...und Varus wird immer weiter geschlachtet

sepiola:
1. Er wusste es selbst nicht so genau.
2. Er wollte seine Darstellung nicht mit gar zu vielen unnötigen Details überfrachten.

Warum beschreibt Tacitus Idistaviso relativ genau und andere Orte nicht?Das ist doch der Punkt, der nicht zu ermitteln sein wird.
Außer Hineindeuten bleibt nichts übrig.
 
sepiola:
1. Er wusste es selbst nicht so genau.
Doch, er wusste es. Wir können davon ausgehen dass er gute Quellen hatte.

2. Er wollte seine Darstellung nicht mit gar zu vielen unnötigen Details überfrachten.
Tacitus hat einen knappen Stil, mit sehr eleganten adverbialen Bestimmungen und mit Umklammerungen. Es hat schon seinen Grund, dass unsere Lateinlehrer selber ein spürbares Vergnügen beim Vortragen und Erläutern hatten.

Anders als Cassius Dio schmückt er weniger aus, sondern verdichtet, kondensiert das Material, und gelangt so zu den Aussagen, die ihm wichtig sind: Er ist ja keineswegs unparteiisch.

Warum beschreibt Tacitus Idistaviso relativ genau und andere Orte nicht?Das ist doch der Punkt, der nicht zu ermitteln sein wird.
Außer Hineindeuten bleibt nichts übrig.
Idistaviso ist nur eine Wiese, die er beschreibt, um den von ihm gewünschten Effekt beim informierten Leser zu erreichen: Er erklärt die Topographie nicht, um den Leser das Schlachtfeld wiederfinden zu lassen, sondern um die Besonderheiten und Kausalitäten der Schlacht zu erläutern.

Haud procul Teutoburgiensi saltu, das ist nur ein minimal erforderlicher Verweis auf einen topographisch oder verwaltungstechnisch definierten und bekannten Ort.

Ähnliches gilt auch für die Pontes longi oder den Angrivarierwall.

Tacitus' Stil glitzert scharf wie die Klinge eines Skalpells im Licht der OP-Lampe.
 
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Doch, er wusste es. Wir können davon ausgehen dass er gute Quellen hatte.
Das ist die Frage. Delbrück argumentierte (basierend auf einer älteren Arbeit) - u.a. auch mit Verweis auf die geographischen Unzulänglichkeiten der Darstellung -, dass Tacitus als Quelle für Germanicus' Feldzüge möglicherweise ein (heute verlorenes) Heldenepos über Germanicus verwendet habe. Ganz unplausibel finde ich das nicht, da seine Darstellung tatsächlich Elemente enthält, die gut einer "epischen" Darstellung entnommen sein könnten wie etwa das Gespräch zwischen Arminius und Flavus.
 
ElQuijote hatte -Beitrag 514- eine Wiese nicht beschrieben
Woher weiß man, warum Tacitus Kausalitäten bei Idistaviso beschrieben hat?Steht asein Motiv irgendwo?Und schon nehme ich ein verlorenes Heldenepos als Grundlage? Als Annahme vielleicht gerade noch
 
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El Quijote, ich habe gesagt, was Du nicht gemacht hast, aber dargestellt, wie Idistaviso verortet werden kann;auch aus heutiger Sicht.

Die Vermutungen und herleitungen zu Isistaviso habe ich teilweise gelesen, aber es haben schon so viele Leute versucht, etwas aus dem Namen herzuleiten...da ich kein Sprachkundler bin,habe ich aufgegeben.

Warum Tacitus gerade da konkreter wird....darüber könnte man sinnieren....wie war das vor einigen Beiträgen:wir können nicht wissen, welche Motive er hatte, aber die Annäherung daran ist nicht verboten.Konnte er auch nicht wissen, daß jemand nach 2000 Jahren nachfragt.
Reine Dramaturgie a la Pardela ist natürlich auch möglich, ausschließen kann ich nichts.

