@silesia konkret geht es mir darum, dass Zimmermann innerhalb eines Tages zwei völlig gegensätzliche Einschätzungen abgibt. "90% europäischer Krieg" versus "wird wohl keinen geben". Das hat nun mit Marine versus Heer nichts zu tun.[1] (Dass für das kontinentale Denken Berlins das Heer wichtiger war, ist natürlich richtig.) ...dass Berlin und auch Wien sich frühzeitig der Möglichkeit eines großen Krieges bewusst waren...und ihn in Kauf nahmen. Ich denke, der Schlussfolgerung "Beide wollten den kleinen Krieg und nahmen den großen in Kauf" wird man sich nur schwer entziehen können. [2] Und da Wien und auch Berlin (letzteres ist etwas unklar; jedenfalls wurde die Vermittlung am 30. abends/nachts abgebrochen und man ließ den Dingen ihren Lauf, dazu die Moltke-Botschaft an Österreich "Deutschland geht unbedingt mit") sich in der letzten Woche jeder Vermittlung sperrten, sehe ich derzeit keine guten Argumente gegen 231 Versailles [3]. Wien und Berlin haben die Krise willentlich und wissentlich eskalieren lassen, wollten definitiv den kleinen Krieg gegen Serbien, verweigerten sich jeder echten Vermittlung und haben Serbien, Russland und Frankreich den Krieg erklärt.
Zu [1]von wem soll hier auf Basis welcher Literatur die Schlussfolgerung des gewollten lokalisierten Krieges ÖU/Serbien unter dem kalkulierten Risiko einer europäischen Eskalation bestritten worden sein? Es wäre besser, auf solche rhetorischen Gegensätze - wie er hier zu meinem Beitrag mit Verlinkung konstruiert wurde - zu verzichten.
Zu [2]
a) Meine linksetzung war in der Sache offenbar vergebens: der Hinweis auf die Marine bezog sich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Krise bei Heer und Marine. Ansatzpunkt war der
von Dir zitierte zitierte Capelle und die "Marineprofis". Hier geht es nicht wie in Deiner Replik angedeutet um einen Unterschied im "kontinentalen Denken", sondern um die Frage der unterschiedlichen Bereitschaft zum Krieg und der Kriegstreiberei.
Wenn also oben "Maßnahmen" der Marine angesprochen wurden, dann sind diese für die Auslegung der Frage der Kriegsvorbereitung zu hinterfragen [siehe Folgebeitrag]. Diese als Beleg für feste Kriegsabsichten "in Berlin" heranzuführen, verkennt den Kontext üblicher Vorbereitungen der Marine bei solchen Krisen. Wenn man Marinequellen heranzieht, um Kriegsbereitschaft zu belegen, ist gerade zu berücksichtigen, dass in der Marine - intern, ohne jede Relevanz für die Einschätzung , und ohne entscheidenden Einfluss auf die Kreise der deutschen Entscheidungsträger - die Krise bereits vor dem 23.7. pessimistischer eingeschätzt wurde als beim Heer. Auf diesen Umstand wollte ich hinweisen, wenn hier Quellen "gegriffen" und für Argumentationslinien verwendet werden sollen. Ich halte auch nichts von freien Ausdeutungen und Zitate-Auftürmen, wenn nicht dazu der Literaturstand herangezogen wird. Das leitet über zum folgenden Beispiel:
b) Zum Fall Zimmermann/Hoyos, und die "wechselnden Einschätzungen".
dass Zimmermann innerhalb eines Tages zwei völlig gegensätzliche Einschätzungen abgibt
- Eine simple Erklärung für die "Unterschiedlichkeit" gibt Angelow, der zwischen internen Einschätzungen einiger Beteiligter (Europäischer Krieg sehr wahrscheinlich) und die geschlossen nach außen vertretene Auffassung der Reichsregierung (Krieg lokalisierbar) unterscheidet (Angelow, Kalkül und Prestige, S. 447).
