Julikrise/Kriegsausbruch

Gab es denn in der Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg schon etwas vergleichbar grauenhaftes mit so unendlich viele Opfern und Leid? Natürlich hätte bei rationalen Kalkül die Erkenntnis dämmern können, das der kommende Krieg kein kurzer werden würde; Stichworte China oder Amerikanischer Bürgerkrieg. Aber die ganze Julikrise war eben nicht durch Rationalität geprägt; ganz im Gegenteil!

Wenn das Grauen vorstellbar gewesen sein sollte, dann waren die Verantworltichen, das waren nicht wenige, schlicht Verbrecher an der Menschheit.
 
Angenommen die Kompetenzen wären so unklar gewesen, dass man hätte diesbezüglich nachfragen müssen, dann wäre das ja ein ganz erheblicher Aspekt.
Dies müsste doch auch unvermeidlich die 'Schlafwandler-These' stützen.
Denn: man stelle sich doch nur mal vor, man habe, auf dem Gipfel einer Krise nicht gewusst, wer als geeigneter Verhandlungspartner in Frage kommen könnte.

Die Entwcklung in den letzten Juli-Tagen war "überkomplex", nicht ausreichend transparent und durch gravierende bewußte und technische Kommunikationsmängel beeinträchtigt. Das hatte aber nichts mit "Schlafwandeln" zu tun, da alle wußten, was sie taten und welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, so zumindest Martel in "The Month that changed the World. 2014".

Für den 30.07. hält er fest: "By evening there was confusion everywhere" .....und: "Moreover, no one was quite certain who was undertaking exactly what military measures.".

Und machte am gleichen Tag im Preußischen Staatsrat deutlich, dass sich die Situation stündlich veränderte.

Bethmann gesteht in diesem Gremium in Bezug auf die europäsichen Regierungen ein, "including that of Russia, were peacable themselves, they were losing control of the situation".

Allerdings verloren sie die Kontrolle nicht durch Inaktivität, sondern durch "Hyperaktivität" bzw. durch intendiertes Handeln, wie im Fal von Ö-U gegenüber Serbien.

In der Zwischenzeit am 30.07 bis weit in den 31.07 ergaben sich allerdings reale Chancen zwischen den "vier unbeteiligten" Mächten, sich auf eine Lösung in Richtung "Halt in Belgrad" zu verständigen. Der sich abzeichnende Krieg hätte an diesem Tag deeskaliert werden können. Er war nicht unausweichlich. Es ging in dieser Lösung primär darum, dass sowohl Ö-U seine Satisfaktion erhält, R sein Gesicht als "Schutzmacht" der Slawen seit 1804 wahrt und Serbiens nationale Integrität nicht in Frage gestellt wird.

Und diese Punkte waren am 30.07 relativ konsensual und KW II unterstützte diese Sicht.

Die Entwicklung einer Annäherung zwischen London und Berlin und zwischen St. Petersburg und Wien erschien so lange positiv bis Bethman am Donnerstag (31.07) um ca. 11.20 nachts Tschirschky instruierte, die vorherigen Aktionen zum Bremsen der Aktionen von Berchtold nicht durchzuführen. Was Berchtold und Conrad ohnehin nicht taten, da die Aufmarschplanung der Österreicher eine Besetzung von Belgrad nicht zuließ (vgl. Darstellung bei Otte: July Crisis).

Die Ursache war, dass der deutsche General Stab Bethman davon überzeugt hatte, dass die militärischen Maßnahmen der Russen und der Franzosen sofortige Mobilisierung erfordern würde. Und da haben wir wieder den Einfluss der militärischen Sachzwänge, zusammengefaßt in dem Konstrukt der "Ideologie der Offensive", was eigentlich eher dem Konzept von Taylor entspricht, des "War by Timetable".

Man handelte in diesen letzten Tagen in Berlin deswegen, weil die anderen eventuell schneller hätten handeln können und man befürchtete militärische Nachteile. Und es ergeben sich dabei eine Reihe von "Ungereimtheiten", auf die Copeland hingewiesen hat (The Origins of Major War. S. 56 ff).