Zu Beitrag 522- ich habe sepiola sehr unglücklich nicht als Zitat erfaßt, meine Schuld. die genannte Alternative stammt nicht von mir.
 
Entschuldigung Pardela, Du betreibst keine reine Dramaturgie. Aber Du erklärt, daß Tacitus auch aus dramaturgischen Gründen......
 
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Nein, am 15. März feierte Germanicus kein Schlachtfest.

Vielleicht empfing er an diesem Tag im heimischen Mogontiacum, mit Blick auf das Drususdenkmal am anderen Ufer, während er Seehasenzungen löffelte, etwas gelangweilt den Chef der Classis germanica, der ihm mit leichtem Augenrollen versicherte, dass die neuen Flachbodenschiffe der rheinischen Flotte selbstverständlich alle Tests bestanden hätten, wie ihm der verantwortliche Herr Granum nivalis aus der Gens Innocentia hoch und heilig versprochen habe, und selbstverständlich auch jedes barbarisches Wetter auf der Nordsee aushalten würden...
 
Doch, er wusste es. Wir können davon ausgehen dass er gute Quellen hatte.
Oh ja, er hatte fantastische Quellen. Er hatte die Protokolle der cheruskischen Generalstabsbesprechungen auf seinem Schreibtisch liegen, daneben die Generalstabskarten der Germania Magna im Maßstab 1:200.000 und nicht zuletzt das Traumtagebuch des Germanicus zur Hand, in dem nachzulesen war, wovon der Feldherr Nacht für Nacht geträumt hat.
Und dann hat er sich leider alle Mühe gegeben, sein Material so wirr und unverständlich aufzubereiten, dass Historiker seit Generationen auf Zigtausend Seiten versuchen, das tatsächliche Geschehen zu enträtseln und wir im Geschichtsforum uns in Zigtausenden Beiträgen die Finger wundtippen.

Die Schlachtszenen sind so eindrücklich und farbig gestaltet, dass sich mir immer wieder der Vergleich mit den Schlachtszenen aus einem Hollywoodschinken aufdrängt: Der Feldherr hält seine Ansprache, die Trompeten schmettern, die Kavallerie stürmt los, man sieht Infanteristen in Schlamm und Blut waten, man sieht verwundete Pferde zusammenbrechen, aber wie die Aufmarschwege auf der Landkarte aussehen, erfährt man nicht.


Anders als Cassius Dio schmückt er weniger aus, sondern verdichtet, kondensiert das Material

Im Ernst?

Was schreibt denn Dio über die Feldzüge des Germanicus?

Einen einzigen Satz (Übersetzung Goetz-Welwei):

"Weil Germanicus aber neue Unruhen (der Soldaten) befürchtete, fiel er in Feindesland ein, wo er sich einige Zeit aufhielt, indem er die Truppen zugleich in Aktivität hielt und in reichlichem Maße aus der Beute versorgte."
 
Warum beschreibt Tacitus Idistaviso relativ genau und andere Orte nicht?Das ist doch der Punkt, der nicht zu ermitteln sein wird.

Er erklärt die Topographie nicht, um den Leser das Schlachtfeld wiederfinden zu lassen, sondern um die Besonderheiten und Kausalitäten der Schlacht zu erläutern.

Ach, Tacitus findet auch auch an anderer Stelle Gelegenheit für geographische Exkurse, und das an Orten, wo nicht einmal eine Schlacht geschlagen wird.

Auch für eine Beschreibung der Flotte ist genügend Platz, alles fürs Schlachtgeschehen völlig irrelevant:

"Tausend Fahrzeuge schienen genug und wurden eiligst gebaut. Ein Teil kurz, d.h. mit verhältnismäßig geringem Raum zwischen Vorder- und Hinterteil, und mit weitem Bauch, um desto besser den Wogendrang auszuhalten. Andere mit flachen Kiel, um dem Grund näher kommen zu können, ohne Schaden zu nehmen. Ein größerer Teil vorn und hinten mit Steuern versehen, um durch einen schnellen Wechsel der Ruder mit diesem oder jenem Ende des Schiffes landen zu können. Viele hatten Brücken, um Geschütze darüber hinzuschaffen, in gleicher Weise geeignet, Pferde und Lebensmittel aufzunehmen. Durch die Segel beweglich und schnell durch die Ruder machte sie vollends die muntere Kriegerschar zu einem imposanten und schreckenerregenden Anblick.

