. Aber Goebbels, selber Katholik und ehem. katholischer Verbandsstudent (aber in den 1920ern wegen ungebührlichen Verhaltens zum Gehen bewegt worden) wollte nach dem Krieg die renitenten katholischen Bauern des Ems- und Münsterlandes als "Wehrbauern" in die aufzusiedelnde Ostgebiete verpflanzen - nicht etwa, weil er dort den Katholizismus fördern wollte, sondern weil er sie als zusammenhängende Gemeinschaften auseinanderreißen wollte. Die Nazis sahen in den katholischen Bauern dieser Regionen ein Hindernis für die Ausbreitung ihrer Ideologie.
Hitler selbst konnte mit Rosenberg und den germanen- und heidentümelnden in seiner Partei wenig anfangen, Hitler war eigentlich ein Fan der antiken Griechen und Römer - zumindest ausgewählter Aspekte.
 
Es stand auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten "Gott mit uns", und es hat Hitler immer wieder gerne "die Vorsehung", den "Allmächtigen" oder auch den "Herrgott" bemüht. Als eine christliche Partei würde ich die NSDAP aber nicht bezeichnen, und sie war so wenig christlich wie sie eine "Arbeiterpartei" war.
 
Es stand auf dem Koppelschloss der deutschen Soldaten "Gott mit uns", und es hat Hitler immer wieder gerne "die Vorsehung", den "Allmächtigen" oder auch den "Herrgott" bemüht. Als eine christliche Partei würde ich die NSDAP aber nicht bezeichnen, und sie war so wenig christlich wie sie eine "Arbeiterpartei" war.
Ja, der Gott der Nazis war ziemlich entkernt. H. sprach auch gerne von "die Vorsehung". Und Nazis, die das Christentum mit dem Rassenantisemitismus harmonisieren wollten versuchten aus Jesus dem Galiläer Jesus den Gallier/Galater zu machen.
 
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Im 25-Punkte-Programm von 1920 (ewars glaub ich) bezeichnet sich die NSdAP selbst christliche Partei. Revidiert wurde das nie. Auch waren viele Parteigrößen inkl Hitler bis zu ihrem Lebensende Mitglieder verschiedener christlicher Kirchen.

Das Christentum war einfach eine Realität, mit der man umgehen musste, als dezidiert/ausdrücklich antichristliche Partei hätte die NSDAP keine Wahlerfolge verbuchen können. Die NSDAP musste also als totalitäre Massenbewegung, als die sie sich verstand, zumindest nach außen hin anschlussfähig für die christliche Mehrheitsbveölkerung sein.

Die NSdAP war schlicht Teil dieser christlichen Mehrheitsbevölkerung, ging aus ihr hervor, und hat sich nie vom Christentum als Religion abgegrenzt. Ich sag ja nicht, dass das ein zentraler Punkt der Ideologie war, aber die Anti-Religiösität seh ich schlicht nicht, oder dass der NS "auf Kriegsfuß mit der Religion stand".

Die marxistische Arbeiterbewegung hat sich großteils dezidiert anti-religiös positioniert. Grad das wurde ihr sowohl von Seiten bürgerlicher als auch faschistischer Parteien vorgehalten, beide sahen sich grad durch deren Atheismus und die Ablehnung der Religion in ihrem Antikommunismus bestätigt.
 
Im 25-Punkte-Programm von 1920 (ewars glaub ich) bezeichnet sich die NSdAP selbst christliche Partei. Revidiert wurde das nie.
Im Programm von 1920 stand manches, was nie revidiert, aber auch nie umgesetzt wurde. Dass das Programm nie geändert wurde, ist damit zu erklären, dass sehr bald der "Wille des Führers" jedes Programm ersetzte. Das Programm wurde quasi eingefroren, es wurde zu einer musealen Reliquie ohne praktische Bedeutung.
Das nebulöse und konfuse "Programm" von 1920 wurde nie geändert*, man hat sich aber auch nie darum gekümmert, es umzusetzen, abgesehen von den Maßnahmen gegen die Juden als primäre Zielscheibe der "Antigefühle".

