Historizität Jesu von Nazareth

OT:
Die Behauptung, dass Paulus Briefe und die Apostelgeschichte erst im späten 2. Jahrhundert auftauchen und dass Marcion die Paulusbriefe herausgegeben hat, ist völlig pseudowissenschaftlich und erregt in Fachkreisen große Heiterkeit. Irgendein Professor Dr. Dr. Scharlatan wird das natürlich ganz anders sehen

Hm...das scheint mir, nachdem wir den entsprechenden WP-Artikel (''Marcion') anhand aktueller wissenschaftlicher Lit. im 1. Halbjahr 2019 überarbeitet haben, so allgemein nicht ganz haltbar zu sein.
 
Zum Beispiel Jesus’ Geschwister, in den Texten weitgehend getilgt, aber ein paar Reste sind doch übersehen worden:

„Ist er nicht des Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter Maria? Und seine Brüder Jakobus, Josef, Simon und Judas? Und seine Schwestern, sind die nicht alle bei uns?“ (Mt 13,55 f., Mk 6,3)
Und du meinst wirklich, die Synodenteilnehmer waren zu doof, das zu streichen, als sie den Kanon endgültig festgelegt haben?
 
OT:
Hm...das scheint mir, nachdem wir den entsprechenden WP-Artikel (''Marcion') anhand aktueller wissenschaftlicher Lit. im 1. Halbjahr 2019 überarbeitet haben, so allgemein nicht ganz haltbar zu sein.

In der Kürze ist vermutlich etwas missverständlich, was Scorpio da wichtig war. Ihm ging es vorwiegend nach meinem Eindruck um Hypothesen der Spätdatierung ihrer Entstehung, nicht um den Forschungs-Disput über die Herausgabe und um Marcions Funktion dabei.

Wenn man das als Kontext nimmt, wird die Richtung der Aussage klarer.

Die Wiki-Formulierungen setzen den Hinweis auf die Diskussion mE zutreffend.
 
Und du meinst wirklich, die Synodenteilnehmer waren zu doof, das zu streichen, als sie den Kanon endgültig festgelegt haben?
Ja. Synoden, Konzile, Parteitage, wissenschaftliche Konferenzen, die irgendwelche Lehren vereinheitlichen oder praktikabel machen sollen, blamieren sich meistens. Das liegt in der Natur solcher Versammlungen.
 
Ja. Synoden, Konzile, Parteitage, wissenschaftliche Konferenzen, die irgendwelche Lehren vereinheitlichen oder praktikabel machen sollen, blamieren sich meistens. Das liegt in der Natur solcher Versammlungen.

Und von welcher Synode sprichst Du nun konkret? Welche Texte wurden da bearbeitet?
 
Unsere Bemerkungen über Synoden etc. waren doch nur Frotzeleien am Rande. Die Entstehung des Neuen Testaments war natürlich ein längerer Prozess. Widersprüche findet man bei solchen mit der Zeit zusammengestellten kanonischen Schriften immer. Die Reduzierung der Maria-und-Joseph-Familie auf die drei Personen der Krippe war seit dem Konzil in Ephesus 431 theologisch notwendig geworden (Jungfräulichkeit Marias).

Obwohl alt und aus der DDR stammend, erscheint mir heute noch als großartige Zusammenfassung Walter Beltz: Gott und die Götter. Biblische Mythologie, Berlin und Weimar 1975.
 
Widersprüche findet man bei solchen mit der Zeit zusammengestellten kanonischen Schriften immer.
Ich möchte sogar meinen, dass die frühe Kirche ausgesprochen widerspruchstolerant war, denn die vier Evangelien, auch die drei Synoptiker untereinander, widersprechen sich z.T. in den Abläufen, besonders augenfällig der Passionsgeschichte. Die Kirche hat diese Widersprüche nicht geglättet, sondern nebeneinandergestellt.

Die Reduzierung der Maria-und-Joseph-Familie auf die drei Personen der Krippe war seit dem Konzil in Ephesus 431 theologisch notwendig geworden (Jungfräulichkeit Marias).
Ging es denn 431 wirklich um die Jungfräulichkeit Mariens?
 