Als Sammelplatz wurde die batavische Insel angewiesen, wegen ihrer bequemen Landungsplätze und weil sie die Möglichkeit bot, dort alles Nötige einzuschiffen und so den Krieg an seinen Schauplatz zu tragen.

Der Rhein nämlich, der bis dahin in einem durchgängigen Bett fließt oder nur mäßig große Inseln einschließt, teilt sich beim Eintritt ins Batavergebiet in zwei Ströme, von denen der eine, der Germanien streift, Namen und Heftigkeit der Strömung bis zur Einmündung in den Ozean beibehält. Der andere – dem gallischen Ufer entlang – fließt breiter und in sanfterer Strömung, von den Anwohnern dort nicht mehr Rhein, sondern Waal genannt; bald vertauscht er auch diesen Namen mit dem der Maas, und ergießt sich durch deren ungeheuere Mündung in denselben Ozean."[/quote]

 
Auch für eine Beschreibung der Flotte ist genügend Platz, alles fürs Schlachtgeschehen völlig irrelevant:
Du lässt die Intentionen des Tacitus außer Acht: Er will die sorgfältige Planung des Germanicus zeigen.

Der gesamte Text dient ja auch dazu, das Nichterreichen der politischen und militärischen Ziele zu maskieren:

Also Germanicus, der große Planer und erfolgreiche Feldherr. Nicht derjenige, der bei irrsinnig hohen Kosten, Aufwand und Verlusten strategisch versagt.

Und dann hat er sich leider alle Mühe gegeben, sein Material so wirr und unverständlich aufzubereiten, dass Historiker seit Generationen auf Zigtausend Seiten versuchen, das tatsächliche Geschehen zu enträtseln und wir im Geschichtsforum uns in Zigtausenden Beiträgen die Finger wundtippen.
Das ist dem Wunsch der späteren Historiker und Lokalpatrioten anzulasten, die Feldzüge im wahrsten Sinne "zu verorten".

Wir versuchen Dinge aus einem 1.900 Jahre alten Text herauszulesen, die nicht drinstehen, die auch nicht dem Interesse des Autors entsprachen.
 
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Wir versuchen Dinge aus einem 1.900 Jahre alten Text herauszulesen, die nicht drinstehen, die auch nicht dem Interesse des Autors entsprachen.

Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir kennen die Intentionen des Autors nicht und wir kennen seine Quellen nicht.
Wir wissen nicht, was er wusste, aber verschwieg, was er nicht wusste oder was er falsch verstanden hat. Oder was seine Quelle taugte.

Wir vermuten auch nur seine Intentionen beim Schreiben, ein reiner Tatsachenbericht sollte es aber offensichtlich nicht werden.
Es gibt Ausschmückungen und frei erfundene Passagen, die nach Ansicht des Autors gut in den Kontext passten oder das Bild abrundeten.

Wir dürfen nicht verallgemeinern (wie es leider oft bei historischen Quellen geschieht), also aus einer falschen Angabe auf die Glaubwürdigkeit des gesamten Textes schließen. Umgekehrt natürlich genauso wenig.

Schon die ersten Quellen zu der Varuskatastrophe dürften nur bedingt glaubwürdig gewesen sein. Überlebende versuchten sicherlich, sich selbst in besserem Licht darzustellen, die "Schuld" anderen zuzuschieben oder die Kräfte des Gegners überhöht darzustellen.
Wobei es so viele Überlebende ja gar nicht gab, und was die überhaupt mitbekommen haben, ist auch noch fragwürdig.
Ob ein Legionär der 23. Kohorte, 8. Manipel wirklich genau wusste, warum Varus was entschieden hat?