* Es gab lediglich mal einen "War-nicht-so-gemeint"-Zusatz zu Punkt 17 ("Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinschaftliche Zwecke.") .

Zu den nebulösen Punkten gehörte die Berufung auf ein "positives Christentum", mit dieser Worthülse hat Rosenberg gelegentlich jongliert:

"Das negative und das positive Christentum standen von je im Kampfe und ringen noch erbitterter als früher gerade in unseren Tagen. Das negative pocht auf seine syrisch-etruskische Überlieferung, auf abstrakte Dogmen und altgeheiligte Gebrauche, das positive ruft emeut die Kräfte des nordischen Blutes wach..."​

Das traditionelle Christentum, soweit es auf der Bibel, auf der paulinischen Theologie etc. basiert, wird folgerichtig als "negatives Christentum" zurückgewiesen:

"Die christliche, die alten Lebensformen aufwühlende Strömung erschien dem Pharisäer Saulus vielversprechend und ausnutzbar. Er schloß sich ihr mit plötzlichem Entschluß an und, ausgerüstet mit einem unzähmbaren Fanatismus, predigte er die internationale Weltrevolution gegen das römische Kaiserreich. Seine Lehren bilden bis auf heute trotz aller Rettungsversuche, den jüdischen geistigen Grundstock, gleichsam die talmudistisch-orientalische Seite der römischen, aber auch der lutherischen Kirche. Paulus hat, was man in kirchlichen Kreisen nie zugeben wird, dem unterdrückten national-jüdischen Aufstand die internationale Auswirkung gegeben, dem Rassenchaos der alten Welt den Weg noch weiter geebnet..."​

aber die Anti-Religiösität seh ich schlicht nicht, oder dass der NS "auf Kriegsfuß mit der Religion stand".

Das sahen führende Nationalsozialisten deutlich anders. Etwa Martin Bormann:

"Christentum und Nationalsozialismus sind Erscheinungen, die aus ganz verschiedenen Grundursachen entstanden sind. Beide unterscheiden sich im Grundsätzlichen so stark voneinander, daß es nicht möglich sein wird, eine christliche Lehre zu konstruieren, die von der Ebene der nationalsozialistischen Weltanschauung aus voll bejaht werden könnte, ebenso wie sich die christlichen Glaubensgemeinschaften niemals dazu verstehen können, die Weltanschauung des Nationalsozialismus in vollem Umfange als richtig anzuerkennen. [...] Ich erwähne hier nur die Stellungnahme der christlichen Kirchen zur Rassenfrage, zur Frage der Verhinderung oder Vernichtung unwerten Lebens, ihre Stellungnahme zur Ehe, die sich im Zölibat der Priester sowie in der Duldung und Förderung der Mönchs- und Nonnenorden kundtut, die germanischem Gefühl widersprechende Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariä usw."​
 
Im Programm von 1920 stand manches, was nie revidiert, aber auch nie umgesetzt wurde. Dass das Programm nie geändert wurde, ist damit zu erklären, dass sehr bald der "Wille des Führers" jedes Programm ersetzte. Das Programm wurde quasi eingefroren, es wurde zu einer musealen Reliquie ohne praktische Bedeutung.

Mag sein, aber eine offizielle Haltung der Partei, die gegen sich grundsätzlich gegen Religion richtet, kenn ich gar nicht.

Ist aber interessant, das jedes Fitzelchen als Beweis für die Antireligiösität heran gezogen wird, während jeder Verweis auf eine positive Bezugnahme zur Religion seitens des NS oder seiner Vertreter als nebensächlich beiseite gewischt wird.

Mein erster Einspruch richtet sich gegen die Behauptung, der Totalitarismus sei grundsätzlich feindlich gegenüber jeder Religion eingestellt. Das seh ich immer noch nicht, nicht einmal in Ansätzen.
 