- Nimmt man es mit der Quellenkritik ernst, ist weiter die Tatsache bedeutsam, dass diese Aussage von Hoyos nach der Katastrophe des Kriegsendes erstellt wurde und aus seinem Nachlass stammt. Damit stellt sich die Frage, ob er hier die eigene Exkulpation betreibt und das Wollen und Wissen Berlins um den Europäischen Krieg betont.
- Nimmt man es weiter ernst mit der Quellenkritik, muss man erstmal einerseits vollständig (*) zitieren, und die andererseits fehlende Zusetzung (**) betonen : "JA (*), 90% Wahrscheinlichkeit für einen Europäischen Krieg, wenn Sie etwas gegen Serbien unternehmen" - und es fehlt die Einschätzung der Auswirkung des Blankoschecks (**), der erst nach dieser Unterredung von Wilhelm ausgesprochen wurde und am Folgetag von Bethmann bestätigt wurde.
* Mombauer, Origins, Dokument 119.
Plausible Erklärungen sind also:
ba) es wurde von Hoyos nach dem Krieg erfunden - die Authentizität ist "unklar" (Otte, July Crisis, S. 79/80)
bb) Zimmermann stimmt impulsiv im ersten Eindruck ("shooting lips" - Otte, S. 80) des Lesens der von Hoyos überbrachten Schreiben zu, insbesondere seinen Erläuterungen zur territorialen Teilen Serbiens zwischen ÖU und Bulgarien (McMeekin, July 1914, zum 5./6. Juli 1914) - oder der "Kraftmensch" Zimmermann (McMeekin) hat sich aufgeplustert wie in der weiteren Aussage: Deutschland sei stark genug mit Russland und Frankreich "fertigzuwerden, auch wenn Österreich voll auf dem Balkan beschäftigt ist" (Hoffmann, Sprung ins Dunkle, S. 195ff.)
bc) er tätigt die Aussage ohne Berücksichtigung zeitnaher deutscher Rückendeckung, sondern sieht einen Eskalationsverlauf auch ohne Blankoscheck, in den dann nach unbd nach durch die Bündnismechanismen alle Großmächte hineingezogen werden - die Alternative zu der sofortigen, abschreckenden Risikopolitik, die Russland vom Eingreifen abhalten soll.
bd) er denkt beim Geplaudere mit seinem Freund Hoyos nicht nach ("may or may not have said" - Otte)
be) er vermischt hier die Dinge mit der internen österreichischen Einschätzung, dass ein Krieg mit Serbien zum Krieg mit Russland führen werde, was sich mit der Jahresdenkschrift 1914 Conrads gegenüber dem Vorjahr 1913 geändert hatte (Rauchensteiner, Ende der Habsburgermonarchie, S. 97).
Ergo: Nach all dem muss man da keinen Widerspruch hineininterpretieren, außer man läßt den Forschungsstand außer Acht und befindet sich in der reinen Zitateschlacht. Schließlich ist das Zimmermann-Zitat sogar für einzelne Autoren irrelevant bzw. allenfalls als Stimmungsbild und nicht als "Kalkül" (Otte, July Crisis, S. 80, der zudem auf die (ebenfalls: Nachkriegs-)Aussage im Nachlass Jagow verweist, Zimmermann "wusste nicht, was er sagt", sofern die Aussage tatsächlich gefallen ist.
Man kann sich auch der eingehenden Analyse und dem Urteil Clarks anschließen, der solche Risikoerwartungen des Europäischen Krieges zwar "im Hintergrund" vermutet, dass sie auch der eigenen Relativierung des Risikos "dienten", dass Entscheidungsträger zu Beginn der Juli-Krise (namentlich Wilhelm und Bethmann) bei Aussprache des Blankoschecks einen Großen Europäischen Krieg weder für überwiegend wahrscheinlich hielten noch ihn provozieren wollten. (Clark, Wilhelm II.).
