Oleg Wischlow ist Historiker an der Akademie der Wissenschaften Russlands schrieb:
Zum Dokument, das als „Schukow-Plan“ bekannt ist und von den Anhängern der Präventivkriegsthese als "sensationeller Beleg" (Werner Maser) für die Absicht Stalins, Deutschland anzugreifen, vorgebracht wird -
Dieses Dokument ist zunächst einmal als ein Entwurf-Papier zu charakterisieren. Es handelt sich um einen handschriftlichen Entwurf der Notiz des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR und des Chefs des Generalstabes der Roten Armee an Stalin über den Plan des strategischen Aufmarsches der Streitkräfte der Sowjetunion für den Fall eines Krieges mit Deutschland und seinen Verbündeten. Das Dokument stammte, wie der Entwurf vom 11. März 1941, aus der Feder des stellvertretenden Chefs der Operativen Hauptverwaltung des Generalstabes der Roten Armee, Wassilewski (damals Generalmajor). Darin war folgender Vorschlag enthalten: "Da Deutschland gegenwärtig sein Heer mit eingerichteten rückwärtigen Diensten mobil hält, kann es uns beim Aufmarsch zuvorkommen und einen Überraschungsschlag führen. Um dies zu verhindern, erachte ich für notwendig, dem deutschen Kommando unter keinen Umständen die Initiative zu überlassen, dem Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und das deutsche Heer in dem Moment anzugreifen, wo es sich im Aufmarsch ist und noch keine Linie aufgebaut und kein Zusammenwirken der Verbände organisiert hat". `
Vorgeschlagen wurde also, dem sich zum Angriff formierenden Gegner beim Aufmarsch zuvorzukommen und ihm einen Präventivschlag zu versetzen, um dem Einbruch vorzubeugen.
Die Tatsache, dass ein solcher Vorschlag zu Papier gebracht wurde, ist, wenn man die komplizierte Situation berücksichtigt, nichts Ungewöhnliches. Zu den Aufgaben eines Generalstabes gehört es nun einmal überall in der Welt, alle denkbaren Szenarien für einen Krieg mit einem wahrscheinlichen Gegner auszuarbeiten. Da bildete die Arbeit des sowjetischen Generalstabes keine Ausnahme. Wichtig dagegen ist, ob derartiges zum politischen Beschluss erhoben wird, der das im Entwurf der Notiz dargelegte Szenario zu einer operativen Handlungsanleitung macht. Generalstäbler stellen lediglich Pläne auf. Der Beschluss über Krieg und Frieden sowie über die Kriegsstrategie wird nicht von ihnen, sondern von der Regierung bzw. vom Staatsoberhaupt gefasst. Erst diese Entscheidung ist historisch relevant. Demgegenüber sagt ein Entwurf-Papier bestenfalls etwas über interne Entscheidungsprozesse aus.
Werner Maser hat diesbezüglich wiederholt erklärt, dass der von Wassilewski aufgestellte Entwurf der Notiz vom Volkskommissar für Verteidigung Timoschenko und vom Chef des Generalstabes Schukow unterzeichnet worden sei. Doch das stimmt nicht. Das Dokument weist keine solche Unterschriften auf. Die Namen "Timoschenko" und "Schukow" sind am Schluss des Textes von der Hand Wassilewskis hinzugefügt worden - zum Zweck der Vorbereitung einer Reinschrift, die von den genannten Personen unterzeichnet werden könnte. Auch die Unterschrift Stalins ist nicht auf dem Dokument. All das zeugt davon, dass das Dokument von niemandem bestätigt worden ist und sein Inhalt folglich nicht zur Ausführung kommen sollte.
Es gibt auch weder direkte noch indirekte Hinweise darauf, dass Timoschenko und Schukow, wie Maser behauptet, dieses Dokument dem Chef der Sowjetregierung vorgelegt hätten. Es enthält keinerlei Anmerkungen, die dies bekräftigen könnten, weder Randnotizen noch Verfügungen von der Hand Stalins (auch Timoschenkos und Schukow). Es stellt sich überhaupt die Frage, ob ein Dokument, wie es uns vorliegt (also als handschriftlicher Text mit einer Fülle von Korrekturen und Einschüben, von denen viele nur mit großer Mühe zu entziffern sind) dem ersten Mann im Staate so vorgelegt werden sollte.
Schließlich verdient Beachtung, dass das Dokument lange Zeit, nämlich bis 1948, im persönlichen Safe Wassilewski gelegen hat (also nicht bei den Papieren Schukows, Timoschenkos oder Stalins, wo man es hätte erwarten dürfen, wenn es auch noch erörtert worden wäre) und von dort ins Archiv gelangt ist. Höchstwahrscheinlich hat dieses Dokument die Räume des Generalstabes nie verlassen. Im besten Falle konnte es als Material für einen mündlichen Vortrag benutzt werden.
Aber auch dies ist unwahrscheinlich. Mitte der 60er Jahre erinnerte sich Schukow während eines Gespräches mit dem Militärhistoriker Anfilov, dass er bei einer Lagebesprechung bei Stalin im Mai 1941 vorsichtig angedeutet hatte, es könnte zweckmäßig sein, einen Präventivschlag dem sich zum Angriff formierenden deutschen Heer zu versetzen und eine begrenzte Operation durchzuführen. Nach Schukows Worten sei die Reaktion Stalins sehr scharf gewesen. Er hätte Schukow und Timoschenko so gut "den Kopf gewaschen", dass sie sich im Weiteren nicht mehr erlaubten, das Gespräch darauf zu bringen. Der zu den Akten gelegte, nicht einmal ins Reine geschriebene, von niemandem unterzeichnete und von niemandem bestätigte Entwurf einer Notiz kann nicht als "Beweis" für die aggressiven Pläne der UdSSR gegenüber Deutschland akzeptiert werden."
Wischlow, Oleg: Zu militärischen Absichten und Plänen der UdSSR im Sommer 1941. In: Babette Quinkert (Hg.): "Wir sind die Herren dieses Landes". Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Hamburg 2002, S.44 – 54, Zitat S.50ff.
*Der Plan ist abgedruckt in: Gerd R. Ueberschär / Lev A. Bezymenskij (Hg.): Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941. Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese. Darmstadt 1998, S.186 - 193