Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Kannst du, @Sepiola, bitte den ganzen Absatz übersetzen, damit auch ich die Differenz zu der Wikipedia-Übersetzung, die eigentlich diese (Jan Willem Philip Borleffs, Corpus Christianorum SL, 1, 1954, S. 291f., Zitiert nach Schneemelcher S. 195, Orthografie angepasst.) ist, sehen kann.

Hier gibt es noch einen Wikipedia-Artikel mit einer anderen Übersetzung, da wird verteidigen korrekt auf Beispiel bezogen:

Akten des Paulus und der Thekla – Wikipedia
 
Warum das "Beispiel der Thekla" in eckigen Klammern steht, erschließt sich mir nicht, da ist wohl etwas schiefgelaufen. Im lateinischen Text ist es das Beispiel der Thekla, das verteidigt wird.

Zitiert nach Schneemelcher S. 195, Orthografie angepasst.) ist, sehen kann.
Ich habe noch bei Schneemelcher nachgesehen. Die eckigen Klammern erklären sich daraus, dass die Korrektheit der Textüberlieferung diskutiert wird und vorgeschlagen wurde, die Worte exemplum Theclae zu streichen. In diesem Fall hätte Tertullian Thekla überhaupt nicht erwähnt. Die "schiefe" Übersetzung erklärt sich aus dem Bemühen, beide Textvarianten (die überlieferte und die hypothetische) im selben Satz unterzubringen.
 
Wann bekamen denn die verschiedenen Königs- oder Kaiserdynastien im Frühen und Hohen Mittelalter ihre Namen, als Karolinger, Otton en, Salier, Staufer, Habsburger? Vielleicht erst im Rückblick?
Ob sich die Merowinger selber Merowinger nannten, habe ich mich nie gefragt - aber ihre Geschichte zeigt, dass sie ihre dynastischen Verbindungen sehr genau kannten und stets wussten, wen sie davon zu killen hatten :D
Kurzum: in der Wahrung von Herrschafts- und Besitzinteressen handelte der mittelalterliche Adel nicht anders als der frühmittelalterliche, der spätantike, die mächtigen (generationenlangen) "Clans" der germanischen Warlords - daran änderte keine Kirche was.
 
Ob sich die Merowinger selber Merowinger nannten, habe ich mich nie gefragt ...
Ich schon. Denn nachdem ich erfahren hatte, dass die Kreuzfahrer sich selbst nicht so nannten – sie verstanden sich als (bewaffnete) Pilger –, bin ich neugierig auf zeitgenössische Bezeichnungen für Dinge und Ideen, denn ich schreibe, wie einige vielleicht schon wissen, an einem Roman, der im Hochmittelalter spielt.

OT-on: Sagten die Ritter z.B. zu dem Topfhelm, den sie trugen Topfhelm oder haben sie dafür eine andere Bezeichnung benutzt? Ich weiß, Wikipedia nennt hier Helmvaz als die damalige Bezeichnung, aber was das Wort bedeutet, weiß ich nach wie vor nicht. Aber das können wir in einem anderen Faden klären. OT-Off.

Jetzt was anderes. In einem anderen Faden bin ich auf ein Zitat gestoßen, das die Entscheidung des vierten Laterankonzils thematisierte, Juden und Moslems bestimmte Kleidung vorzuschreiben, damit sie von den Christen unterscheidbar würden – hier das Zitat:

Unter Papst Innozenz III. forderte das Vierte Laterankonzil von 1215 Bevölkerungsgruppen wie Juden und Sarazenen (gemeint sind Muslime) zum Tragen eines stigmatisierenden Kennzeichens zu verpflichten. Der Beschluss stellte zur Begründung ausdrücklich fest, dass sie inzwischen in Teilen Europas nicht mehr von Christen zu unterscheiden wären.[23] Diese Forderung richtete sich nicht an die Juden selbst, sondern an die weltliche Macht. Denn nur diese konnte nicht-christlichen Bevölkerungsgruppen Vorschriften machen.[21] Die Art der Kennzeichnung legte das Konzil nicht fest.

