Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Alles Volk oder das gesamte Volk würde ich anders als Christoph Kähler, nicht als großartigen Unterschied sehen. Ob es alles Volk vor der Antonia oder das gesamte Volk vor der Antonia war, ändert doch nichts.
Da geht es halt um Nuancen. Durch den bestimmten Artikel wird ein Subjekt "Volk" angesprochen, das die Schuld auf sich nimmt - und es ist naheliegend, wenn auch nicht zwingend, dass damit das Volk der Juden gemeint ist. Wenn man das nicht möchte, lässt man den Artikel weg, und es geht eher um eine amorphe Menschenmasse.

Heiko Steuer spricht in seinem "Germanen"-Buch auch nicht von "den" Germanen, sondern von "Germanen", weil er die Vorstellung vermeiden möchte, dass die Volksgruppe ein sich selbst bewusstes Subjekt wie eine Fussballmannschaft oder eine Familie gewesen sei.
 
Aber natürlich ist damit noch nichts über die Intention des Übersetzers gesagt, oder welche Wirkungen er sich zurechnen lassen muss. Ohne das griechische Original zu kennen, getraue ich mich zu sagen, dass die Übersetzung "das ganze Volk" jedenfalls zulässig ist und, genau genommen, auch wertfrei.
Das ist die fragliche Stelle:
καὶ ἀποκριθεὶς πᾶς ὁ λαὸς εἶπεν· τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ’ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν.

Da geht es halt um Nuancen. Durch den bestimmten Artikel wird ein Subjekt "Volk" angesprochen, das die Schuld auf sich nimmt - und es ist naheliegend, wenn auch nicht zwingend, dass damit das Volk der Juden gemeint ist. Wenn man das nicht möchte, lässt man den Artikel weg, und es geht eher um eine amorphe Menschenmasse.
Da ist aber durchaus der Artikel enthalten: πᾶς λαὸς
 
Wie dem auch sei, die Stelle wurde von der Kirche bewusst dafür benutzt, Juden auszugrenzen mit der Begründung, sie seien selbst schuld an ihrem Schicksal.
Ich würde es anders formulieren: In intoleranten Zeiten* sind diese Worte wissentlich oder unwissentlich zum Nachteil der Juden interpretiert worden. Diese Lesart ist im Text angelegt, aber nicht zwingend. Die "neue" Übersetzung ändert daran m.E. nichts, auch wenn Prof. Kähler sich da windet.
Als die missgünstige Interpretation einmal in der Welt war, war sie auch schwer, wieder heraus zu bekommen.

Wie abhängig unser Verständnis von der Übersetzung auch der Sprachentwicklung des Deutschen abhängig ist, wird in demselben Artikel ja auch am Beispiel der Hausfrau demonstriert. Während für Luther die Hausfrau (Frau ist ja auch eigentlich nicht das Pedant zu Mann, das ist ursprünglich Weib, welches pejorisiert und deswegen durch Frau ersetzt wurde, Frau ist eigentlich das Pedant zu (Grund-)Herr) die Gebieterin über die Hauswirtschaft war, ist in unserem heutigen Sprachgebrauch die Hausfrau die keinem eigenen Lohnerwerb nachgehende Ehegattin und Mutter, die ihrem Mann den Rücken freihält und als solche das Ideal der 1950er lebend im 21. Jhdt. immer vom Altersprekariat bedroht.


*und die überdauerten keineswegs die gesamte 2000jährige Kirchengeschichte.
 
Das Beispiel mit dem Sprachwandel, @ElQuijote, ist aber hier nicht das Thema, sondern das:

In intoleranten Zeiten* sind diese Worte wissentlich oder unwissentlich zum Nachteil der Juden interpretiert worden.
(...)
*und die überdauerten keineswegs die gesamte 2000jährige Kirchengeschichte.
Welche Zeiten konkret meinst du, die es in den gesamten 2000-jährigen Kirchengeschichte gut mit Juden meinten?
 
Matthäus 27 schrieb:
καὶ ἀποκριθεὶς πᾶς ὁ λαὸς εἶπεν· τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ’ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν.
In intoleranten Zeiten* sind diese Worte wissentlich oder unwissentlich zum Nachteil der Juden interpretiert worden. Diese Lesart ist im Text angelegt, aber nicht zwingend.

Nun könnte man daraus die Frage entwickeln, ob bereits der Evangelist, den wir unter dem (hebräischen) Namen Matthäus kennen, hier ein antijudaistisches Element einflocht.
Das Problem am Evangelium ist jedoch seine Wirkungsgeschichte. Als religiöser Text war es weit verbreitet wurde immer wieder gelesen und dürfte in Grundzügen zumindest auch dem illiteraten Kirchenvolk bekannt gewesen sein.