Im 25-Punkte-Programm von 1920 (ewars glaub ich) bezeichnet sich die NSdAP selbst christliche Partei.
Dort ist nur in einem Paragraphen von Konfession die Rede, nämlich das Wucherer gleich welcher Rasse oder Konfession der Todesstrafe anheim fallen sollen.

Mein erster Einspruch richtet sich gegen die Behauptung, der Totalitarismus sei grundsätzlich feindlich gegenüber jeder Religion eingestellt. Das seh ich immer noch nicht, nicht einmal in Ansätzen.
Du hattest geschrieben:

die NSdAP hat sich immer als christliche Partei verstanden
Es mag sein, dass es manch einen gegeben hat, der versucht hat, Nationalsozialismus und Christentum miteinander zu harmonisieren, um nicht mit seinen christlichen Wurzeln brechen zu müssen. Aber die Behauptung, dass die NSDAP sich als christl. Partei verstanden hätte, ist falsch.
 
Dort ist nur in einem Paragraphen von Konfession die Rede, nämlich das Wucherer gleich welcher Rasse oder Konfession der Todesstrafe anheim fallen sollen.

Schau mal in Paragraph 24 rein...

Ist aber interessant, das jedes Fitzelchen als Beweis für die Antireligiösität heran gezogen wird
Dass die Nazi-Ideologie antireligiös war, habe ich so nicht behauptet, sie war gleichermaßen offen für Atheismus, Neopaganismus und völkisch-pseudochristliche Religiosität. Unvereinbar war sie, wie ich schrieb, mit dem traditionellen Christentum, soweit es auf der Bibel, auf der paulinischen Theologie etc. basiert...
 
Okay, I was wrong.


24.png


§ 24 Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, sowiet sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichlkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven CHristentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Gesit in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus und auf der Grundlage:
Gemeinnutz vor Eigennutz.

 
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Dass die Nazi-Ideologie antireligiös war, habe ich so nicht behauptet, sie war gleichermaßen offen für Atheismus, Neopaganismus und völkisch-pseudochristliche Religiosität. Unvereinbar war sie, wie ich schrieb, mit dem traditionellen Christentum, soweit es auf der Bibel, auf der paulinischen Theologie etc. basiert...

Ich habe auch nicht ursprünglich einem deiner Beiträge widersprochen, sondern dem von muck.

Ich werd mich nicht aus dem Fenster lehnen zu entscheiden, was jetzt dem wahren, traditionellen oder eigentlichem Christentum wirklich entspricht und was nicht. Das muss die Christenheit schon unter sich ausmachen. Aber das Gegenteil, die Behauptung, i-wie sei (speziell) der NS ja eine religionsfeindliche, antikirchliche und dem Christentum grundsätzlich entgengestezte Ideologie gewesen, die werd ich nicht unwidersprochen stehen lassen. Nicht solange es brave Kirchensteuerzahler waren, die als KZ-Schergen Freidenker wegen ihres antireligiösen Denkes ermordeten.
 
Nicht solange es brave Kirchensteuerzahler waren, die als KZ-Schergen Freidenker wegen ihres antireligiösen Denkes ermordeten.
Dass in den KZs Freidenker ermordet wurden, das würde ich sofort unterschreiben.
Dass KZ-Schergen ihre Kirchensteuer bezahlten, ist wahrscheinlich, besagt aber wenig über ihre Religiösität. Ich kenne etliche Leute, die Kichensteuer bezahlen, sich als "Heiden" bezeichen und de facto Atheisten/Agonistiker sind (wenn ich zu erklären versuchte "du bist kein Heide, du bist Atheist/Agnostiker" wird das meist nicht verstanden "ich weiß ja wohl selber, was ich am besten bin") Auch 2023 noch, wo es zum guten Ton gehört, keiner Kirche mehr anzugehören. Das war vor 80/90 Jahren anders. Da wurde man schräg angesehen, wenn man austrat.
Dass allerdings KZ-Schergen Menschen wegen "antireligiösen Denkens" ermordeten, das kann man natürlich im Einzelfall nie ausschließen, dürfte aber nicht die Norm gewesen sein. Es sei denn du zählst jeden Mord an einem Marxisten oder Anarchisten als einen Mord wegen antireligiösen Denkens.
Es wurden auch religiöse Menschen in den KZs ermordet. Seien es Zeugen Jehovas ("Bibelforscher"), seien es Menschen, die aufgrund ihrer Religiosität im Widerspruch zum NS standen. Es gab nicht umsonst einen "Pfaffenblock" in Dachau.
Priestern ging es zwar - polnische Geistliche ausgenommen - i.d.R. etwas besser, aber es waren mehrere tausend Geistliche während der NS-Zeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Und bei den Juden war es ab 1941 eh egal, ob die religiös oder antireligiös waren, die wurden fast ausnahmslos ermordet.
 