In der Regel richteten daraufhin Partikularkonzilien entsprechende Forderungen an ihre Landesherren, in denen oft konkrete Merkmale gefordert wurden. Darunter waren ein spezieller Umhang, der 1295 in Perpignan vorgeschrieben wurde, ein Talar in Aragonien und auch der spitze Judenhut, den etwa die Synode von Breslau 1267 und von Wien[21] im selben Jahr vorschrieben. Auch der „Schwabenspiegel“ verlangte als kaiserliches deutsches Landrecht außerhalb Sachsens ab 1270/75 ausdrücklich den Judenhut als Kennzeichen.[24] Andernorts war es ein gelber Hut, der in Italien im 15. Jahrhundert verpflichtend wurde. Für jüdische Frauen wurden Schleier als Kennzeichen vorgegeben, so etwa in einer päpstlichen Bulle von 1257, und Konzilien von Ravenna 1311 und Köln 1442. 1360 wurde in Rom allen jüdischen Frauen ein roter Rock vorgeschrieben, in Köln mussten sie ab 1404 besonders lange, als Heuken bezeichnete Umhänge, tragen.[20]

Als Strafe wurde das Tragen des Judenhuts im Einzelfall auch nicht-jüdischen Personen auferlegt. Genannt werden Nicht-Juden, die mit Juden eine sexuelle Beziehung eingegangen sind[19], und Wucherer.

Das ist wohl ein klassischer Fall, wie die Kirche ihre Macht ausübte: „Empfehlungen“ an die weltlichen Machthaber auszusprechen oder gar Forderungen zu stellen, wie das z.B. bei den Hexenprozessen der Fall war. Auch beim Bannen von Personen richtete sich die Forderung, die gebannte Person auch in Reichsacht und damit rechtlos zu stellen, an die weltliche Macht. So zumindest im Hoch- und Spätmittelalter.
 
Das ist wohl ein klassischer Fall, wie die Kirche ihre Macht ausübte: „Empfehlungen“ an die weltlichen Machthaber auszusprechen oder gar Forderungen zu stellen, wie das z.B. bei den Hexenprozessen der Fall war.

Inwiefern ist das Einreichen von Eingaben oder die Anregung eigene Beschlüsse zu übernehmen eine Form von Machtausübung?
Es demonstritert am Ende doch eher die Grenzen der eigenen Macht und den Umstand, dass die Kirche das nicht mal eben administrativ verordnen konnte, sondern in diesem Sinne bei den weltlichen machthabern lobbyieren musste.

Auch wird man wegen des unterschiedlichen Rechtsstatus von Christen und Nichtchristen davon ausgehen dürfen, dass grundsätzlich auch die weltlichen Potentaten, denen die Rechtspflege, mitunter auch der landesherrliche Schutz der jüdischen Untertanen oblag und die Bevölkerung, bei der man ein gewisses Abgrennzungsbedürfnis wird voraussetzen könne, solche Vorschläge in Teilen ohnehin offene Türen einrannten, auch ohne dass die Kirche das mühsam hätte durchboxen müssen.

Ich kann darin letztendlich wenig mehr sehen, als einen Vorschlag der bis zu einem gewissen Grad durchaus im Interesse der Adressaten lag.
Darüber hinaus wäre zu hinterfragen, wo entsprechende Verordungen möglicherweise bereits vorher bestanden.


Hexenprozesse und das Verhängen der Reichsacht, wird man beim besten Willen und egal, wie man die Rolle der Kirche dabei im Einzelnen bewerten möchte, nicht als Hineinregieren in den Alltag der Menschen betrachten können.
Hexenprozesse kamen hin und wieder vor, aber durchaus nicht in einer Häufung, dass man sie als alltäglich bezeichnen könnte.
Laut Wiki kam Europa insgesamt auf an die 3.000.000 Hexeprozesse (was mir ziemlich hochgegriffen erscheint) bei 40.000-60.000 Todesurteilen.

Wenn wir grob das 16. und 17. Jahrhundert als Hochzeit der Hexenverfolgungen annehmen, sind das vor allem rund 2 Jahrhunderte wo das stark gehäuft auftrat.

Das wären bei den postulierten 3.000.000 Prozessen im Mittel 15.000 Prozesse im Jahr in ganz Europa, bei im Schnitt 300 Todesurteilen Europaweit aufs Jahr gerechnet, wenn man den höheren Wert von 60.000 Opfern annimmt und 200, wenn man den unteren Wert annimmt.