Ansonsten hat Bethmann nach dem Krieg festgestellt, dass es im Prinzip ein "Präventivkrieg" war und für Moltke war es "sein Krieg" (vgl.z.B. dazu Hillgruber: Die gescheiterte Großmacht & Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege)

Da ist niemand auch nur eine Sekunde "geschlafwandelt".
 
Zuletzt bearbeitet:
Das denke ich doch schon oder meinst du, das man in Wien nicht wußte, wofür der Generalstabschef, der Reichskanzler und vor allem der Kaiser zuständig waren? Moltke hat ganz deutlich seine Kompetenzen überschritten.

Übrigens war Falkenhayn der wesentlich schlimmere Kriegstreiber.

ich hätts genauer formulieren müssen, mein fehler: Ob sie wussten, dass er gar nicht auhtorisiert war (wenn er es denn nicht war). Wenn er es nicht war, war das ein kalter Staatsstreich in den Krieg.

@hatl nein, keine Scjhlafwandler. Die wussten genau, was sie tun. Bethmann wusste auch (itzungsprotokoll vom 30. abends), dass deutsche Mobilmachung = krieg, während, wie Bethmann sehr genau wusste, dies für die russische eben nicht galt.
 
...
Da ist niemand auch nur eine Sekunde "geschlafwandelt".

Thane,
es übersteigt meine Vorstellungskraft sehr weit, dass "niemand auch nur eine Sekunde 'geschlafwandelt' " habe.
Vielmehr meine ich beobachten zu können, dass auch heute, von Individuen und Gruppen, unbedarft Ziele verfolgt werden, die sich nicht im Einklang mit dem allgemeinen Wohlergehen finden.
Und da stellt sich unvermeidlich die Frage, wie hart ein Versagen abgeurteilt werden soll, und wie schwer eine Schuldfähigkeit wiegen muss. Denn schuld kann ja stets nur der Schuldfähige sein.
So wie nur der Einsichtige gegen die Einsicht handeln kann.
 
Die Entwcklung in den letzten Juli-Tagen war "überkomplex", nicht ausreichend transparent und durch gravierende bewußte und technische Kommunikationsmängel beeinträchtigt. Das hatte aber nichts mit "Schlafwandeln" zu tun, da alle wußten, was sie taten und welche Konsequenzen es nach sich ziehen würde, so zumindest Martel in "The Month that changed the World. 2014".

Für den 30.07. hält er fest: "By evening there was confusion everywhere" .....und: "Moreover, no one was quite certain who was undertaking exactly what military measures.".

Und machte am gleichen Tag im Preußischen Staatsrat deutlich, dass sich die Situation stündlich veränderte.

Bethmann gesteht in diesem Gremium in Bezug auf die europäsichen Regierungen ein, "including that of Russia, were peacable themselves, they were losing control of the situation".

Allerdings verloren sie die Kontrolle nicht durch Inaktivität, sondern durch "Hyperaktivität" bzw. durch intendiertes Handeln, wie im Fal von Ö-U gegenüber Serbien.

In der Zwischenzeit am 30.07 bis weit in den 31.07 ergaben sich allerdings reale Chancen zwischen den "vier unbeteiligten" Mächten, sich auf eine Lösung in Richtung "Halt in Belgrad" zu verständigen. Der sich abzeichnende Krieg hätte an diesem Tag deeskaliert werden können. Er war nicht unausweichlich. Es ging in dieser Lösung primär darum, dass sowohl Ö-U seine Satisfaktion erhält, R sein Gesicht als "Schutzmacht" der Slawen seit 1804 wahrt und Serbiens nationale Integrität nicht in Frage gestellt wird.

Und diese Punkte waren am 30.07 relativ konsensual und KW II unterstützte diese Sicht.

Die Entwicklung einer Annäherung zwischen London und Berlin und zwischen St. Petersburg und Wien erschien so lange positiv bis Bethman am Donnerstag (31.07) um ca. 11.20 nachts Tschirschky instruierte, die vorherigen Aktionen zum Bremsen der Aktionen von Berchtold nicht durchzuführen. Was Berchtold und Conrad ohnehin nicht taten, da die Aufmarschplanung der Österreicher eine Besetzung von Belgrad nicht zuließ (vgl. Darstellung bei Otte: July Crisis).

