Ich frage mich, warum damals nicht ähnliche Entwicklungen eingetreten sind wie man sie heute beobachten kann. Heutzutage ist es so, daß vielerorts gerade unter Gebildeten eine Gegenbewegung ins Leben gerufen worden ist, welche sich der Pflege der ererbten Sprachen als Kulturgut verschrieben haben. Warum kamen also nicht Gebildete von damals auf den Gedanken, die ererbten Sprachen als Kulturgut zu preisen und gegenüber dem Latein zu verteidigen?
Du verkennst meiner Ansicht nach ein wenig, daß es gewisse Prinzipien des Sprachwandels gibt, die sich nicht von einzelnen Personen bestimmen lassen. Sprache hat grundlegend etwas mit der sozialen Natur des Menschen zu tun, und der individuelle Gebrauch einer Sprache hängt von strukturellen Vorbedingungen ab; dabei spielen Normierungsprozesse eine Rolle, die zwar auch bewußt manipuliert werden können, wie es zum Beispiel beim Französischen seit Begründung der Akademie Francaise im 17. Jh. der Fall war. - Noch heute erarbeiten ihre Mitarbeiter bestimmte Worte für bestimmte eingebürgerte Fremdworte, die im öffentlichen Sprachgebrauch verwendet werden sollen. -> das bekannteste Beispiel ist "'ordinateur" für den Anglizismus "Computer"
Aber das muß überhaupt nicht heißen, daß jede "explizite" Sprachnormierung auch unbedingt erfolgreich durchgesetzt werden kann.
-> als Beispiel im Deutschen ist die trotz Sprachnorm sich umgangsprachlich durchsetzende Ersetzung der noch vor einiger Zeit nur zulässigen Genetivform durch Dativkonstruktion - oder wie Bastian Sick es so prägnant formuliert hat: "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod"
Was du ansprichst ist ja gewissermaßen Sprachpflege. Um im romanischen "Sprachraum" zu bleiben, wäre ein solches Beispiel, wie du es für wünschenwert hälst, die offizielle Anerkennung des "Rätoromanischen" in der Schweiz. Mir erscheint hier sprachkritisch interessant, daß durch soghafte Sprachnormierung gleichzeitig (diametrale) Prozesse in Gang gesetzt werden, die wiederum zur Vernachlässigung bestimmter Zweige dieser Varietät und als konkurriernd zum Dialekt degradiert gegebenenfalls aussterben.
Ich gebe zu, daß meine Prozessskizze ein wenig spekulativ klingt (was sie vielleicht auch ist - aber ich wollte das Beispiel des "Plattdeutschen" nicht nehmen, weil es auch in einem anderen Thread schon thematisiert wurde), daher will ich noch einmal versuchen, meinen Gedankengang auf die Frage nach der hypothetischen Sprachpflege einer "vorrömischen Sprache" zu beziehen.
Die mir naheliegendste wäre das "Gallische", ich nehme als mehr oder weniger willkürliches Beispiel die Bewohner der Ortschaft Lutetia; der keltische Stamm, der dort gelebt haben soll, wurden Parisii genannt; nach der Eroberung Galliens durch Cesar ließen sich hier auch Römer nieder; wahrscheinlich schon vor dem gallischen Krieg waren wahrscheinlich einige Bewohner (über den Kanal) abgewandert, andere (aus dem Osten) zugewandert; durch den Krieg war die Bevölkerung wahrscheinlich stark dezimiert worden; hinzu kam nicht zuletzt, wenn man den Süden Galliens bereiste, hier schon längst eine Aneignung der lateinischen Sprache (z. B. Narbonnensis) erfolgt war ...
Die römische Herrschaft bot angsichts dieser Situation nun eine gewisse Kontinuität und man eignete sich die lateinische Sprache hier vielleicht als Zweitsprache sehr zügig an, um die Existenz zu sichern und weil es sich auch im Alltag als sehr praktisch erwiesen haben dürfte.
