Die Wanderung der Mexi'ca'.
Erzählung einer Wirklichkeit oder wirklich nur eine Erzählung?
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Eigentlich geht es also um die Frage: Wie wollten die Mexi'ca' ihren Ursprung gesehen wissen, wie ihre Entwicklung bis zum mächtigsten Volk des alten Mexikos? Wir werden uns hierbei nicht mit einer Nacherzählung zufriedengeben können, sondern müssen tiefer schürfen: Wir sehen besonders dann die retrospektive Ethnogenese am Werk, wenn eine anachronistische Erklärung späterer Verhältnisse angeboten wird, wenn Widersprüche und Ungereimtheiten auftreten, wenn Ursachen und Folgen nicht kausalrational sondern in mythischem Gewand vermittelt werden und wenn, wie im gegenständlichen Fall, in späterer Zeit ein Herrscher die Geschichte "berichtigt" haben soll.
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1. Der Herkunftsort heißt Aztlan, er kann auch nicht anders heißen, denn der Name Azteca' bedeutet klar: Leute aus Aztlan. Im Gegensatz zu den meisten aztekischen Namen ist Aztlan ebenso wie Mexi'co nicht übersetzbar, vielleicht stammen beide aus einer anderen Sprache oder einer früheren Sprachschicht ihrer Sprache, des Nahuatl. Dafür spricht auch, daß sich das Schriftzeichen für Aztlan oder Azteca' in der wichtigsten dieser Thematik gewidmeten Handschrift nicht nach den Regeln des Nahuatl lesen läßt, während es ein Schriftzeichen für Mexi'co offenbar nicht gibt.
2. Der Namenswechsel war wesentlich und unvermeidbar. Die Schilderung darüber stammt von den Mexi'ca', wie wir sie jetzt und künftig nennen müssen, den Bewohnern der später noch zu gründenden Stadt Mexi'co Tenochtitlan, die sich dann nach ihrer Stadt nannten, den eigentlichen Mexikanern. Solange sie an dieser Stelle noch nicht angekommen waren, konnten sie sich nicht nach ihr benennen, sondern nur nach dem Ausgangspunkt ihrer Wanderung, ihrer früheren Heimat. Irgendwo auf diesem Weg mußte der Name von der mythischen Erklärung an die historische Wirklichkeit angepaßt werden.
3. Die ihnen verliehenen jägerischen Utensilien sollten auf eine kulturelle Qualität der Mexi'ca' hinweisen, die sie sich offenbar nur zugeschrieben haben, die aber im kulturellen Kontext ihres späteren Wohnsitzes ideologische Bedeutung hatte. Daß sie diese Qualität nicht von Anfang an besessen zu haben behaupten, sondern erst in einiger Entfernung von ihrem Ursprungsort erhalten haben wollen, bestärkt Hinweise in den Quellen, daß ihre Lebensweise eigentlich die von Feldbauern war.
4. Die gemeinsame Wanderung mit anderen Völkern gibt Gelegenheit, den Vorrang der Azteken zu begründen. Sie waren es, die den Anstoß gaben, sie wurden geleitet durch ihren Gott, die anderen Völker schlössen sich an, unterstellten sich ihnen und ließen sich von ihnen sogar fortschicken. Und während die anderen Völker nur aus einem gemeinsamen, unspezifischen Ursprungsort hervorgingen, verfügen die Azteken über einen spezifischen, namengebenden, den sie mit keinem anderen teilten, nämlich Aztlan.
Wie real ist dieser besondere Ausgangspunkt Aztlan? Läßt er sich lokalisieren und dann auch archäologisch untersuchen?
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Obwohl die Schilderungen der Quellen am mythischen Charakter von Aztlan keinen Zweifel lassen, hat es nicht an Versuchen der Wissenschaft gefehlt, Aztlan irgendwo in Mexiko zu lokalisieren. Alle entsprechenden Versuche sind jedoch als gescheitert anzusehen (siehe DUVERGER 1987, 115117; GRAULICH 1982, 211; DAVIES 1980, 2425). Sie sind unternommen worden in Verkennung der Natur mythischer Erklärungen. Mythische Texte erklären Gegenwärtiges mit dem Kenntnisstand der Gegenwart und sind eben nicht Verkleidungen historischer Erfahrungen und Tatsachen, für die man einen Schlüssel suchen und finden könnte. Aus ihnen gleichsam wie in der psychoanalytischen Traumdeutung auf verschüttete Wirklichkeiten schließen zu wollen, heißt den Mythen Gewalt anzutun und einem Phantasma nachzu laufen.
Die acht Völker, die zunächst mit den Mexi'ca' gemeinsam gewandert und dann vor diesen vorausgezogen waren, sind in historischer Zeit tatsächlich ihre Nachbarn im und rings um das Becken von Mexiko gewesen:
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Als die Mexi'ca' von Coatepec weiterzogen und unmittelbar danach nach Tollan kamen, war diese berühmte Stadt bereits von ihren Bewohnern verlassen und lud nicht ein, sich dort länger aufzuhalten. Um so erstaunlicher ist es, daß bei den zahlreichen kleineren Diskrepanzen in der Wanderungsroute, die zwischen den verschiedenen Quellen bestehen, Tollan immer ein unverzichtbarer Knotenpunkt zu sein scheint. Das Tollan, das die Mexi'ca' besuchten, liegt nur 60 Kilometer nordwestlich von Tenochtitlan und ist durch den weiteren Verlauf des Wanderungsweges der Mexi'ca' klar mit dem modernen Ort Tula und seinen ausgedehnten Ruinenanlagen aus voraztekischer Zeit zu identifizieren. Tollan war nach den Schilderungen der Quellen der Inbegriff der Vollkommenheit, aber zu gleich überschattet von einem tragischen Ende.
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Der weitere Zug der Mexi'ca' nach ihrem ereignislosen Aufenthalt in Tollan läßt sich plötzlich ganz exakt verfolgen. In kleinen Etappen zogen sie durch ein Tal, das den flachsten Zugang zum Becken von Mexiko bildet, nach dem Süden. Immer wieder blieben sie ein paar Jahre an einem Ort, so daß ihre durchschnittliche Jahresgeschwindigkeit kaum mehr als einen Kilometer beträgt.
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