@Dion dürfte insofern Recht haben, als es im Islam keine Aufklärung im Sinne einer nachhaltigen oder gar globalen religiösen Reform gegeben hat, die auch nur annähernd an die Liberalisierung heranreichen würde, die das Christentum und (in geringerem Maße) das Judentum durchgemacht haben.
Das ist ein Vorwurf, dem man gegenüber dem Islam oft hört. Die Frage ist halt, ob der Islam der klassischen Zeit (Abbasiden-Kalifat) das überhaupt nötig hatte. Manche Islamwissenschaftler gehen eigentlich mehr davon aus, dass die Ambiguitätstoleranz des Islam im Laufe der Jahrhundert und besonders stark im 20. Jhdt. verloren gegangen ist. Und ich erwähnt schon Harari, der bemerkt, dass ein aufgeklärter Londoner jeden Katholiken und gleichzeitig ein aufgeklärter Parisienne (um nicht Pariser zu schreiben) jeden Protestanten auf den Scheiterhaufen gewünscht hätte und Hexen sowieso (ich gebe das aus der Erinnerung wieder, Harari (harari heißt im Übrigen bergig auf hebräisch) hat das sicher anders fomuliert und ist nicht verantwortlich für das, was ich ihm hier unterschiebe ;) )
 
Säkulare Muslime gibt es fast nur in der Türkei, wo Atatürk den Laizismus durchboxte, und als Produkt des Assimilation in die westlichen Wohlstandsgesellschaften, die ihrerseits umso säkularer werden, desto mehr ihr Wohlstand wächst.
Der Laizismus des Atatürk (er hat auch die lateinische Schrift eingeführt) war der Versuch, Türkei nach westlichem Muster zu modernisieren. Denn das osmanische Reich hatte sich aufgrund seiner Struktur schon mehr als 200 Jahre lang unfähig gezeigt, sich von innen heraus zu reformieren. Exemplarisch für diese Unfähigkeit steht der Buchdruck: Es war bis ins 17. Jahrhundert bei Todesstrafe verboten, Bücher mit arabischen Schriftzeichen zu drucken. Erst in der Nachfolge der Napoleon-Expedition in Ägypten, wurde in Kairo eine Druckerei eröffnet.

Wir wissen, dass der Buchdruck wesentlich zur Verbreitung des Wissens und der Ideen im Westen beigetragen und damit letztlich auch die Aufklärung des 18. Jahrhundert ermöglichte. All das fand im osmanischen Reich nicht oder erst 400 Jahren nach der Erfindung des Buchdrucks statt – entsprechend groß war und ist dort der Rückstand in diesen Bereichen: Man kann nicht eine Entwicklung, die bei uns 600 Jahre dauerte (von der Erfindung des Buchdrucks bis heute) innerhalb von 200 Jahren aufholen.