Hierbei wird es in bestimmten Krisenjahren hysteriebedingt Häufungen gegeben haben, so das die Zahl in den meisten Jahren noch darunter gelegen haben dürfte, außerdem gab es Regionen in Europa, in denen das Phänomen mehr oder weniger kaum bis gar nicht in Erscheinung trat.

Wer in dieser Zeit auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches lebte wird in seinem Lebenn möglicherweise einige Male im Leben mit Hexenprozessen in der Umgebung konfrontieert gewesen sein, dass aber eher alle paar Jahre mal, als in Form einer ständigen Realität.

Die Reichsacht wurde noch wesentlich seltener verhängt.
 
Um die Existenzberechtigung dieses Fadens wieder einmal zu unterstreichen, bringe ich hier die Kalenderreform des Papstes Gregor XIII. als Beispiel für die Macht der Kirche, auf das Alltagsleben einzuwirken.

Diese Kalenderreform geschah aus vornehmlich innerkirchlichen Überlegungen: Osterdatum, das vom ersten Vollmond nach Frühlingsanfang abhängt, konnte nicht mehr richtig bestimmt werden, weil der astronomische und kalendarische Frühlingsanfang aufgrund der Ungenauigkeit des Julianischen Kalenders immer weiter auseinanderliefen – im Jahr der Kalenderreform 1582 fiel der Frühlingsanfang bereits auf den 11. März und nicht auf den 23. März wie zur Zeit Julius Cäsars oder auf den 21. März wie zur Zeit des ersten Konzils von Nicäa im Jahr 325, wo die Berechnung des Osterdatums festgelegt oder empfohlen wurde.

Die katholischen Länder Italien, Spanien und Portugal übernahmen den neuen Kalender sofort, die meisten anderen „Staaten“ folgten nach wenigen Jahren. Die Orthodoxie tat sich aufgrund des Schismas schwer damit: Gäbe es z.B. die Oktoberrevolution nicht, in Russland würde wahrscheinlioch noch heute der julianische Kalender gelten; stattdessen gilt dieser nur noch für kirchliche Angelegenheiten.
Nach und nach übernahmen auch islamischen bzw. weit entfernten Länder wie China und Japan den Kalender.

Der Gregorianische Kalender war und ist – im Nachhinein betrachtet – ein Segen für die ganze Menschheit. Aber er ist auch ein Beweis für die Macht der Kirche, denn keine andere Macht wäre in jener Zeit dazu in der Lage gewesen.
 
Um die Existenzberechtigung dieses Fadens wieder einmal zu unterstreichen, bringe ich hier die Kalenderreform des Papstes Gregor XIII. als Beispiel für die Macht der Kirche, auf das Alltagsleben einzuwirken.

Und wie genau wirkte sich der Unterschied ob man nun kalendarisch 11., den 23 oder den 21 März schreibt nun ganz konkret auf das Leben der Bevölkerung aus?
Das müsstst du mir ehrlich gesagt mal erläutern.

Wenn morgen beschlossen würde, das heute nicht etwa 5. September, sondern erst der 28. August sei, was würde das in deinem Leben genau verändern, abgesehen davon dass es vielleicht eine Handhabe wäre einmalig Säumnisgebühren bei der Bibliothek zurück zu fordern oder ähnliches?

Die katholischen Länder Italien, Spanien und Portugal übernahmen den neuen Kalender sofort, die meisten anderen „Staaten“ folgten nach wenigen Jahren.

Was im Übrigen der Nachweis dafür ist, dass das nichts mit Macht zu tun hat, sondern einfach nur mit dem Bedürfnis das Kalendersystem zu verbessern und zu harmonisieren, denn wenn es als katholisch-kirchlicher Machtanspruch verstanden worden wäre, hätten sich die Lutheraner, Calvinisten erc. das sicherlich nicht zueigen gemacht, denn das hätte ja Unterwerfung unter römische Lehren bedeutet.

Die Orthodoxie tat sich aufgrund des Schismas schwer damit: Gäbe es z.B. die Oktoberrevolution nicht
Nun, angesichts des Umstands, dass wir nach wie vor von einer "Oktoberrrevolution" sprechen, tun wir uns offensichtlich auch nicht so gaz leicht damit uns in allen Fällen vom julianischen Kalender zu verabschieden, immerhin handelt es sich nach dem gregorianischen Kalender eigentlich um eine Novemberrevolution.

