Nun zeigte man in Frankreich aber mit der Entscheidung für Joffre und gegen Michel, relativ deutlich, dass man an eine weit ausholende Offensive der Deutschen über Flandern und unter Einbeziehung der Reserveformationen in den Vorstoß, nicht glauben wollte.
Heißt man antizipierte von französischer Seite her einen lediglich über die Wallonie schwenkenden Vorstoß Deutschlands in den Rücken der Festungslinie bei Verdun.
m Rahmen eines Meetings durch das französische Außenministerium im Februar 1912 vertrat Joffre in "a long statement" die Auffassung, dass es im Falle eines Krieges mit dem DR höchst vorteilhaft sei in Belgien die "vigorous offensive" vorzutragen.
"Joffre added 'It would be most advantageous if our armies were able under any circumstances to enter Belgian territory south of the line between Namur and Liège'.
... Joffre wanted [1912] to take the offensive and to launch it through Belgium."
[...]
Eine Verletzung der belgischen Neutralität wurde demnach von französischer Seite als entscheidungskritisch für den britischen Partner angesehen
Der Schlussfolgerung, dass von französischer Seite her die Verletzung der Neutralität Belgien als entscheidungskritisch beurteilt wurde, schließe ich mich voll und ganz an. Mich interessiert aber vor allem, auf welcher Grundlage.
Hätte man von französischer Seite her nicht unbedingt auf einen britischen Kriegseintritt bei Verletzung der Neutralität Belgiens gesetzt, wäre die Vorgehensweise der Franzosen gegen das Elsass im Herbst 1914 und der Verzicht darauf sofort hinreichend Truppen an die belgische Grenze zu dislozieren um Namur, Charleroi und möglicherweise Brüssel zu besetzen, bevor die Deutschen Lüttich nehmen können, um so den deutschen Vorstoß auf Ostbelgien zu beschränken, von westen her seine Flanke zu bedrohen und die entscheidenden Eisenbahnknotenpunkte unter Kontrolle zu bringen und die Bahnlinien hinter Lüttich zu unterbrechen um dem Vorstoß das Tempo zu nehmen, extremst fahrlässig gewesen, würde ich meinen.
So lange
"substantial violation" sich in einer weiteren Auslegung auf eine großräumige Verletzung Ost- und Südost-Belgiens bezieht, ist das vom französischen Standpunkt her unproblematisch.
In diesem Fall, konnte Frankreich die britische Garantie der belgischen Neutralität im Kriegsfall mit Deuschland als eine Art impliziten "Blancoschek" für Frankreich verstehen, denn die Westoffensive Deutschlands und die Verletzung der belgischen Neutralität selbst galt ja in den höheren militärischen Kreisen Frankreichs für sicher.
Meint
"substantial violation", wie Stevenson das anführt, lediglich ein deutsches Ausgreifen über die Wallonie hinaus, nach Brüssel und Flandern hinein, da man in Britannien auf keinen Fall die Deutschen am Kanal und im Besitz von Antwerpen, Brügge/Zeebrugge und Ostende, würden die Franzosen von den Britem weit mehr erwartet haben, als diese eigentlich zu versprechen gedachten, zumal man mit der Absetzung Michels und der Einsetzung Joffres seitens Paris, wie angesprochen, ja mindestens intern entschieden hatte, ein deutsches Ausgreifen nach Flandern für unwahrscheinlich halten zu wollen.
Ob es für Stevensons Lesart von
"substantial violation" irgendwo quellenkundliche Referenzen gibt, interessiert mich weniger wegen der britischen Entscheidung zum Kriegseintritt selbst, als viel mehr im Bezug auf die französische Haltung im Rahmen der Juli-Krise.
Sollte über den Umfang der Neutralitätsgarantie für Belgien nämlich tatsächlich ein entsprechendes Missverständnis zwischen London und Paris geherrscht haben, würde dies möglicherweise dazu beigetragen haben, die französische Haltung unnachgiebiger zu machen, als sie bei einer übereinstimmenden Interpretation der Tragweite dieser Garantie möglicherweise gewesen wäre.
Wäre die Britische Lesart bevor man sich dann final für den Kriegseintritt entschied nämlich auf Flandern beschränkt gewesen, während man seitens Frankreich mit einem auf die Wallonie beschränkten deutschen Vormarsch rechnete, hätten die Franzosen mit einem Ausfall Britanniens als Bündnispartner rechnen müssen.
Das hätte bedeutet:
- Keine Entlastung durch die BEF für den französischen nördlichen Flügel
- Keine greifende Seeblockade Deutschlands
- Möglicherweise für Frankreich negative Auswirkungen in Hinsicht auf Italiens Bereitschaft die Füße gegenüber Frankreich still zu halten (Stichwort: Savoyen, Nizza, Korsika, Tunis)
Konkret, mich interessiert vor allem ob die französische Haltung im Juli 1914, einen Krieg nötigenfalls in Kauf zu nehmen, möglicherweise auch durch ein Missverständnis der britischen Garantie für Belgien bedingt wurde, da bei einer klareren Darlegung von britischer Seite her die Franzosen sich darüber im Klaren hätten sein müssen, dass sie diesen Krieg möglicherweise auch unter wesentlich ungünstigeren Bedingungen führen mussten.
Deswegen interessiert mich Stevensons, für mich etwas exotische, aber durchaus nicht rundweg unlogisch erscheinende, Interpretation von
"substantial violation". Nicht so sehr wegen der letzendlichen britischen Entscheidung für den Kriegseintritt. Das dafür noch andere Faktoren, auch außereuropäische eine entscheidende Rolle spielten und man das nicht allein an der Neutralität Belgiens wird festmachen können, ist mir dabei völlig klar.