Aber wie wördlich darf man solche Stellen nehmen?
Ich will mal eine vergleichbare Stelle aus einer historischen Quelle, die keine vergleichbare religiöse Aufladung hatte, zum Vergleich nehmen. Ibn ʿIḏārī schreibt über ein Ereignis, welches sich 711 oder 712 ereignet haben muss. Das römisch-westgotische (H)Ispale (Sevilla) wehrt sicht gegen die Eroberung durch die Muslime und kaum ist Mūsā ibn Nuṣair mit seinem Heer aus Sevilla abgezogen, bringen die Einwohner Sevillas 80 Muslime (Garnison?) um. Als Mūsā das hört, schickt er seinen Sohn ʿAbd al-ʿAzīz nach Sevilla, der die Stadt erobert wa qatala ahlahā ('und er tötete ihre Leute').
wa qatala ahlaha.png


Man müsste die Stelle also so verstehen, dass Sevilla zu diesem Zeitpunkt ganz ohne EEWW gewesen wäre. Wir werden solche und ähnlich Formulierungen in vielen Quellen finden, weil sich die Verfasser nicht viel dabei gedacht haben, für sie war klar, dass nur die Menge auf dem Platz vor der Antonia gemeint sein konnte bzw. nur die Rädelsführer unter den Sevillanern und nicht die gesamte Bevölkerung (in der Tat bleibt Sevilla auch die nächsten 200 Jahre noch eine stark chrstlich geprägte statt und noch dreieinhalb Jahrhunderte später verliebt sich ein arabischer Emir (und Dichter) hier in eine Christin, die in durch ihre blitzgescheite Dichtkunst beeindruckt hat.
 
Welche Zeiten konkret meinst du, die es in den gesamten 2000-jährigen Kirchengeschichte gut mit Juden meinten?
Du schiebst mir da eine Aussage unter, die ich nicht getätigt habe! Rabulistik ist kein Element einer sachorientierten Diskussion!

Grundsätzlich beachte doch in Zukunft bitte, dass das Spektrum mehr kennt, als nur schwarz und weiß!

Vor dem 11. Jhdt. gibt es de facto - Ausnahme ist die westgotische Gesetzgebung des königs Sisebut - keine Judenverfolgung in Europa. Erst im 11. Jhdt. setzt das ein. D.h. in den ersten 1050 Jahren Kirchengeschichte gab es keine Judenverfolgung. Und diese setzte sich auch nicht durchgängig vom 11. bis ins 20. Jhdt. fort sondern kam und ging in Wellen. Und als in Europa die Intoleranz auf dem Vormarsch war, erblühte das katholische Polen in Toleranz (erst der Große Nordische Krieg, als Schweden (Protestanten) und Russland (Orthodoxe) Polen überfielen, machte das katholische Element zum bestimmenden und die bis dato toleranten Polen wurden intolerant). Harari meint sogar, dass ausgerechnet die Zeit der Aufklärung die Zeit der größten Intoleranz in Europa gewesen sei.
 
Das Problem am Evangelium ist jedoch seine Wirkungsgeschichte. Als religiöser Text war es weit verbreitet wurde immer wieder gelesen und dürfte in Grundzügen zumindest auch dem illiteraten Kirchenvolk bekannt gewesen sein.
Da ist auch meine Meinung.

Vor dem 11. Jhdt. gibt es de facto - Ausnahme ist die westgotische Gesetzgebung des königs Sisebut - keine Judenverfolgung in Europa.
Ich habe auch nicht von Judenverfolgung gesprochen, sondern von Ausgrenzung. Und ausgegrenzt waren sie: Sie lebten als Schutzbefohlene des römischen Kaisers, wofür sie Schutzgelder zahlen mussten. Und das setzte sich fort mit Karl dem Großen und seinen Nachfolgern - selbst die Begründung war eine ähnliche: Sie erkannten den jeweiligen römischen Kaiser - wie später auch Jesus - nicht als Gott an.

Abgesehen davon: So haben wir z.B. schon über die Einflussnahme des Ambrosius von Mailand auf den Kaiser Theodosius gesprochen, als ein vom Bischof aufgehetzter Mob eine Synagoge niederbrannte – ich weiß jetzt nicht mehr, in welchem Faden das war (und will die Diskussion nicht noch einmal führen), doch den Konflikt kann man hier nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Ambro...auf_Kaiser_Theodosius_I._zugunsten_der_Kirche

Mit Ambrosius zeigte sich zum ersten Mal die Macht der Kirche.
 
