In diesem Sinne wollte man einen Schlag führen, um in eine vorteilhaftere Position zu gelangen und nicht abwarten, bis sich die beiden größten Gegner Frankreich und Russland weiter rüsten und irgendwann zu stark werden.
Jetzt projizierst du implizit die Situation nach Inkrafttreten des russisch-französischen Zweibundes auf die Situation 1887 zurück.
Frankreich war objektiv gesehen Deutschland gegenüber feindlich eingestellt und das musste man auf der Rechnung haben, aber die russisch-deutschen Beziehungen waren durchaus noch intakt.
Und im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten sich Frankreich und Russland durchaus nicht immer freundlich einander gegenüber verhalten. In den 1850er Jahren hatten beide gegeneinander den Krimkrieg geführt, der für Russland eine demütigende Niederlage brachte, gewissermaßen als Retour dafür hatte St. Petersburg Bismarck gegen Frankreich (und zuvor schon gegen Österreich) weitgehend freie Hand gelassen und damit die deutsche Reichsgründung deutlich begünstigt. Gegen ein Russisches Veto, oder gar eine Intervention wäre das mit den "Einigungskriegen" so nicht möglich gewesen. Bismarck konnte das am Ende nur deswegen umsetzen, weil man in St. Petersburg der Meinung war mit Wien und Paris wegen des Krimkrieges noch offene Rechnungen zu begleichen zu haben.
Die französische liberale Presse, hatte jedenfalls bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein, notorisch gegen die polnische Teilung und für ein eigenständiges Polen (in Prais gab es eine lebhafte und politisch/publizistisch rührige polnische Emigrantenszene) aggitiert, was dem Zaren und jeder russischen Regierung gegen den Strich gehen musste, und natürlich waren die russischen Zaren auch keine besonderen Fans des französischen Republikanismus.
Während der Ära Bismarck waren Frankreich und Russland keine zwei Mächte, die irgendwie am gleichen Strang zogen, das kam erst danach, als sich Deutschlands Regierung endgültig auf das mit Russland rivalisierende Österreich-Ungarn als Verbündeten festlegte.
Die Bulgarienkrise an der das Dreikaiserbündnis am Ende scheiterte, beeinhaltete keinen fundamentalen Interessengegensatz zwischen Russland und Deutschland, sondern einen zwischen Russland und der Donaumonarchie, während Deutschland zu diesem Zeitpunkt in der Situation war zu versuchen zu können zu vermitteln oder sich einen von beiden als Bündnispartner auszusuchen.
Bismarck hat sich letztlich für den Rückversicherungsvetrag entschieden, weil er, wie Moltke wohl selbst, Zweifel an der Erfolgssaussicht eines weiteren Krieges hatte. Hätte man sich aber nun zum Schlag entschieden, hätte man ja auch irgendwas fordern müssen, um das Ziel einer langfristigen Schwächung Russland zu erreichen. Das muss kein Polen sein, der Gedanke kam mir nur mit dem Hintergrund, dass man somit ja zumindest eine Pufferzone geschaffen hätte, für den Falle einer weiteren Auseinandersetzung.
Ich würde meinen, Bismarck hat sich für den Rückversicherungsvertrag entschieden, weil dass für den Moment die beste Möglichkeit war das revanchistische Frankreich weiterhin zu isolieren.
Sich darauf zu versteifen, dass er die Möglichkeit gehabt hätte zu versuchen sich mit beiden Parteien zu einigen oder mit Österreich zusammen gegen Russland zu gehen, verengt ein wenig den Blick auf das Feld der tatsächlich offenstehenden Möglichkeiten.
Bismarck konnte beides tun, er hätte aber auch radikal auf ein russisches Bündnis, die gemeinsam mit Russland betriebene Zerschlagung der Donaumonarchie, Annexion der deutschsprachigen Teile Österreichs als Ausgleich für mehr russischen Einfluss am Balkan setzen können.
Das entsprach nicht seinem Naturell und außerdem hätte es für Deutschland massive, für Preußen nachteilige innenpolitische Konsequenzen gehabt (mehr Katholiken im Land, größerer Einfluss Süddeutschlands, Verlust von Preußens Sonderstellung innerhalb Deutschlands) aber möglich wäre das gewesen.
Er hätte sich auch für einen Pakt mit Russland gegen Wien entscheiden können, unter der Bedingung Österreich-Ungarn intakt zu lassen um das Problem mit den deutschsprachigen Teilen der Donaumonarchie nicht zu haben.