Andererseits dürfte es schon bald zu Legendenbildungen gekommen sein. In Rom waren vermutlich Geschichten im Umlauf, die nur bedingt etwas mit der Realität zu tun hatten. Dazu kamen vermutlich offizielle Erklärungen, die nur das Ziel hatten die Hinterbliebenen zu beruhigen, nicht unbedingt das wirklich Geschehene zu beschreiben.

Und aus all dem haben Autoren Generationen später ihre Texte zusammengemixt. Mit kräftigen Eigenbeigaben.
 
Bockstein sagt: (sinngemäß)
Warum beschreibt Tacitus Idistaviso relativ genau und andere Orte nicht?Das ist doch der Punkt, der nicht zu ermitteln sein wird.
Was hat dass mit Herauslesen zu tun?Es ist eine Feststellung.

Pardela_cenicienta sagt: (sinngemäß)


Er erklärt die Topographie nicht, um den Leser das Schlachtfeld wiederfinden zu lassen, sondern um die Besonderheiten und Kausalitäten der Schlacht zu erläutern.

Pardela erklärt, daß Tacitus die Besonderheiten und Kausalitäten erläutern möchte. Er erklärt also, was Tacitus wollte.Ist das kein Herauslesen, Monsieur Stilicho? Für mich hat Pardela etwas versucht; und da er sich zumindest an der Schlacht orientiert hat, kann man seine Meinung teilen oder nicht. Er argumentiert plausibel und es passt zur Quelle.



Soweit bin ich mit den Annales, daß Tacitus nichts ohne Hintergedanken schreibt, mit spitzer Feder.
Wir versuchen Dinge aus einem 1.900 Jahre alten Text herauszulesen, die nicht drinstehen, die auch nicht dem Interesse des Autors entsprachen.
Wir lesen Sachen heraus, die nicht drinstehen, erkennen aber im Autor sein Interesse?Ist das nicht etwas widersprüchlich?
Wer auch immer etwas zur Quelle sagt, muß sich Spekulation vorhalten lassen, aber bei der Quelle bleiben



Wenn ein Text untersucht werden soll, der von vornherein mit allen möglichen Unzulänglichkeiten behaftet ist, was ist zutreffend, was nicht, und ich mich innerhalb des Textes bewege, ohne ihn umzudeuten....und alle wissen, daß er unzulänglich ist, dann lasse ich entweder die Flossen davon oder stürze mich hinein.
 
  • Erstens müssen wir davon ausgehen, dass Tacitus wusste wovon er schrieb.
  • Zweitens wussten seine Leser wovon er schrieb.
Wer diese Texte zu lesen bekam, in einer teuren Abschrift, wusste von der Niederlage des Varus und den Feldzügen des Germanicus.
Das Publikum des Tacitus gehörte der Elite an.
Und an diese Elite wandte er sich, in Zuspitzung und Wertung, mit einer pointierten Zusammenfassung bekannter und andernorts dokumentierter Ereignisse.
Wer diese Schriftrollen besaß, las sie aufmerksam, und las auch zwischen den Zeilen.

@Sepiola, da ist nichts wirr und ungeordnet in den Annalen und der Germania. Wie hätte denn ein besserer Bericht aussehen können?

Ich sehe Dein Interesse an Kausalität und Nachvollziehbarkeit der Ereignisse, und Du hast ja auch nicht von Tacitus die geographischen Koordinaten der Ereignisorte verlangt, und ich mag wenn die Detailfülle eher nebensächlicher Ereignisse hier kritisch einer gewissen Schwammigkeit in anderen Punkten gegenüber gestellt wird.

In Sprache, Stil, Inhalt und Zuspitzung ist er aber das beste was ich unter den römischen Geschichtsschreibern kenne.
 