Nur geht es in der Kallinikon-Episode überhaupt nicht um die Stelle aus dem Matthäus-Evangelium und deren langfristige Wirkung, worüber wir diskutierten.

Ohne Ambrosius' Kaltschnäuzigkeit verteidigen zu wollen: Der sagt überhaupt nichts über die Schuld der Christen an den Ausschreitungen in Kallinikon - zumindest nicht direkte - sondern ihm geht es vor allem um die Wirkung, wenn Christen jetzt den Bau einer Synagoge bezahlten und spricht in diesem Sinne konkret von einer Inschrift, welche die Juden anbringen würden, welche den Sieg des Judentums über das Christentum preisen würde. Das ist natürlich eine Unterstellung und angesichts der uns überlieferten Fakten - wie ich oben schon schrieb - unverschämzt kaltschnäuzig. Aber in einem Punkt hatte Ambrosius Recht: Zumindest hätte Theodosius auch den Bischof als Hauptbeschuldigten anhören müssen, bevor er reagierte. Denn das scheint ja nicht geschehen zu sein, zumindest wirft Ambrosius das dem Kaiser als seinem Adressaten vor. Wobei natürlich - um der Q-Kritik Genüge zu tun - auch zu fragen ist, wie dieser vom Absender Brief behandelt wurde. Auch die Antike kannte schon den offenen Brief, der sich natürlich nicht an den offen expliziten Adressaten richtete, sondern an das Publikum als impliziten Adressaten.
 
Das ist natürlich eine Unterstellung und angesichts der uns überlieferten Fakten - wie ich oben schon schrieb - unverschämzt kaltschnäuzig.
Ja, das sind so Unterstellungen, die gebracht wurden und werden, um in Ambrosius nicht als den Machtpolitiker zu sehen, der er war: Diese Episode mit Theodosius und Synagogenbrand war nicht die einzige, in dem der Kaiser den kürzeren zog: Er scheute sich z.B. nicht, dem Kaiser die Absolution zu verweigern, drohte ihm gar mit Exkommunikation, bis er seinen Willen bekam. Der Grund war der Massaker von Thessaloniki.
 
Das ist natürlich eine Unterstellung und angesichts der uns überlieferten Fakten - wie ich oben schon schrieb - unverschämt kaltschnäuzig.
Ja, das sind so Unterstellungen, die gebracht wurden und werden, um in Ambrosius nicht als den Machtpolitiker zu sehen, der er war:
????
Ich verstehe deinen Satz nicht.
Aber ich habe auch den Eindruck, dass du meinen nicht verstanden hast.
Dass die Juden eine Inschrift an die von Christen wiederaufgebaute Synagoge anbringen würden, das war eine kaltschnäuzige Unterstellung. Von Ambrosius. Wie da jetzt hineinkommen soll, "um in Ambrosius nicht [den] Machtpolitiker zu sehen, der er war", ist mir nicht ganz verständlich.

Diese Episode mit Theodosius und Synagogenbrand war nicht die einzige, in dem der Kaiser den kürzeren zog: Er scheute sich z.B. nicht, dem Kaiser die Absolution zu verweigern, drohte ihm gar mit Exkommunikation, bis er seinen Willen bekam. Der Grund war der Massaker von Thessaloniki.
Du tust so, als habe Ambrosius in diesem Zusammenhang etwas falsch gemacht. Angeblich sollen die kaiserlichen Truppen - ob auf Befehl oder Billigung Theodosius ist umstritten - innert drei Stunden 7.000 Menschen umgebracht haben. Ambrosius exkommunizierte ihn hieraufhin (für acht Monate, dann hatte der Kaiser Abbitte geleistet). Was wirfst du Ambrosius in Bezug auf dieses Ereignis eigentlich vor?
 
Im von Dion verlinkten Chrismon-Artikel steht was dazu:
Oha, da habe ich den dritten Link übersehen - Schande über mein Haupt!

Da geht es halt um Nuancen. Durch den bestimmten Artikel wird ein Subjekt "Volk" angesprochen, das die Schuld auf sich nimmt - und es ist naheliegend, wenn auch nicht zwingend, dass damit das Volk der Juden gemeint ist.

Wenn man die Stelle im Zusammenhang liest, ist das eigentlich nicht naheliegend. Wer würde voraussetzen, dass das "ganze Volk der Juden" hier anwesend ist?

Zumal in diesem Zusammenhang der Bibel-Übersetzung ohnhin klar sein muss, dass es sich wenn überhaupt nur auf die vor Ort Anwesenden beziehen konnte.