Ging es denn 431 wirklich um die Jungfräulichkeit Mariens?

Im Prinzip schon. Siehe auch das dann 433 verfasste Glaubensbekenntnis:

Konzil von Ephesos – Wikipedia

Arbeitskreis Origenes

Also, dann noch einmal speziell an Dich die Frage ohne Synode: In welchen Texten wurden Tilgungen vorgenommen?

Okay, okay, der Ablauf der Textentstehung ist nicht mehr rekonstruierbar. Unten verlinkte Seite spricht zum Beispiel von dem von jüdischen Spuren „gereinigten“ Lukasevangelium. Die Evangelien waren wohl von Anfang an eine Mischung aus mündlichen Überlieferungen und Phantastik und sind dann noch überarbeitet, „gereinigt“ worden.

Bibelkunde :: bibelwissenschaft.de
 
MariaundJoseph, eigentlich hatte ich gestern doch nur auf eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Existenz eines historischen Jesus hinweisen wollen! :mad: Jedenfalls soweit man sie aus den Evangelien erahnen kann.
 
Im Prinzip schon. Siehe auch das dann 433 verfasste Glaubensbekenntnis:
Konzil von Ephesos – Wikipedia
Arbeitskreis Origenes

Im Prinzip nicht.
Die Anschauung der Jungfräulichkeit war lang und breit vorher vertreten.
Strittig 431 war der Status Theotokos.
Der Disput um fortgesetzte Jungfräulichkeit vor und nach Geburt Jesus ging lange weiter.

Z.B. Miri Rubin, Mother of God.A History of the Virgin Mary, New Haven/London Yale University 2010.
 
Das bezieht sich ganz konkret auf Markion, dessen "Reinigungs"-Versuche sich bekanntlich nicht durchgesetzt haben.

So 'bekanntlich', also unbestritten, wird das inzwischen nicht mehr vertreten. ;) Beispielsweise Jason BeDun, Markus Vincent oder Matthias Klinghardt und Judith Lieu bieten in der neuesten Wissenschaftslit. differenzierte Positionen, siehe jener ' Marcion'-Artikel bei Tante Wiki, u.a. Abschnitt 'Jüngere Rezeption und Wirkungsgeschichte'.
 
So 'bekanntlich', also unbestritten, wird das inzwischen nicht mehr vertreten. ;) Beispielsweise Jason BeDun, Markus Vincent oder Matthias Klinghardt und Judith Lieu bieten in der neuesten Wissenschaftslit. differenzierte Positionen, siehe jener ' Marcion'-Artikel bei Tante Wiki, u.a. Abschnitt 'Jüngere Rezeption und Wirkungsgeschichte'.
Daraus mache ich mal einen eigenen Thread.
 
Uff, nun habe ich tatsächlich den 80-Seiten-Megathread mit gefühlten 70 Seiten heiße Luft durchgeackert, dazu noch zu einem Thema, das mich eigentlich gar nicht so wirklich interessiert. Lehrreich ist er allemal. Doch ich möchte aus einer ganz anderen Perspektive auf einen schon bejahrten Beitrag eingehen:

Dennoch ist es nicht gerade plausibel anzunehmen, dass allen diesen Autoren (von denen die meisten aus Palästina stammten oder sich zumindest zeitweise dort aufhielten) erfolgreich eingeredet wurde, es habe nicht lange Zeit vor ihnen (also zu einer Zeit, als sie großteils bereits lebten) in Palästina eine Person Jesus gegeben, wenn es sie nicht gab.

Zugegebenermaßen klingt es absurd, kann aber dennoch geschehen, zumal es damals keine Massenmedien gab, sondern Informationen von Mund zu Ohr flossen.