Die Ursache war, dass der deutsche General Stab Bethman davon überzeugt hatte, dass die militärischen Maßnahmen der Russen und der Franzosen sofortige Mobilisierung erfordern würde. Und da haben wir wieder den Einfluss der militärischen Sachzwänge, zusammengefaßt in dem Konstrukt der "Ideologie der Offensive", was eigentlich eher dem Konzept von Taylor entspricht, des "War by Timetable".

Man handelte in diesen letzten Tagen in Berlin deswegen, weil die anderen eventuell schneller hätten handeln können und man befürchtete militärische Nachteile. Und es ergeben sich dabei eine Reihe von "Ungereimtheiten", auf die Copeland hingewiesen hat (The Origins of Major War. S. 56 ff).

Ansonsten hat Bethmann nach dem Krieg festgestellt, dass es im Prinzip ein "Präventivkrieg" war und für Moltke war es "sein Krieg" (vgl.z.B. dazu Hillgruber: Die gescheiterte Großmacht & Deutschlands Rolle in der Vorgeschichte der beiden Weltkriege)

Da ist niemand auch nur eine Sekunde "geschlafwandelt".


Gute Zusammenfassung, Danke. Kleiner Tipfehler: Anweisung an Tschirschky Vermittlung abzubrechen war am 30. spätabends, nicht am 31.

Und man muss klar sagen, dass Bethmann in der Sitzung 30. abends (eta von 17 bis 19 Uhr) festhält, russische Mob. erzwinge im Gegensatz zur deutschen nicht den Krieg.

ca 21 Uhr - Die Militärs erhalten Zusage morgen 12 Uhr werde Zustand drohender verkündet.

21:30 (also erst danach): erste inoffizielle Mitteilung russische Gesamtmob

später am Abend: Telegram nach Wien, Vermittlung sei abzubrechen.

"Ja...die Militärs" wird Bethmann später sagen. Aber er selber hat ja Krieg im frühen Stadium der Krise als zweitbeste Lösung des (eingeredeten!) Problems gesehen... Also, auch ihm wird ein gewisser Vorsatz nicht abzusprechen sein. Hauptschuld haben natürlich die Militärs, die diesen Krieg seit Jahren wollten, seit Jahren offen davon sprachen, inklusive der offenen Aufforderung an die Politik (durch Moltke im Frühjahr 14), nun müsse die Politik aber mal auf die Auslösung des Krieges hinarbeiten. Und das ist dann eben, Entschuldigung, knallharter Vorsatz und weiter gar nichts. Und s o l c h e kriegslüsternen Militärs gab es dann eben tatsächlich nur in Dtld. Klar, auch Admiral Fisher wollte einen Präventivschlag. Er ist aber sofort von der Politik zurückgepfiffen worden. Genau das passierte in Dtld nicht, und genau deswegen wird man sich über die Hauptverantwortlichkeit zumindest des Militärs Dtlds eigentlich auch nicht sonderlich streiten können - über Bethmanns Rolle werden wir, auch wg fehlender Dokus (sein Nachlaß ist verloren), nie Klarheit erlangen.
 
Und da stellt sich unvermeidlich die Frage, wie hart ein Versagen abgeurteilt werden soll, und wie schwer eine Schuldfähigkeit wiegen muss. Denn schuld kann ja stets nur der Schuldfähige sein.
So wie nur der Einsichtige gegen die Einsicht handeln kann.

Für mich ist niemand der Beteiligten "schuldig". Sie haben vor dem Hintergrund ihrer Überzeugungen als "Kinder" ihrer Zeit agiert. Sie waren Machiavellisten, Sozialdarwinisten und vielleicht auch ein wenig zynisch. Subjektiv haben sie die Interessen ihrer Staaten wahrnehmen wollen, oder dem Druck der "Straße" bzw. der "öffentlichen Medien" nachgegeben. Die massiv in die politische Meinungsbildung interveniert haben, wie beispielsweise in den Beschwerden der Diplomaten im "The French Yellow Book: Diplomatic Documents of 1914." ersichtlich (auch wenn es insgesamt kritisch beurteilt werden muss wie das Pendant von Kautsky).

Ansonsten haben sich andere hier im Forum für die Frage der "Schuld" bzw. der moralischen Bewertung für zuständig erklärt. Und ist nicht mein Thema und einer der Punkte, an dem ich Clark (Sleepwalker) uneingeschränkt in seiner kritischen Sicht auf die "Schuldfrage" zustimmen kann.