Ich sehe da schon einen gewissen Interpretationsspielraum. Dass es dem Leser klar sein sollte, heißt nicht, dass es ihm klar wird, oder dass man den Satz nicht absichtlich missverstehen könnte.
Wer eine Stelle absichtlich missverstehen will, dem hilft die beste Übersetzung nichts.

Ohne das griechische Original zu kennen, getraue ich mich zu sagen, dass die Übersetzung "das ganze Volk" jedenfalls zulässig ist und, genau genommen, auch wertfrei.

Im Original heißt es πᾶς ὁ λαὸς, die normale Übersetzung in gängiges Deutsch wäre "das ganze Volk". Andere Wendungen wie "all das Volk" oder "alles Volk" klingen halt etwas antiquiert und gekünstelt.

In den Versen zuvor ist von ὄχλος die Rede, das lässt sich als 'Volksmenge', 'Menschenmenge', 'Scharen' übersetzen.
 
Wenn man die Stelle im Zusammenhang liest, ist das eigentlich nicht naheliegend. Wer würde voraussetzen, dass das "ganze Volk der Juden" hier anwesend ist?

Ich denke, es ist schon naheliegend, dass manche zeitgenössischen Leser, vermutlich einige oder etliche Jahre nach der Eroberung Jerusalems durch Titus, dachten oder auch denken sollten: Tatsächlich ist auf die Juden, oder auf die Einwohner von Jerusalem und deren Kinder, Jesu Blut gekommen! An anderen Stellen gibt es ja im Neuen Testament recht deutliche vaticinia ex eventu.
Es ist vielleicht auch kein Zufall, dass Matthäus gerade hier nicht von ὄχλος, einer Menschenmenge, spricht, sondern von λαὸς, von dem Volk.
Vorstellungen von Kollektivschuld gab es damals, und es gibt sie heute auch noch.
 
Ich habe auch nicht von Judenverfolgung gesprochen, sondern von Ausgrenzung. Und ausgegrenzt waren sie: Sie lebten als Schutzbefohlene des römischen Kaisers, wofür sie Schutzgelder zahlen mussten. Und das setzte sich fort mit Karl dem Großen und seinen Nachfolgern - selbst die Begründung war eine ähnliche: Sie erkannten den jeweiligen römischen Kaiser - wie später auch Jesus - nicht als Gott an.

Mit Verlaub: Was genau hat nun die Kirche mit dem Verhältnis zwischen den Juden und den weltlichen Landesherren des Mittelalters und den entsprechenden Abgabenpraktiken zu tun (ausnehmlich gegebenenfalls in Gebieten in denen geistliche Fürsten zeitglich auch weltliche Landesherren waren?)?

Das war eine Möglichkeit für die weltlichen Landesherren, die sie nutzten um ihre Einnehmen zu erhöhren, nur welches Interesse hatte die Kirche daran, der das in der Regel nicht zugute kam?

Davon ab, dass Juden ja nicht die einzige religiöse Minderheit waren, die nur gegen de facto Schutzgeldzahlungen und unter diskriminierenden Bedingungen geduldet wurde, das betraf ja z.B. zeitweise auch die "Mudéjares" auf der iberischen Halbinsel, bevor sich nach der Eroberung Granadas die Politik der kastilischen und aragonesischen Krone in Richtung Zwangstaufen und Vertreibungen wand.

Nun ließen sich Diskriminierungen von Muslimen einmal definitiv nicht mit dem angeblichen "Jesusmord", angeblicher Zustimmung dazu und entsprechend interpretierbaren Bibelstellen rechtfertigen, Muslime kannten die Evangelisten und kannte die Bibel noch nicht.
Was für deren teilweise Ausgrenzung und Diskriminierung durch zusätzliche Abgaben, verwehren von bestimmten gesellschaftlichen Positionen etc. allerdings offensichtlich kein Hindernis darstellte.

Wenn das also auch völlig ohne einschlägige Bibelstellen möglich war, wäre hier zu fragen, welche tatsächliche praktische Wirkmächtigkeit man diesen Bibelstellen und ihrer Interpretation denn überhaupt zuschreiben wird können, was die praktische Politik angeht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber ich habe auch den Eindruck, dass du meinen nicht verstanden hast.
Ja, das habe ich missverstanden. Sorry.

Was ich mit meinem Beitrag sagen wollte und auch sagte: Ambrosius schaffte mit der Verweigerung der Kommunion (Fall Kallinikon) und der Androhung der Exkommunion (Fall Thessaloniki) gegenüber dem römischen Kaiser Präzedenzfälle für "Behandlung" von weltlichen Herrschern, die später auch praktiziert wurden – Gang nach Canossa war nur ein besonders krasses Beispiel.