Der Umstand, dass wir nach wie vor aber von einer "Oktoberrevolution" reden, wäre dann der Nachweis des begrennzten Einflusses, der gregorianischen Verordnung sozusagen.;)

Nach und nach übernahmen auch islamischen bzw. weit entfernten Länder wie China und Japan den Kalender.
Den Kalender ja, aber nicht die Zeitrechnung, was wieder mehr oder minder Beleg dafür ist, dass die Vorstellung von der Machtausübung qua Kalender-Verordnung nicht so ganz trägt.


Der Gregorianische Kalender war und ist – im Nachhinein betrachtet – ein Segen für die ganze Menschheit. Aber er ist auch ein Beweis für die Macht der Kirche, denn keine andere Macht wäre in jener Zeit dazu in der Lage gewesen.

Wie würde man nach diesem Paradigma die Erfindung und Einführung der Eisenbahnzeit (deren Auswirkungen auf das Alltagsleben der Betroffenen nebenbei gesagt größer gewesen sein dürften) bewerten?
Immerhin schwangen sich damit die Eisenbahngesellschaften dazu auf den Menschen vor Ort ihre Zeitrechnung und ein Stück weit ihre Lebenstaktung (Arbeitszeiten etc.) zu oktroyieren.
Ist dass dann folglich der Beweis für die ultimative Macht, sagen wir, der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft, über Westfalen und das Rheinland, weil die an ihren Stationen den Menschen ihre Vorstellung von Zeit noch wesentlich präziser diktierte, als es alle Päpste je zusammgen geschafft hätten?

Und wie ist dann die Vereinheitlichung der Zeitzonen in Europa zu deuten? Als revolutionärer Befreiungsschlag der Menschen gegen die unerbittliche Zeit-Diktatur der Köln-Mindener Eisenbahngesellschaft?

Sorry, aber ich finde es wirkt unweigerlich komisch, wenn man das zu Ende denkt.

Ich denke hier sollte man wirklich das Bedürfnis nach einer genaueren Berechnung und Harmonisierung von einem kirchlichen Machtanspruch/Diktat unterscheiden.:)

Aber immerhin, die verschiedenen Ortszeiten und die verschiedenen Zeiten der verschiedenen Eisenbahngesellschaften in den Ländern ermöglichten regelmäßige Zeitreisen.
Und da will mir der Lesch immer erklären, das sowas unmöglich sei.
Da sieht man mal, wozu die Menschen im 19. Jahrhundert in der Lage waren und was wir heute nicht mehr können. ^^
 
Was im Übrigen der Nachweis dafür ist, dass das nichts mit Macht zu tun hat, sondern einfach nur mit dem Bedürfnis das Kalendersystem zu verbessern und zu harmonisieren, denn wenn es als katholisch-kirchlicher Machtanspruch verstanden worden wäre, hätten sich die Lutheraner, Calvinisten erc. das sicherlich nicht zueigen gemacht, denn das hätte ja Unterwerfung unter römische Lehren bedeutet.
Teilweise sperrten sich Lutheraner, Calvinisten etc. gegen den neuen Kalender eben mit dieser Begründung. In den nicht-katholischen Herrschaftsgebieten setzte sich der gregorianische Kalender nur zögerlich durch. In der Schweiz waren lange Zeit "Zeitreisen" von Kanton zu Kanton, von Gemeinde zu Gemeinde möglich; die letzten Gemeinden, die den gregorianischen Kalender übernahmen, waren Schiers und Grüsch in Graubünden - im Jahr 1812!
Kalender
 
Per Zufall gerade diesen Link (von @thanepower am 2. März 2021 gepostet) gesehen: https://www.spiegel.de/geschichte/f...verbot-a-05596e84-1207-4829-9a6c-4d60c1590f3b

Zitat: Über die Moral in Filmen wachten ein Ex-Postminister und ein Jesuitenpfarrer.

Jetzt könnte man natürlich sagen: Das war nicht bei uns, das war in den USA, die waren schon immer so prüde. Das stimmt, aber diese Prüderie korrespondiert mit dem dort praktizierenden Glauben: 75 % der Amerikaner glauben heute, dass die Erde geschaffen, nicht entstanden ist. Mit anderen Worten: Die Bibel ist für sie nach wie vor eine Autorität. Und das gilt für Angehörigen alle Konfessionen und Variationen des sich auf die Bibel berufenden Glaubens.

