Dokumentiert ist die Darstellung einer Idealgestalt. Bei einer Ode auf Harald Blauzahn, verfasst vom Hofskalden seines Sohnes, würdest du doch sicherlich auch nicht so unreflektiert auf sein Leben schließen, oder?
Dieser Klassifizierung, wenn sie denn zutrifft, kann ich aus verschiedenen Gründen nur geringe Dramatik abgewinnen.
1. Dass Jesus als „Idealgestalt“ porträtiert wird, nimmt ihm a priori nichts von seiner Historizität. Platon zeichnet auch Sokrates in hellstem Lichte, aber dass es die historische Figur Sokrates gab, wissen wir durch z.B. Xenophons nüchterne Darstellung. Wäre Xenophons Werk nicht zufälligerweise erhalten geblieben, hättest du dann auch gesagt, der Sokrates war nicht historisch, weil der Platon ihn so idealisierend darstellt?
2. Apropos Sokrates: Beide Hauptquellen, Platon und Xenophon, schrieben ihre Erinnerungen Jahrzehnte später. Warum wird eigentlich die Historizität Sokrates’ oder zumindest die Authenzitität der Überlieferung nicht annähernd so stark angezweifelt wie die von Jesus?
3. Natürlich ist Jesus als Sohn Gottes als Idealgestalt dargestellt; wie sollte es auch anders sein, wenn er der Sohn Gottes ist? Bevor eingewendet wird, daß dieses Argument zirkulär ist – das Argument, daß er eine „Idealgestalt“ sei, ist es genauso, da es auf der Annahme beruht, daß Jesus bloß Mensch ist.
4. Nochmals: Es geht um einen einheitlichen, konsistenten Maßstab bei der Kritik antiker Quellen. Denn: Die meisten antiken Biographien, angefangen mit den best dokumentierten Personen, den griechischen Philosophen und römischen Kaisern, zeichnen "Idealgestalten" (im positiven oder negativen Licht) und ihre Beschreibungen besitzen einen stark allegorischen Charakter. Eine Kritik der Evangelien ohne eine umfassende Kenntnis darüber, was antike Quellen überhaupt leisten konnten und wollten, bringt uns deshalb nicht sehr weit, denn dazu müssen wir uns zuerst von modernen Vorstellungen verabschieden.
5. Es gibt wohl keine 10-20 Figuren der antiken Geschichte, die besser und zeit- und raumnäher dokumentiert sind, als Jesus. Wer anderer Ansicht ist, warum nicht Namen der Betreffenden und Begründung nennen?
6. Es gibt in der westlichen Tradition keine längere textkritische Tradition als die christliche. Als Beispiel seien die apokryphischen Texte genannt, die meines Wissens bereits in der Spätantike identifiziert wurden. Wo gibt es eine vergleichbar gut fundierte und von den besten Köpfen durchgeführte textkritische Tradition vor der Aufklärung? Welche Textttradition kann eine fast 2000 Jahre alte, kontinuierliche Filterung auf Historisches und Unhistorisches vorweisen?
Kurz: Klar kann die Historizität Jesus anzweifeln, wie man alles anzweifeln kann – aber die RELATIV ausgezeichnete Quellenlage zum Leben Jesu zwingt dabei, den Kritikstandard so hoch anzusetzen, daß dabei auch der größte Rest der antiken Literatur diese Hürde nicht nehmen würde. Solange dies aber nirgendwo geschieht, sehe ich wenig Grund, gerade an Jesus Historizität zu zweifeln.