1. Man hat in mehreren Experimenten zeigen können, dass man Versuchspersonen Informationen über ihre Kindheit einimpfen kann, die nachweislich nicht stimmen. ("False Memory Syndrom") Berühmt sind die Versuche von Loftus (Creating False Memories ), dass die VPn als Kinder einmal in einem Einkaufszentrum verloren gegangen waren. Noch krasser sind die Einflüsterungen von Shaw und Porter, die immerhin 70% ihrer VPn suggerieren konnten, sie hätten einmal ein Verbrechen begangen (!). (Constructing rich false memories of committing crime - PubMed )

2. Auch Massensuggestionen hat es immer wieder gegeben, z.B. das Sonnenwunder in Fatima oder die UFO-Sichtungen in Roswell.

3. In systematischer Weise haben in den 90er Jahren Psychiater versucht, Kindern zu suggerieren, sie seien Opfer sexuellen Missbrauchs schlimmster Art gewesen, daraus sind dann die berühmt-berüchtigten satanischen Ritualfälle in Kindergärten wie im Fall McMartin oder im Kern County entstanden, aber auch der "Kinderschänderprozess" in Worms (SPIEGEL 13/1998, ohne Satan, aber mit Mord und Totschlag) bzw. in Frankreich der Familie Outreau (Outreau trial - Wikipedia ), um nur einige wenige zu nennen. Solche angeblichen Missbrauchserinnerungen konnte man aber auch Erwachsenen, nicht nur Kindern einpflanzen. (Infos hierzu List of satanic ritual abuse allegations - Wikipedia )

Man merkt also: Es muss nicht immer etwas vorliegen, damit man daraus etwas machen kann.

Back to Jesus. In seinem Fall fehlt IMO die Motivation, eine Person zu erfinden, um sie zu einem Messias zu machen, wie auch mehrfach schon beschrieben. Das ist doch wesentlich aufwändiger als eine existierende Person soweit mit Eigenschaften anzureichern, bis sie zu einem Messias bzw. Gottessohn wird, an den man am Ende selbst glaubt und das bis zum Fanatismus (für sie in den Tod gehen). Zu diesem Zweck lassen sich auch Suggestionen einsetzen oder, wenn es um Propheizungen geht, Cold Reading – Wikipedia .

Wenn wir's gerade von Prophezeiungen haben: ist nicht das Alter der Evangelien von Interesse, wenn es um Jesus' Prophezeiung der Tempelzerstörung geht (Mt 24.1-2, Mk 13.1-2, Lk 21.5)? Hierzu braucht man kein Hokuspokus, es reicht, dies nach 70 n.Chr. aufgeschrieben zu haben.
 
Ich halte diese Tempelzerstörungsprophezeiung als Datierungsansatz allerdings für eher überbewertet. Jesus bleibt darin recht vage und abstrakt.
Erstens war das gespannte Verhältnis vieler Juden zur römischen Herrschaft kein Geheimnis, ein möglicher gewaltsamer Konflikt erschien somit vermutlich nicht gerade unwahrscheinlich, und dass dieser wohl nicht unbedingt mit einem jüdischen Sieg enden würde, konnte sich ein vernünftiger, unverblendeter Mensch ausmalen.
Zweitens: Was währt schon ewig? Der salomonische Tempel war zerstört worden, und somit war es auch nicht unwahrscheinlich, dass auch der herodianische Tempel irgendwann zerstört würde.
Drittens: Für eine abstrakte Mahnung und ultimative Schreckensprophezeiung taugte die Ankündigung einer Zerstörung des Tempels allemal.
Ich glaube also nicht, dass man unbedingt davon ausgehen muss, dass der Verfasser die reale Zerstörung des Jerusalemer Tempels bereits kannte.
 
Ja, das klingt plausibel, wenn man die Zerstörung des Tempels als ein mehr oder weniger zwangsläufiges Ereignis ansieht. Doch war die Zerstörung ein Zufall, genauer gesagt, ein Unfall: Ein römischer Soldat hatte eine brennende Fackel in den Tempel geworfen, erzeugte einen Brand, Titus hat versucht, den Brand zu löschen, vergeblich. Die Zerstörung des Tempels war beileibe nicht von den Römern beabsichtigt und verdankt sich nur der Wut eines Soldaten. (Fl. Josephus, De bello Iudaico VI.4.252-266)
 
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