PS: Als Konsequenz aus Hayes Code war es in Holywood dann üblich, mehrere Versionen eines Films zu produzieren: Eine für den amerikanischen Markt, und eine - in Sachen Sex freiere - für Europa.
 
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Die katholischen Länder Italien, Spanien und Portugal übernahmen den neuen Kalender sofort, die meisten anderen „Staaten“ folgten nach wenigen Jahren.

Eher nach "wenigen Hundert Jahren".

Dänemark-Norwegen führte den Gregorianischen Kalender 1700 ein, Schweden wollte 1712 eine schrittweise Einführung praktizieren, endgültig setzte er sich aber erst 1753 in Schweden durch. Großbritannien und die 13 Kolonien führten 1755 den Gregorianischen Kalender ein. In Alaska wurde erst 1867 eine Kalenderreform durchgeführt, nachdem Alaska von den USA erworben wurde.

Das Kaiserreich Frankreich übernahm 1806 den Gregorianischen Kalender.

Japan 1873 und China 1912. Das Osmanische Reich führte 1917 eine Kalenderreform durch, die 1923 von der türkischen Republik bestätigt wurde. Die Königreiche Griechenland und Rumänien folgten 1923 bzw. 1919. Der Berg Athos hielt am Julianischen Kalender fest.

Ganz interessant fand ich, dass die Schweizer Kantone und die 7 Provinzen der NL eigene Kalenderreformen durchführten. Holland und Seeland führten bereits 1583 den Gregorianischen Kalender ein, Overijssel und Utrecht (Groningen, Friesland und Drenthe erst 1700. Die katholischen Kantone der Schweiz führten eine Kalenderreform 1583-84 ein, die meisten reformierten Kantone 1701. Appenzell aber erst 1798 und die letzten Gemeinden in Graubünden erst 1812.

Gregorianischer Kalender – Wikipedia .
 
Jetzt könnte man natürlich sagen: Das war nicht bei uns, das war in den USA, die waren schon immer so prüde.

Interssanter im Hinblick auf die USA wäre wahrscheinlich die Frage, inwieweit man hier von der Einflussnahme tatsächlich organisierter Kirchen im europäischen Verständnis reden kann, bedenkt man den Einfluss von Methodisten und diversen evangelikalen Splittergruppen in den USA, die sicherlich einen gewissen Einfluss auf die Weltsicht ihrer Mitglieder ausbildeten, allerdings doch eher nicht dazu tendierten gesamtgesellschaftliche Organisationsformen auszubilden, in denen Mitgliedschaft mehr oder minder obligatorisch gewesen wäre, wie in Europa bis mehr oder minder ins 19. Jahrhundrt hinein.


Ich würde vom Gefühl her auch sagen, wenn es um tatsächliche Eingriffe in das Leben der Bevölkerung geht sind Europa und Nordamerika (USA/Kanada) wahrscheinlich die falschen Untersuchungsfelder, weil sich die Doktrinen der christlichen Kirchen seit dem früheenn Mittelalter vor allem aus den europäischen Verhältnissen heraus entwickelten und nicht umgekehrt und weil die USA und Kanada bis heute bevölkerungsmäßig von Personengruppen dominiert werden, die aus Europa kamen und sozusagen bereits von Haus aus auf eine Form ds Christentums und dessen Eigenarten geeicht waren, neben dem Umstand, dass die organisiertenn kirchlichen Strukturen aus Europa hier relativ wenig Fuß fassten oder durch historische Ereignisse (amerikanischer Unabhängigkeitskrieg) erschüttert und in Teilen aufgegeben wurden.
Lohnender wäre wahrscheinlich ein Blick auf Lateinamerika, mit seinem wesentlich größeren Anteil an indigener und ursprünglich afrikanischer Bevölkerung, für die Konfrontation mit dem Christentum und seinen Normen neu war und auf deren Alltag es sicherlich einen wesentlich größeren Einfluss gehabt haben mag.
Insofern sich dort die Katholische Kirche mit ihrem universalistischen Anspruch als Träger des Christentums etablierte (im Gegensatz zu den Evangelikalen Splittergruppen in den USA und im anglophonen Teil Kanadas), hatte das hier auch einen ganz anderen Organisationsrahmen.
 