Röhl zitiert die "90%" von Zimmermann schließlich zusammen mit der Tage späteren Aussage Zimmermann (Graßhoff, Hopman), es käme zum Europäischen Krieg, wenn Russland bei einem Krieg ÖU/Serbien nicht zurückgehalten werden könne, um damit die in der Forschung nicht mehr bestrittene Aussage zu belegen, dass Wilhelm und Bethmann dieses Risiko in ihrem Kalkül einbezogen haben (aber eben relativiert - und wie bei Clark und anderen: kalkulierbar! - gesehen haben).
Zu [3] Die ständigen Bezüge auf Art. 231 VV oder andere Nebenschauplätze aus Sicht des aktuellen Forschungsstandes wie Problematik der Riezler-Tagebücher (was angesichts der Quellenlage in der aktuellen Forschung zur Julikrise keine wesentliche Rolle spielt) sind hier wenig dienlich und führen höchstens zur Zerfaserung der eigentlichen Diskussion über die Julikrise. Vielleicht kann man darauf verzichten. Wenn sich daraus Diskussionsbedarf ergibt, kann man das an anderer Stelle plazieren.
@hatl Offenbar hast Du, im Gegensatz zu mir, Münklers Buch nicht gelesen, sonst wüsstest Du, worauf ich anspiele. [4] Und polemisch war das eigentlich angesichts dieser blamablen Leistungsbilanz des Herrn Münkler gar nicht...*
* für die, die es nicht wissen: ...
juli-kri schrieb:
Und bitte dazu nicht Münkler lesen. Der glaubt ja sogar, Russland habe Deutschland den Krieg erklärt... ;-) (Ja, das ist jetzt Polemik!)
Das ist reine Polemik, und gehört hier nicht hin.
Obwohl ich Münkler im Forum ebenfalls hart kritisiert habe, geht mir so etwas gegen den Strich.
Es ist eine Sache, Münkler die Nichtverwertung von Forschungsstand oder relevanten Quellen oder materielle Fehler vorzuwerfen, hier handelt es sich jedoch maximal um einen überflüssigen und offensichtlichen Flüchtigkeitsfehler oder eine offensichtliche Verdrehung, den man wie Rechtschreibfehler nicht weiter aufblasen muss.
Mit etwas Toleranz lässt sich die Aussage ohne Weiteres sogar als Hinweis auf das Schreiben von Wilhelm interpretieren, mit dem am 31.7. um italienischen Beistand gegen eine russische Aggression gebeten wird, und den wiederum Italien den casus foederis gemäß Artikel 7 unter Hinweis auf die deutsch-österreichische Provokation eines russischen Angriffs zurückweist.
(->siehe auch Mombauer, Origins, Dokumente 335 und 336)
Es geht hier aus dem Kontext von Münkler klar um die Thematik, dass Italien bei der weiteren Kriseneskalation
von einem Verschulden der Mittelmächte ausgeht, die "Defensivklausel" des Vertrages zieht, egal wer den Krieg erklärt, ...
...und eben
nicht um die Frage, wer wem dann anschließend tatsächlich als Erster den Krieg erklärt hat. Und schon gar nicht um die unsinnige Frage, ob Münkler kontrafaktisch glaubt, Russland habe dem DR den Krieg erklärt.
Vor dem Hintergrund halte ich so einen banalen Fehler, der es dem Wortlaut nach sein mag, im Kontext aber leicht verständlich ist, für unangemesses Münkler-Bashing.
Eine berechtigte Münkler-Kritik ist das nicht. Sie würde zB den Nachweis der Nichtverwertung aktuellen Forschungsstandes oder das Übersehen von Quellen benutzen, was wiederum tragend für bestimmte Schlussfolgerungen oder Bewertungen Münklers sein müsste. Es gibt genug bei Münkler zu kritisieren, als das man solche Lapalien ausschlachten müsste.