Dennoch, Hoyos, um nur ein Beispiel zu nennen, hat nach dem Krieg Selbstmord begangen. Vielleicht hat er verstanden, dass das "Staatsinteresse" bzw. das "Überleben der Ö-U-Monarchie"- wie von Franz Joseph an KW II formuliert (vgl. Martell) - keine ausreichende Legitimation ist, Millionen in die "Stahlgewitter" zu schicken und eine Generation von Witwen zu "produzieren".
 
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@thanepower mir missbehagt der sehr üble Schachzug der Herren Münkler und Neitzel, ihre Gegner als Moralhanseln und Staatsanwälte zu labeln. Es geht erst einmal nicht um Moral, sondern um Ursachen. Später mag man daraus lernen, Schlüsse ziehen, was auch immer...aber um Moral geht es nicht. Mir jedenfalls nicht. Wer war(en?) der (die?) Verursacher, darum geht es. Um Moral geht es Neitzel, wenn er die Neubewertung der Julkrise mit einer neuen politischen Agenda verknüpft - und zwar recht unverhohlen. (@Turgot darum ging es mir in dem verlinkten Neitzel etc-Aufruf: Deutschland müsse sich von seinem "Schuldstolz" befreien, dann sei es auch bereit, Menschenrechtsinterventionen mit Eigeninteresse zu verknüpfen...)
 
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thanepower schrieb:
Die Entwicklung einer Annäherung zwischen London und Berlin und zwischen St. Petersburg und Wien erschien so lange positiv bis Bethman am Donnerstag (31.07) um ca. 11.20 nachts Tschirschky instruierte, die vorherigen Aktionen zum Bremsen der Aktionen von Berchtold nicht durchzuführen. Was Berchtold und Conrad ohnehin nicht taten, da die Aufmarschplanung der Österreicher eine Besetzung von Belgrad nicht zuließ (vgl. Darstellung bei Otte: July Crisis).

Das ist hochinteressant und war mir bisher noch nicht bekannt. In der deutschsprachigen Literatur habe ich diesen überaus wichtigen Hinweis noch nicht finden können. Kanns du mir einen nennen?
 
Um Moral geht es Neitzel, wenn er die Neubewertung der Julkrise mit einer neuen politischen Agenda verknüpft - und zwar recht unverhohlen.

Ich hatte als historischen Vordenker auf Stürmer verwiesen, der das Programm einer "staatsbürgerlichen" Geschichtsschreibung bereits sehr deutlich formuliert hat.

Die Art der Instrumentalisierung von Geschichte ist m.E. zunehmend in aktuelle politische Außenpolitik eingebunden und deswegen kein Thema hier.
Und ich will auch gar nicht an diesem Punkt weiter Polarisieren, da die Positionen eigentlich deutlich sind und deswegen äußere ich mich - vermutlich - nicht weiter dazu.

Das ist hochinteressant und war mir bisher noch nicht bekannt. In der deutschsprachigen Literatur habe ich diesen überaus wichtigen Hinweis noch nicht finden können. Kannst du mir einen nennen?

Es tut mir leid. Die beiden letzten -aktuellen - deutschen Bücher zum Thema, die ich gelesen hatte, Schmidt zu Frankreich und Schröder zur englisch russischen Marinekonvention, sind - soweit ich mich erinere - nicht darauf eingegangen.

Und Hillgruber (und auch Hildebrand, )weil Schröder sich teilweise auf diese bezieht, habe ich es auch nicht gefunden. Ob Fischer, Geiss oder Röhl darauf eingehen weiss ich aktuell nicht.

Die anderen kennst Du vermutlich besser wie ich.
 
Das ist hochinteressant und war mir bisher noch nicht bekannt. In der deutschsprachigen Literatur habe ich diesen überaus wichtigen Hinweis noch nicht finden können. Kanns du mir einen nennen?

Am ehesten kommt Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund, S. 1126 ff, der tagesweisen Darstelung bei Martel nahe.

Röhl arbeitet eher die bellizistische Sicht von KW II und seiner primär militärischen Umgebung heraus. In der fast "tagesweisen" Darstellung bei Röhl kommt aber dennoch auch der rasche Wechsel der politischen Einschätzung durch KW II heraus.