Aus der Tastatur eines Theologen etwas Wahres über die Macht der Kirche(n) - Zitat aus dem aktuellen evangelischen Magazin Chrismon: Was Hass auf Juden mit dem Christentum zu tun hat:

1215 erklärte die Kirche die Juden zu einer ausgegrenzten Gruppe, die durch bestimmte Kleidung erkennbar sein sollte.
Während des ganzen Mittelalters kam es immer wieder zu Pogromen, bei denen viele Juden umgebracht wurden. Einer der vorgeschobenen Gründe war die sogenannte Hostienschändung: Man unterstellte den Juden, dass sie den im Sakrament des Abendmahls gewandelten Leib Christi gestohlen und geschändet hätten. Hier wirkt die Vorstellung von den Juden als Gottesmörder nach, die auch schon im Neuen Testament vorkommt. Im 1. Thessalonicherbrief 2,15 schreibt Paulus, dass die Juden "den Herrn Jesus getötet" hätten.
Ein anderer absurder Vorwurf war, dass die Juden mit dem Teufel im Bunde stünden. Auch dieser Vorwurf hat seine Begründung in der Entstehung des Christentums aus dem Judentum. Da die Juden den "Neuen Bund" nicht anerkannt hätten und aus Gottes Heilsplan herausgefallen seien, hätten sie sich dem Teufel zugewandt.
Im 16. Jahrhundert verfügte der Papst, dass die Juden in abgetrennten Stadtteilen leben mussten. Das war zwar schon vorher oft der Fall, aber nun wurde es zur Regel. Auch der zur gleichen Zeit entstehende Protestantismus war nicht besser.


Außerdem interessant: Die neue revidierte Lutherbibel zeigt einen positiveren Blick auf das Judentum.

Und zugleich zeigt uns dies, wie "dehnbar" Bibelübersetzungen sind - je nach Zeitgeist wurde und wird uns etwas als Gutes oder als Schlechtes dargereicht, damit wir das Richtige lieben oder hassen; Religionen waren und sind Politik unter dem Deckmantel des (unangreifbaren) Glaubens.
 
denn ich schreibe, wie einige vielleicht schon wissen, an einem Roman, der im Hochmittelalter spielt.
Wie weit ist das Projekt gediehen? :)

Kleine Spitze: Ich hoffe, Du flichtst nicht zu viel Kirchenkritik in Dein Werk ein. Viele Autoren machen das heutzutage bei Romanen über die Periode, und es ist fast immer schwer anachronistisch.
 
Könntest Du diese Behauptung mal anhand einer Bibelstelle exemplifizieren?

Im von Dion verlinkten Chrismon-Artikel steht was dazu:

Es ist ein Satz, der in mir jedes Mal Entsetzen wachruft: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Jahrhundertelang diente dieser jüdische Selbstfluch […] als Rechtfertigung für antijüdischen Hass, für Ausschreitungen und Pogrome der Christen. „Die“ Juden, so die Behauptung, hätten den Tod des Jesus von Nazareth gefordert und den römischen Statthalter Pilatus trotz seiner Gewissenszweifel lautstark zur Exekution gedrängt. Sie übernahmen dafür allein die Verantwortung. Aber wer sind „sie“?
[…] Aber viel wichtiger ist ein kurzer Satz, der dem Zitat in der Bibel vorausgeht. „Das ganze Volk“ habe die Worte gerufen. So stand es in der bisherigen Lutherbibel – das ganze Volk gleichsam stellvertretend für das ganze Judentum durch die Jahrhunderte. In diesem Oktober erscheint die revidierte Lutherbibel. Und da hat sich – endlich – etwas Entscheidendes verändert. Jetzt heißt es „alles Volk“. Ein kleiner, aber wichtiger Unterschied.
Mit seiner Formulierung vom „ganzen Volk“ lag Martin Luther, auf den diese Formulierung zurückgeht, einfach falsch. Der Leipziger Theologieprofessor Christoph Kähler, der die Revisionsarbeit der vergangenen Jahre an der Bibel leitete, sagt es so: „‚Alles Volk‘ bedeutet das Volk, das da gerade auf dem Platz steht, und nicht mehr. Wenn alles Volk antwortet, antworten die, die in Jerusalem auf dem Platz stehen. Punkt.“ Die Reichweite ihres Fluches – den gab es tatsächlich – ist also begrenzt. Diese Neuübersetzung ist keine linguistische Spielerei. Sie zeigt vielmehr: „Es geht hier nicht um das jüdische Schicksal in aller Zukunft“, sagt Christoph Kähler. Der Evangelist Matthäus habe keineswegs die Jahrhunderte oder Jahrtausende in den Blick genommen. Und schon gar nicht, so muss man sagen, hat er mit einer blutigen Verfolgungsgeschichte gerechnet.
Die Interpretation, dass es sich ja nur um auf die auf dem Platz anwesenden handele, die von den Pharisäern und Hohepriestern gleichsam herbeigerufen seien, habe ich sicher schon vor 25 Jahren gehört.
Alles Volk oder das gesamte Volk würde ich anders als Christoph Kähler, nicht als großartigen Unterschied sehen. Ob es alles Volk vor der Antonia oder das gesamte Volk vor der Antonia war, ändert doch nichts.
 
