Wenn wir nicht mehr begründen, warum wir einem antiken Historiographen nichts mehr glauben, können wir alle historischen Quellen im Prinzip wegschmeißen. Dann müssen wir aber auch nicht mehr über Varus und Germanicus reden. Bisschen radikal, oder?
Also: Aus welchen Gründen bezweifelst du die taciteische Darstellung des Besuchs des Varusschlachtfelds
Gut, dann fangen wir einfach mal mit den Lebensdaten an.
Germanicus ist 19 n. Chr. gestorben.
Tacitus ist um 58 n. Chr. geboren.
Wenn Germanicus im Jahre 16 n. Chr. das Schlachtfeld der Varusschlacht besucht hätte, wäre das 42 Jahre vor Tacitus Geburt gewesen.
Und mal davon ausgegangen, dass Germanicus dabei keine Kleinkinder dabei gehabt haben wird, sondern sich in derartig gefährlichem Gelände nur mit Leuten Bewegt haben wird, die nach römischem Verständniss erwachsen und waffenfähig waren, sprich ihre 16-17 Jahre mindestens gehabt haben werden, wären selbst die jüngsten potentiellen Angehörigen aus Germanicus Streitkräften/Gefolge bei Tacitus Geburt um sie 60 Jahre alt gewesen.
Tacitus fing aber nicht bei seiner Geburt an Quellen für sein Geschichtswerk zu sammeln und Greise zu interviewen.
Lass mal, bis er angefangen hat, das zusammen zu stellen nochmal 15 bis 20 Jahre vergangen sein, mindestens.
Potentielle Angehörige von Germanicus Gefolge/Truppen wären dann an die 75-80 Jahre alt gewesen, minimum.
Will heißen:
Tacitus hat sich nie mit Germanicus über dieses potentielle Ereignis unterhalten und dass er überhaupt die Gelegenheit hatte sich in einem Alter in dem er weit genug war, sich damit in einigermaßen planvoller Weise damit zu befassen noch direkte Augenzeugen dessen angetroffen haben wird, wird man angesichts von deren potentiellem, notwendigen Lebensalter bezweifeln dürfen.
Er hat mWn auch nirgendwo behauptet die Gelegenheit gehabt zu haben, die Örtlichkeit selbst in Augenschein zu nehmen.
Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass er die Informationen, die er hatte, wenn überhaupt nur aus zweiter Hand beziehen konnte. Aus irgendwelchen, uns nicht näher bekannten Quellen.
Sprich aller Wahrscheinlichkeit nach, berichtet Tacitus über Begebenheiten, die sich in der Zeit seiner Urgroßeltern abgespielt haben (was das aktive Erleben angeht), mit Bezug auf dass, was die Generation von deren Kindern ihm persönlich erzählt haben mag, aber ohne selbst dabei gewesen zu sein.
Möglich dass Germanicus da gewesen ist, genau so möglich, dass Tacitus einfach Räuberpistolen aus der Generation danach aufgeschrieben hat, die er technisch weder verifizieren noch falsifizieren konnte und dass die späteren Autoren diese von ihm abgeschrieben und fleißig reproduziert haben.
Genau so möglich, dass es bereits vorherige Geschichtsschreiber gibt, auf die sich Tacitus bezog ohne sie explizit zu nennen, die vielleicht bessere Quellen hatten, deren Werk aber mittlerweile verloren ist.
Warum sehe ich Anlass Tacitus Darstellung mindestens mit einem Fragezeichen zu versehen?
1. Wissen wir ja heute selbst nicht so genau wo das Schlachtfeld gewesen ist, dazu gibt es allenfalls Mutmaßungen und wenn würde sich die Geländebeschaffenheit in den letzten 2.000 Jahren möglicherweise dergestalt verändert haben, dass sich nur sehr schwer sagen ließe ob Tacitus' Überlieferung dazu passt.
2. Fehlen uns materiellle Zeugnisse, die für eine solche Begehung sprechen würden.
3. Auf Grund der Zeitspanne zwischen der postulierten Begehung und der Entstehung des taciteischen Geschichtswerkes ist es eher unwahrscheinlich, dass Tacitus zwecks dessen Erstellung noch damals vor Ort befindliche Zeitzeugen präzise dazu hätte befragen können und ob er sich in seinem Werk auf andere bezog, die das vielleicht noch konnten, weil sie vielleicht 20-30 Jahre früher drann waren, dass wissen wir nicht, könnten wir allenfalls mutmaßen.
Ich habe nirgendwo behauptet antiken Historiographen per se die Glaubwürdigkeit absprechen zu wollen, dass wäre in der Tat etwas radikal, aber hier Tacitus Überlieferung mit einem Fragezeichen zu versehen, finde ich so ganz und gar nicht radikal.
Er war nicht dabei. Er selbst hat das Schlachtfeld aller Wahrscheinlichkeit nach nie gesehen, Germanicus konnte er nicht mehr befragen, der war, als er geboren wurde lange tot und dass er in erwachsenen Alter überhaupt noch die Möglichkeit gehabt hätte Mitglieder von Germanicus Expedition zu befragen, darf man gemessen an derenn Lebensalter, dass diese dann hätten haben müssen durchaus für unwahrscheinlich halten und selbst wenn er diese Möglichkeit gehabt hätte, wäre die Frage der Authentizität dieser Berichte damit nicht beantwortet.
Selbst wenn wir an dieser Stelle mal keine eigennützigen Absichtenn unterstellen historische Tatsachen zu verbiegen, würden sie sich über Ereignisse unterhalten haben, die über ein halbes Jahrhundert zurückgelegen hätten. Dann müsste man sich auch mit Themenkomplexen, wie möglicherweise verklärter Erinnerung etc. herumschlagen, die wir nicht beantworten können.