Und es wird bei Röhl zudem deutlich, wie stark KW II, trotz einer durchaus eigenen - wenn auch stärkeren emotionalen Einflüssen unterliegenden - Haltung, wie stark die Familie des Monarchen und seine Umgebung (Militärkabinett etc.) ihn in Potsdam beeinflußt hatte.

Die Möglichkeit zum Kompromiss und zur Vermeidung des Krieges wird bei Röhl aber auch angedeutet.

Es geht erst einmal nicht um Moral, sondern um Ursachen.

Diesem Satz kann ich uneingeschränkt zustimmen. Ergänzt durch die neutrale, objektive und pluralistische Darstellung ohne Ideologisierung der Ergebnisse.
 
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Und diese Punkte waren am 30.07 relativ konsensual und KW II unterstützte diese Sicht.

Die Entwicklung einer Annäherung zwischen London und Berlin und zwischen St. Petersburg und Wien erschien so lange positiv bis Bethman am Donnerstag (31.07) um ca. 11.20 nachts Tschirschky instruierte, die vorherigen Aktionen zum Bremsen der Aktionen von Berchtold nicht durchzuführen. Was Berchtold und Conrad ohnehin nicht taten, da die Aufmarschplanung der Österreicher eine Besetzung von Belgrad nicht zuließ (vgl. Darstellung bei Otte: July Crisis).

Die Ursache war, dass der deutsche General Stab Bethman davon überzeugt hatte, dass die militärischen Maßnahmen der Russen und der Franzosen sofortige Mobilisierung erfordern würde. Und da haben wir wieder den Einfluss der militärischen Sachzwänge, zusammengefaßt in dem Konstrukt der "Ideologie der Offensive", was eigentlich eher dem Konzept von Taylor entspricht, des "War by Timetable".

Der heftig zwischen den Zivilisten und Militärs in Berlin umkämpfte Beschluss über die Frage, Mobilmachung oder erst "drohende Kriegsgefahr" endete Abends am 30.7. mit dem Kompromiss: "drohende Kriegsgefahr" (24 bis 48 Stunden später Mobilmachung) ultimativ am 31.7. Mittags.

Der 31.7. war dann erneut umkämpft: Moltke suchte nach Beweisen für die eintreffenden russischen Meldungen.

Entscheidend waren jedoch die Meldungen aus Belgien (Mombauer), wonach Lüttich besetzt würde und Truppen die Mobilmachung vorbereiteten.

Damit lief an dieser Stelle, in dem oben von thanepower beschriebenen Umfang, die "Uhr ab". Der militärischen Führung war klar, dass der Handstreich gegen Lüttich zur Öffnung des Vormarsches laut Schlieffen-Moltke-Plan im Westen, unter höchsten Zeitdruck geriet. Es war hier weniger die russische Mobilmachung, bei der man problemlos in mehreren Tagen diplomatischer Zeitfenster denken konnte, ohne die deutsche Kriegsstrategie und die Großoperation im Westen zu gefährden.

Der ultimative Zeitpunkt 31.7., 12.00, verstrich für die Militärs, vielmehr "informierte" Wilhelm um 12.00 Moltke, Tirpitz und Falkenhayn über die Lage und verwies auf die Schlüsselrolle für Großbritannien zur Krisenvermittlung. Die Aussicht auf mehrtägig verzögerndes Taktieren dürfte bei der Armeeführung die Fußnägel hochgestellt haben, weil man im Fall des Scheiterns nach eigener Einschätzung die Moltke-Planung in die Tonne hätte geben können, oder zusätzlich zum Ausweichen auf das Gebiet der Niederlande gezwungen wäre. In Militärkreisen wurde berichtet, die Lage würde als "unerträglich" empfunden (Leuckart). Um das zu beenden, versuchte Moltke auf den österr. Militärattachee einzuwirken, dass er Wien mitteilen sollte, er (Moltke) halte den Krieg für unvermeidlich, gegen Serbien sollten bloß nicht zu starke Kräfte eingesetzt werden (Stone: Mobilmachung).