Ambrosius schaffte es auf diese Weise die Religion über das weltliche Recht zu stellen. Die Kirche wurde so, entgegen der Aussage Jesu, er sei nicht von dieser Welt, genau das: Weltliche Herrscherin – bis die Aufklärung es schaffte, dies sie ins Wanken und letztlich zu Fall zu bringen.

In Islam, dem bis heute eine Aufklärung fehlt, stehen deswegen religiöse Führer immer noch über den weltlichen, die dann tun, was jene für richtig halten – siehe Iran.
 
Ambrosius schaffte es auf diese Weise die Religion über das weltliche Recht zu stellen. Die Kirche wurde so, entgegen der Aussage Jesu, er sei nicht von dieser Welt, genau das: Weltliche Herrscherin – bis die Aufklärung es schaffte, dies sie ins Wanken und letztlich zu Fall zu bringen.

Nur das diese Vorstellung nichts mit den historischen Tatsachen zu tun hat.

Es gab schlicht nie eine dauerhafte Durchsetzung der Kirche gegen die weltliche macht, die eine Suprematie der Kirche und ihrer Funktionsträger dauerhaft begründet oder gefestigt hätte.

Natürlich gab es Episoden, wie diejenige von Canossa, bei denen die politische Gesamtkostellation es einzelnen Päpsten erlaubte punktuell weltliche Herrscher zu demütigen und sich gegen sie durchzusetzen.
Aber das konnte binnen kürzester Zeit kippen.

Ein Gregor VII schafft es 1077 Heinrich IV zum Bußgang nach Canossa zu zwingen, nur ein paar Jahre danach kommt es erneut zum Konflikt, bei dem Heinrich IV. Rom einnimmt, dort einen Gegenpapst installiert während Gregor VII.
1085 als Flüchtling im Exil in Salerno verstirbt.

Diverse Päpste des Früh- und Hochmittelalters sind, de facto ziemlich machtlos und nicht einmal dazu in der Lage Rom und seine nähere Ugebung unumstritten zu beherrschen und vor Aufständen und Anschlägen durch die Stadtbevölkerung oder den römischen Adel sicher zu sein.
Das die Päste nicht umhin kamen, immer wieder die Engelsburg als Zuflucht zu bemühen, kam nicht daher, dass sie irgendeine unantastbare Autorität dargestellt hätten.

Auch die Episode des de facto unter Kuratell der französischen Könige stehenden Papstums in Avignon, zeigt doch recht deutlich, dass die Macht der Kirche ihre Grenzen hatte und faktisch episodenweise deutlich hinter der Macht der weltlichen Potentaten zurückstand.
 
In Islam, dem bis heute eine Aufklärung fehlt, stehen deswegen religiöse Führer immer noch über den weltlichen, die dann tun, was jene für richtig halten – siehe Iran.

Das würde ich schom spätestens für das Osmanische Reich und auch das Mogulreich entschieden bestreiten wollen, die Behauptung, im Islam, bzw. in der muslimischen Welt hätte es nie eine Aufklärung oder den Versuch gegeben dahingehend zu wirken, ist Unsinn.

Im Osmanischen Reich versuchte man bereits im 19. Jahrhundert an die Verhältnisse im christlichen Europa anzuschließen und brachte mit den Tanzimat-Reformen Neuerungen auf den Weg, die in einigen Punken durchaus nachvollzogen, was die europäischen Aufklärer im 17. und 18. jahrhunder postuliert hatten, teilweise gingen sie darüber hinaus.
Von einer dominierenden Macht voraufklärerischer religiöser Anführer konnte da keine Rede sein, spätestens mit der Begründung der modernen Türkei und dem Kemalismus kann davon schon einmal überhaupt keine Rede mehr sein.

Der Umstand, dass es heute in Teilen der muslimischen Welt religiöse Führer gibt, die eine sehr starke Machtposition entwickeln konnten, liegt mit Sicherheit nicht darin begründet, dass Aufklärung im Sinne der europäischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts muslimischen Gesellschaften insgesamt fremd wäre.

Im Übrigen, wenn man sich das 20. Jahrhundert in Europa anschaut, könnte man durchaus die Frage stellen, wie nachhaltige die Folgen der Aufklärung im 17 und 18. Jahrhundert denn tatsächlich waren, denn mit den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, mit dem Ultramonatnismus etc. kommen diverse starke Bindungen an die Religion und neue religiöse Bewegungen erst nach der Aufklärung auf, nicht zu reden davon, was im 20. jahrhundert in Europa alles in einene mehr oder weniger sakrale Sphäre gerückt wird, die mit Aufklärung nichts zu tun hat.
 
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