Da aber die Aneignung der Sprache nun in den ersten Generationen zunächst als Zweitsprache auf seiten der Parisier erfolgte, die dort ansässigen Römer gewiß größtenteils Vulgärlatein sprachen, das sich vom klassischen Latein in kleinen Nuancen unterschieden haben dürfte, entwickelte sich dort über Jahrhunderte wohl eine Umgangssprache, die eine Mischung beider Sprachen war, freilich mit starker Dominanz des (Vulgär-)Lateinischen, während das keltische markante Veränderungen in der Aussprache durchsetzte. Zu betonen ist, daß Rom keine offensive Sprachpolitik betrieb und Zweisprachigkeit der Bevölkerung könnte über mehrere Generationen vorgelegen; es waren sogar Vertragsabschlüsse in keltischer Sprache zugelassen!
Einen weiteren Sog zur Romanisierung könnte schließlich die Verleihung des römischen Bürgerrechts an alle freien Bewohner des Römischen Reiches bewirkt haben und in manchen Kreisen vielleicht die bald einsetzende Christianisierung.
Wie dem auch sei, bezeichnenderweise hielt sich dieses modifizierte Vulgärlatein auch noch, als "Germanen" während der späten Kaiserzeit die Region überranten und später besetzten, weil das Lateinische als offizielle Verkehrssprache trotz möglicher Degeneration (im Vergleich zum "klassischen" Latein) einfach bekannt war und trotz möglicher Einwanderer, die wahrscheinlich auch - zumindest zu gewissen Anteilen - vulgärlateinsische Kenntnisse hatten, vom Gros der Bevölkerung gesprochen und von einigen auch geschrieben wurde.
Um endlich einmal eine klare Antwort zu formulieren: Zunächst gab es keine Notwendigkeit für eine bewußte Sprachpflege des Gallischen, und in einem sehr schleichenden, sozialen Prozess irgendwann wohl auch keine Möglichkeit mehr für die Parisier, die nach viele Generationen ja auch Römer wurden, ihre "ursprüngliche" Sprache zu sprechen, die sich aber - wenn auch jemand die Zeit und Idee gehabt hätte, diese für Nachkommen lehrend zu fixieren - sowieso nicht mehr die Sprache gewesen wäre, die seine Vorfahren gesprochen hatten: Einfach aus dem Grund, weil diese Sprache eigentlich mehr eine "fixe" Idee gewesen wäre.
Es ist richtig, daß Latein heute in den romanischen Sprachen drinsteckt. Trotzdem gab es im mittelalterlichen Latein durch den Einfluß der Muttersprache von Schreibern noch Entwicklungen, weshalb man Latein im Mittelalter und der Frühen Neuzeit durchaus noch als begrenzt lebendige Sprache bezeichnen kann. Durch das starre Schielen auf antike Vorbilder hat das Latein dann seit dem 17. Jahrhundert an Lebendigkeit verloren.
Ich finde es merkwürdig, von einer toten Sprache zu sprechen, wenn sie keine Muttersprachler mehr hat, aber trotzdem noch gebraucht wird.
Ich muß mich aus Zeitgründen jetzt leider sehr kurz fassen: Den Aspekt einer "muttersprachlichen" Kontinuität beim Mittellatein finde ich eine instruktive Überlegung. Siehst du diesen im klösterlichen Umkreis?
Nur mit dem vorletzten letzten Satz sehe ich das Problem, daß eine unterstellte explizite Sprachnormierung (Relatinisierung des Mittellateins) zum "Absterben" des Lateinischen geführt haben sollte.
Haben nicht eher vor allem Normierungstendenzen der einzelnen "Nationalssprachen" seit dem ausgehenden Mittelalter und der Bedeutungsverlust der kirchlichen Tration für die Wissenschaften zur Veränderung des Sprachgebrauchs geführt?
In der Neuzeit wurden schließlich auch andere Sprache zu wissenschaftlichen und politischen Vekehrssprachen.