Die Interpretation, dass es sich ja nur um auf die auf dem Platz anwesenden handele, die von den Pharisäern und Hohepriestern gleichsam herbeigerufen seien, habe ich sicher schon vor 25 Jahren gehört.
Alles Volk oder das gesamte Volk würde ich anders als Christoph Kähler, nicht als großartigen Unterschied sehen. Ob es alles Volk vor der Antonia oder das gesamte Volk vor der Antonia war, ändert doch nichts.

Zumal in diesem Zusammenhang der Bibel-Übersetzung ohnhin klar sein muss, dass es sich wenn überhaupt nur auf die vor Ort Anwesenden beziehen konnte.
Wie hätten denn räumlich davon entfernt lebende Personen von den Ereignissen, die sich ja nach biblischer Überlieferung in recht schneller Folge abspielten, davon überhaupt Kenntnis bekommen und in diesem Sinne in der Lage sein sollen irgendeine Position zu beziehen?
 
Ich sehe da schon einen gewissen Interpretationsspielraum. Dass es dem Leser klar sein sollte, heißt nicht, dass es ihm klar wird, oder dass man den Satz nicht absichtlich missverstehen könnte.

Mir scheint auch, dass in der jüngeren Vergangenheit, sicherlich unter dem Einfluss nationalistischer Ideen, das Bewusstsein dafür verlorengeht, dass der Begriff "Volk" noch Nebenbedeutungen hat, die nicht auf staatsrechtliche, ethnische oder gar rassische Zugehörigkeit abstellen.

Dieser Unterschied kommt im modernen Englisch noch zur Geltung, wo das ältere "folk" einfach eine irgendwie definierbare Gruppe von Menschen meint (im Unterschied zum Staatsvolk, "people"), im Deutschen aber wohl nur noch in archaischen Begriffen wie "fahrendes Volk". Man könnte Matthäus 27,25 auch mit "Pöbel", "Menschenmasse", "Versammelte" usw. übersetzen.

Streng genommen ist mit der Formulierung "alles Volk" oder "das ganze Volk" nicht einmal gesagt, dass da nur Juden schrien, obwohl der Kontext es nahelegt.

Aber natürlich ist damit noch nichts über die Intention des Übersetzers gesagt, oder welche Wirkungen er sich zurechnen lassen muss. Ohne das griechische Original zu kennen, getraue ich mich zu sagen, dass die Übersetzung "das ganze Volk" jedenfalls zulässig ist und, genau genommen, auch wertfrei.
 
Man könnte Matthäus 27,25 auch mit "Pöbel", "Menschenmasse", "Versammelte" usw. übersetzen.

Wobei "Pöbel" gerade in vormodernen Kontexten dann möglicherweise Sozialkategorien aufmachen würde, die Matthäus in dieser Form sicherlich nicht beabsichtigt hätte, dass hielte ich als Übersetzung, gerade wenn man den Kontext der Übersetzung und die Adressaten bedenkt, für eine noch schlechtere Wahl.

"Versammelte" hätte ggf. das Problem auszudrücken, wer da eigentlich im Einzelnen versammelt war, im Besonderen wenn man annimmt, dass Mattäus damit ausdrücken wollte, dass das in irgendeiner Form der Querschnitt der Bevölkerung gewesen sei.
 
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