Mittags wirkten Moltke/Falkenhayn wieder auf Bethmann ein (Beweise für russische Mobilmachung hatten sie noch nicht). Das Telegramm der Petersburger Botschaft wurde hereingereicht, Russland mache mobil. Damit war die Sache klar. Wilhelm wurde telefonisch um Ausspruch der "drohenden Kriegsgefahr", nach time table der Aufmarschplanung hatte binnen 24 Stunden die Mobilmachung zu erfolgen. Russland und Frankreich sollte Ultimatum gestellt werden, was den Militärs wegen der Automatismen vermutlich gleichgültig war und den Vormarsch binnen 72 Stunden nicht mehr gefährdete. Der Weg des Telegramms durch die Truppe begann um 13.30, verbunden mit Einberufungen von 900.000 Mann Reservisten (vor der Mobilmachung!) und Übernahme der vollziehenden Gewalt im Bedarfsfall durch die Militärs, Verhängung des Kriegszustandes und Kollaps der Geldmärkte durch Sperre der Reichsbank für Einlösungen gegen Gold.

Wie eindeutig das in Militärkreisen gewertet wurde, berichtete der Bayerische Militärgesandte: "überall strahlende Gesichter, Händeschütteln auf den Gängen". Moltke und Falkenhayn begaben sich zum Kaiser, M. verlas einen Aufruf an die Armee und einen ans Volk. Bethmann äußerte sich erbost über diese Einmischung der Militärs, und geriet darüber in Streit mit dem Kaiser.

15.30 ging es um die beiden ultimativen Telegramme an Russland und Frankreich. Frankreich sollte binnen 18 Stunden seine Neutralität erklären. Für die unerwartbaren Fall, dass dies doch noch geschehen sollte, wurde eine geheime Zusatzforderung vereinbart: als Pfand der Neutralität wurde von den Militärs die Herausgabe der beiden Festungen Toul und Verdun für die Kriegsdauer zu fordern sein. Mal abgesehen von der Praktikabilität konnte man sich mit der Forderung sicher sein, den Schlieffenplan gegen Frankreich ablaufen zu lassen, da dass unannehmbar sein würde. Die Mobilmachung war damit ab Mitternacht 1.8.1914 sicher.
 
Ich bin fündig geworden.

Bei Jansen, Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das deutsche Militär in der Julikrise 1914, findet sich der Hinweis, das Bethman um 23.20 den deutsche Botschafter in Wien anwies, seinen Auftrag nunmehr nicht auszuführen. Als Begründung wird die Mobilmachung Russlands genannt. Moltke betrieb derweil seine Privataußenpolitik; er stand unter den Zwängen des Schlieffenplans unter erheblichen Druck.

Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, weshalb dieser wichtige Hinweis praktisch in allen deutschsprachigen Werken zum Ersten Weltkrieg fehlt? Dabei ist dieser Hinweis in den Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch gut zugänglich.
 
Ich bin fündig geworden.

Bei Jansen, Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das deutsche Militär in der Julikrise 1914, findet sich der Hinweis, das Bethman um 23.20 den deutsche Botschafter in Wien anwies, seinen Auftrag nunmehr nicht auszuführen. Als Begründung wird die Mobilmachung Russlands genannt. Moltke betrieb derweil seine Privataußenpolitik; er stand unter den Zwängen des Schlieffenplans unter erheblichen Druck.

Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, weshalb dieser wichtige Hinweis praktisch in allen deutschsprachigen Werken zum Ersten Weltkrieg fehlt? Dabei ist dieser Hinweis in den Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch gut zugänglich.

Hm, ich will mich nicht streiten, aber das findet sich allerorten, ich selber habe ja mehrfach darauf hingewiesen. Übrigens: Die Militärs haben die Zusage für die Erklärung des Zustands drohender Kriegsgefahr am nächsten Tag 12 Uhr erreicht ohne dass Berlin von der russischen Generalmob wusste. Bethmann gibt übrigens am frühen Abend deutlich zu erkennen, dass er sich im Klaren ist darüber, dass die russische (general)mob im gegensatz zur deutschen nicht zwingend Krieg bedeuten muss.
 
ergänzend: Noch um 21:00 (Telegramausgang) insistiert Bethmann bei Tschirschky, Wien solle annehmen, weil man sonst in eine unhaltbare Situation käme und Russland "schuldfrei" bleibe (wörtlich), Wien und eben auch Berlin also den schwarzen Peter haben. (Geiss-dtv, Dok 143, p. 308)
 