Nicht einmal @Dion wird bestreiten, dass die Kirchen heute sehr viel liberaler sind als noch 1823, 1923 oder selbst 1973.
Wieso sollte ich das bestreiten, schrieb ich doch schon gestern diesen Satz:
Die Kirche wurde so, entgegen der Aussage Jesu, er sei nicht von dieser Welt, genau das: Weltliche Herrscherin – bis die Aufklärung es schaffte, dies sie ins Wanken und letztlich zu Fall zu bringen.
Das bedeutet: Christlichen Kirchen spielen zumindest in (westlichen) Europa kaum noch eine Rolle. Anders sieht es in beiden Amerikas und in Russland aus: Trump wäre ohne Evangelikale nicht Präsident geworden und für Putin und die orthodoxe Kirche gilt das gleiche.

Naja, die NSdAP hat sich immer als christliche Partei verstanden, und in Spanien waren Franco & die Kirche mWn auch ein Herz und eine Seele.
Beides ist wahr. Bei der Machtübernahme durch die Nazis war die Bevölkerung Deutschland zu 95 % christlich oder bekannte sich nur zum christlichen Glauben. Aber von den Grundsätzen der christlichen Ethik war während der 12-jährigen „1000-jährigen“ Reichs in dieser Bevölkerung nicht viel zu sehen. Doch davon haben wir schon zur Genüge geschrieben, unnötig das hier zu wiederholen.
 
Dass allerdings KZ-Schergen Menschen wegen "antireligiösen Denkens" ermordeten, das kann man natürlich im Einzelfall nie ausschließen, dürfte aber nicht die Norm gewesen sein. Es sei denn du zählst jeden Mord an einem Marxisten oder Anarchisten als einen Mord wegen antireligiösen Denkens.

Nein, das traf nicht nur die atheistische Arbeiterbewegung, sondern auch Bürgerliche. Der Freidenkerbund wurde bspw zu Hochverrätern erklärt. Da wurde vielleicht nicht jedes einzelne Mitglied verfolgt, eingesperrt oder umgebracht, aber eine politische Verfolgung war offensichtlich vorhanden, und die konnte nur allzu leicht zu Zuchthaus, KZ und Friedhof führen.

Genau die (zumindest zu großen Teilen) atheistische, kirchenfeindliche Arbeiterbewegung beweist, dass auch in traditionell christlichen Gesellschaften eine Massenbewegung entstehen kann, die sich von Religion, besonders organisierter, scharf abgrenzt. Das hat der deutsche Faschismus nie versucht oder getan (und andere auch nicht, soweit ich weiß, aber da weiß ich auch nicht besonders weit, zugegeben...). Die Vertreter waren überwiegend (zumindest formal) Christen & Kirchenmitglieder, die Partei hat sich mal als christlich definiert und das nie revidiert, die Zusammenarbeit mit den Kirchen war erwünscht, solange die sich nicht gegen die politischen Machthaber & deren Ideologie positionierten.

Ich kann mir nicht helfen, aber Religionsfeindlichkeit sieht für mir anders aus...
 
Die Vertreter waren überwiegend (zumindest formal) Christen & Kirchenmitglieder, die Partei hat sich mal als christlich definiert und das nie revidiert, die Zusammenarbeit mit den Kirchen war erwünscht, solange die sich nicht gegen die politischen Machthaber & deren Ideologie positionierten.

Viele nationalsozialistische Funktionäre traten durchaus aus den christlichen Kirchen aus. 3/4 der Mitglieder des "Großdeutschen Reichstags" von 1943 sollen keiner Konfession mehr angehört haben. Einigen bekannten Parteiführen wie Goebbels soll der Kirchenaustritt von Hitler untersagt worden sein, der ja auch selbst Katholik blieb.

Die Ausgetretenen wurden allerdings ausdrücklich keine Atheisten oder Agnostiker, sondern für sie wurde die neue Kategorie "Gottgläubig" geschaffen, damit sie sich auf Meldebögen etc. nicht als konfessionslos bezeichnen mussten.

Nach der Volkszählung vom März 1939 bezeichneten sich 3,5% der Bevölkerung als "Gottgläubig".

Gottgläubig – Wikipedia
 
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