Allerdings hätte jede klare Entscheidung entweder für Österreich-Ungarn oder für Russland und die Absage an den jeweils anderen dem Erzrivalen Frankreich einen Bündnispartner in die Arme getrieben. Also war es durchaus sinnvoll zu versuchen sich mit beiden zu einigen, um zu verhindern, dass einer davon tatsächlich Frankreichs Alliierter wird und man damit Feinde in West UND Ost haben würde.
Warum genau hätte man, wenn man sich zum Krieg entschieden hätte irgendwas fordern müssen? Wenn aus solchen Forderungen mehr Nach- als Vorteile erwachsen, empfielt es sich nichts zu fordern.
Die negative Konsequenz für Russland wenn es über die bulgarische Krise zum Krieg gekommen wäre, wäre bei Niederlage gewesen Einfluss auf dem Balkan zu verlieren.
Angesichts dessen dass Frankreich bereits Gegner Deutschlands war, Russland aber nicht, hätte es sich aus strategischer Sicht angeboten Russland einen möglichst milden Frieden anzubieten um Russland und Frankreich nicht einander näher zu bringen.
Ähnlich hatte Bismarck ja schonmal am Ende des Krieges von 1867 gehandelt, als Wert darauf gelegt wurde, Preußen zwar zu vergrößern, aber auf keinen Fall auf Kosten Österreichs, unter anderem auch mit der Absicht Wien einen Frieden zu ermöglichen, mit dem man sich irgendwie abfinden konnte, um in der Donaumonarchie nicht einen Dauergegner zu haben.
Ähnliches hätte sich im Bezug auf Russland angeboten.
Die gleichen Überlegungen gab es ja auch, als Frankreich nach dem Krieg und dem Abzug der Besatzungstruppen schnell wieder zu Kräften kam und aufrüstete. (Krieg-in-Sicht-Krise). Moltke drängte wohl mehrfach, einen Präventivschlag gegen Frankreich zu führen. Auch hier, nicht um einem bevorstehenden Angriff zuvorzukommen, sondern um die Gefahr möglichst auszuschalten. Aber auch in diesem Fall hätte man ja nach gewonnenem Krieg irgendwas durchsetzen müssen, um dieses Ziel auch zu erreichen. In beiden Fällen gab es wohl den Gedanken, das Land in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu bringen - ein Ziel, welches es so ja später auch ins Septemberprogramm geschafft hat.
Das ist erstmal schon deswegen nicht vergleichbar, weil während der "Krieg-in-Sicht-Krise" Deutschland keine wirklich festen Bündnispartner hatte und außerdem ein Revanchekrieg Frankreich schon deswegen wahrscheinlich war, weil wegen Elsass-Lothringen zwischen Frankreich und Deutschland nunmal ein Territorialkonflikt bestand.
Den gab es aber zwischen Deutschland und Russland nicht. Da gab es keinen Revanchismus wegen der Annexion irgendwelcher russischer Territorien, wegen dem man realistischer Weise davon ausgehen musste einem Revanchekrieg ggf. nicht ausweichen zu können. Außerdem verfügte Deutschland über den Zweibund und den Dreibund mit Italien und Österreich-Ungarn mittlerweile über 2 Bündnispartner, was es zusärzlich unwahrscheinlich machte, dass Deutschland selbst von russischer Seite tatsächlich angegriffen würde.
Der sich abzeichnende Konflikt mir Russland war einer dem man ausweichen konnte, weil es im Kern um österreichisch-russische Rivalität ging, nicht um deutsch-russische und Deutschland lediglich indirekt über sein Bündnis mit in diesem Konflikt hing.
So lange aber Russland und Frankreich noch nicht miteinander verbündet waren, war Verzicht auf das österreichische Bündnis um das Verhältnis mit Russland bei Bedarf in Ordnung zu bringen eine durchaus realistische und gangbare Option.
Insofern unterscheiden sich aus deutscher Perspektive die "Lage West" und die "Lage Ost" vor dem Zustandekommen des russisch-französischen Zweibundes gravierend.
Auch gibt es keine direkten Kontinuitäten, zwischen Vorstellungen des älteren Moltke hinsichtlich Frankreich 1875 und dem Septemberprogramm der Regierung Bethmann-Hollweg anno 1914.
Die "Mitteleuropa-Phantasien" des Septemberprogramms, sind vor allem auch als Reaktion auf den britischen Kriegseintritt und den Beginn der Blockadepolitik gegen Deutschland zu betrachten.
Die Vorstellung der Schaffung einer deutsch dominierten Wirtschaftszone auf dem europäischen Festland war im Prinzip die Antwort auf die Tatsache, dass Deutschland qua Blockade von den außereuropäischen Märkten und Wirtschaftszonen abgeschnitten war und werden konnte.