Mit den Zwängen des Schliefenplans ist es auch so eine Sache. Bei seinem Verwandten hätte Moltke d.J. lernen können, dass kein Plan die erste Feindberührung überlebt. Später während der Frankreichkampagne hat er sehr wohl Truppen aus dem Westen herauslösen und nach Osten schicken können - da ging es auf einmal. Seine Suggestion, man könne die Truppen jetzt nicht mehr stoppen, halte ich für fragwürdig. Natürlich kann man die Truppen Gewehr bei Fuß stehen lassen (Frankreich nicht angreifen) und dann langsam umgruppieren. Seibne Behauptung ist nur dann stimmig, wenn ich angreifen will. Dann zählt natürlich jeder Mob.-Tag, aber nur dann.
 
Bei Jansen, Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das deutsche Militär in der Julikrise 1914, findet sich der Hinweis, das Bethman um 23.20 den deutsche Botschafter in Wien anwies, seinen Auftrag nunmehr nicht auszuführen. Als Begründung wird die Mobilmachung Russlands genannt. Moltke betrieb derweil seine Privataußenpolitik; er stand unter den Zwängen des Schlieffenplans unter erheblichen Druck.

Ich stelle mir allen Ernstes die Frage, weshalb dieser wichtige Hinweis praktisch in allen deutschsprachigen Werken zum Ersten Weltkrieg fehlt? Dabei ist dieser Hinweis in den Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch gut zugänglich.

Zumal in diesem Vorgang erkennbar ist, was Du als Versuch des "Zurück nehmen" des Blanko Schecks durch Bethmann bereits ja auch schon zu Recht angesprochen hast.

Allerdings war die Antwort von Berchtold an Sazonow nicht auf der Basis von Verhandlungen auf der Basis von "Halt in Belgrad" formuliert, was ja Grey und KW II angeregt hatten und wo sie beide zugestimmt haben. Sondern verlegte diesen Aspekt in die abschließenden Friedensverhandlungen, ähnlich wie im Fall der italienischen Forderungen, die auch nicht vor, sondern am Ende eines "Krieges" diskutiert werden sollten. Primär Wien wollte Ende Juli Fakten schaffen, ohne Verhandlungen.

Zudem wies Tschirschky, laut Otte (July Crisis), darauf hin, die Anweisungen von Bethmann korrekt ausgeführt zu haben, aber Berchtold und er waren nicht mehr willens oder nicht mehr bereit, die angelaufenen militärischen Maßnahmen der österreichischen Armee zu stoppen.

Die, wie gesagt (laut Otte), nicht auf Belgrad vorrückte, sondern Conrad seine Variante des "Cannae" plante und eine Einkreisung und komplette Vernichtung via "Kesselschlacht" plante.

Ein gesondertes Problem ist die veränderte Beurteilung der Mobilisierung der russischen Armee durch Jagow bzw. durch Bethmann. Anfangs signalisierte man Russalnd, dass eine partielle Mobilisierung durchaus keinen "Bündnisfall" nach sich ziehen würde. Und ging von den Erfahrungen der Mobilisierungen der russischen Armee in den früheren Jahren (wie auch 1913) aus.

Diese Einschätzung wurde plötzlich durch Jagow um den 29.07 / 30.07 gegenüber dem russischen Botschafter korrigiert, der wohl irritiert war.

An diesem Punkt ergibt sich ein weiterer Punkt der fortgesetzten Mißverständnisse und Fehleinschätzungen.
 
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Eine ergänzende Darstellung aus der Tirpitz-Biographie von Kelly:

Tirpitz war an der Sitzung 30.7. beteiligt, und nach Epkenhans Hopmann-Darstellung unterließ er es, die im Mai 1914 geäußerten Bedenken bzgl. einer weiten Blockade in die entscheidenden Gespräche einzubringen. Stattdessen blieb er passiv, anders als im Dezember 1912. Nach Hopmann gab es bei Bethmann keinerlei Illusion, dass Großbritannien außen vor bleiben würde. Rauchensteiner bezeichnet die Erkenntnis als Schock und erklärt damit die "Weltbrandtelegramme". Die Lokalisierungsstrategie war für Bethmann wohl an dem Tag erkennbar gescheitert.

Mehr noch, am Nachmittag diskutierte Tirpitz erneut nur Maßnahmen gegen einen britischen Vorstoß nach Helgoland. Die problematische Blockadesituation kam erneut nicht zur Sprache, und bei der Marine zeigte man sich nicht völlig davon überzeugt, dass es zu einem Krieg mit Großbritannien kommen würde. Man positionierte sich in dieser Situation also nicht gegen Falkenhayn und Moltke, sondern ließ die Dinge laufen und verpasste die Chance. Hier der Text:

"By the next day, 30 July, Bethmann and the Emperor were under extreme pressure from Moltke and Falkenhayn to mobilize, as it was clear that a general Russian mobilization was imminent. In this context Bethmann called a meeting of the Prussian State Ministry where Tirpitz was present. The Chancellor said that the situation had become so grave that he no longer believed that a peaceful solution was possible. Once again Tirpitz passively went along with the army’s idea of preventive war. Afterward Bethmann agreed that the navy could undertake some preliminary security measures. That afternoon Pohl, Behncke, Prinz Heinrich, and Tirpitz met concerning possible operations plans. Tirpitz made the case that, if the British fleet approached Helgoland, the High Seas Fleet should attack it as soon as possible. At this meeting he did not raise the possibility, as he had with Ingenohl in May 1914, of what to do if the Brit- ish did not come. Behncke advocated patience until the newest ships were ready and the reserve fleet fully manned. Even so, the RMA was not completely convinced that the British were not bluffing. In this sense the RMA’s calculations were no more realistic than those of the Chancellor or the Foreign Office."

Den Rest kann man weglassen. Kelly hält noch die Tirpitz-Darstellung für glaubwürdig, dass ihm erst in der Sitzung 1.8. die Tragweite des Schlieffen-Planes bewusst wurde, wegen des Einmarsches in Belgien und den von Falkenhayn und Moltke vorgetragenen Plan-Details sei fest mit einem Krieg mit Großbritannien zu rechnen. Möglw. stimmt das sogar, denn noch am 29.7. in der Krise plante Tirpitz die Rückreise nach St. Blasien.
 
Hier der Text:

"By the next day, 30 July, Bethmann and the Emperor were under extreme pressure from Moltke and Falkenhayn to mobilize, as it was clear that a general Russian mobilization was imminent. In this context Bethmann called a meeting of the Prussian State Ministry where Tirpitz was present. The Chancellor said that the situation had become so grave that he no longer believed that a peaceful solution was possible. Once again Tirpitz passively went along with the army’s idea of preventive war. Afterward Bethmann agreed that the navy could undertake some preliminary security measures. That afternoon Pohl, Behncke, Prinz Heinrich, and Tirpitz met concerning possible operations plans. Tirpitz made the case that, if the British fleet approached Helgoland, the High Seas Fleet should attack it as soon as possible. At this meeting he did not raise the possibility, as he had with Ingenohl in May 1914, of what to do if the Brit- ish did not come. Behncke advocated patience until the newest ships were ready and the reserve fleet fully manned. Even so, the RMA was not completely convinced that the British were not bluffing. In this sense the RMA’s calculations were no more realistic than those of the Chancellor or the Foreign Office."

Kannst Du Bitte den Text übersetzen?
 
Hm, ich will mich nicht streiten, aber das findet sich allerorten, ich selber habe ja mehrfach darauf hingewiesen. Übrigens: Die Militärs haben die Zusage für die Erklärung des Zustands drohender Kriegsgefahr am nächsten Tag 12 Uhr erreicht ohne dass Berlin von der russischen Generalmob wusste. Bethmann gibt übrigens am frühen Abend deutlich zu erkennen, dass er sich im Klaren ist darüber, dass die russische (general)mob im gegensatz zur deutschen nicht zwingend Krieg bedeuten muss.

Dann lass es doch. Allein schon die Vokabel "allerorten" impliziert wohl, das man zu blöde oder einfach nicht ausreichend Literatur zum Thema gelesen hat oder im Regal stehen hat. Mach es einfach eine Nummer kleiner.

Es ging meines Wissens nach um die definitive Bestätigung, also einer gesicherten, der Generalmobilmachung in Russland.
 
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