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Aber auch diese Elite muss – wie wir alle * - mit irgendetwas als Einstiegslektüre begonnen haben.
Der jüngere Plinius erwähnte, dass er römische Geschichte anhand von Livius lernte. Aber Livius‘ Werk endete 9 v. Chr. Für die spätere Zeit musste man auf andere Werke zurückgreifen. Wenn jemand die Geschichte der Kaiser nach Augustus kennenlernen wollte, konnte er vielleicht bei Tacitus landen.

Es stellt sich außerdem die Frage, wie verbreitet das Wissen um Germanicus' Feldzüge auch bei Gebildeten knapp ein Jahrhundert später tatsächlich noch war. Sepiola hat ja schon darauf hingewiesen, dass Cassius Dio (wenngleich noch einmal ein Jahrhundert später) darüber kaum etwas schrieb, er hielt nähere Details also anscheinend nicht mehr für interessant und relevant. Tacitus war bei Germanicus so ausführlich, weil er ihn als Gegenstück zu Tiberius brauchte, aber nicht unbedingt, weil er dessen Aktivitäten für sich genommen für so breit erwähnenswert hielt.

* Meine Einstiegslektüre war eine Nacherzählung der ersten Bücher von Livius, die ich mit 8 las. Ich hatte zu dieser Zeit noch keinerlei Vorkenntnisse zur römischen Geschichte, kannte mich aber schon in der Geographie der Welt einigermaßen aus. Das sorgte bei mir für einige Verwirrung. Z.B. verortete ich die Albanerberge in Albanien und identifizierte Delphi mit Delhi.
 
Du lässt die Intentionen des Tacitus außer Acht: Er will die sorgfältige Planung des Germanicus zeigen.

Der gesamte Text dient ja auch dazu, das Nichterreichen der politischen und militärischen Ziele zu maskieren:
Das erklärt doch nicht den geographischen Exkurs über die Rheinmündungen, den ich eben zitiert habe. Deine These lautete:

Tacitus setzt bei seinen Lesern die Kenntnis der Stämme und die der großen geographischen Begriffe voraus.
In diesem Fall hätte auch der römische Leser sich fragen müssen, wie denn um alles in der Welt die Angrivarier im Rücken der Legionen aufgetaucht sein sollen, die gerade an der Ems gelandet sind, idiotischerweise (wie Tacitus selbst herausstreicht) am Ostufer, so dass erst wertvolle Zeit mit dem Schlagen von Brücken verlorengeht.


Wenn Tacitus keine Koordinaten für den saltus Teutoburgiensis angibt, dann kann das zwei Gründe gehabt haben:
1. Er wusste es selbst nicht so genau.

Doch, er wusste es.
  • Erstens müssen wir davon ausgehen, dass Tacitus wusste wovon er schrieb.
  • Zweitens wussten seine Leser wovon er schrieb.

Widersprochen habe ich Deiner These, Tacitus hätte über die Geographie der Örtlichkeiten genaue Kenntnis gehabt.

"Auch die reichen und detaillierten Informationen, die römische Strategen und Praktiker des Krieges notwendigerweise erwarben, gelangten als solche nämlich nur zum geringsten Teil und seit Augustus gefiltert durch das kaiserliche Informationsmonopol zu öffentlicher Kenntnis und Wirkung. Die Oberkommandierenden an der germanischen Front rapportierten an den Kaiser, der daraus nach Ermessen an den Senat berichtete und seine Siegesbulletins veröffentlichte. Das mochte die Talente von Dichtern, Künstlern und Schmeichlern anspornen, aber es förderte das Verständnis der Landessituation bei Außenstehenden, das durch ein objektives Kartenbild und bekannte topographische Fixpunkte nicht unterstützt wurde, nur wenig. Aus den amtlichen Verlautbarungen und hilfsweise aus verhältnismäßig seltenen privaten Zeugnissen und autobiographischen Veröffentlichungen literarisch oder politisch ehrgeiziger Memoirenschreiber schöpften dann Verlaufserzählung und Exkurse der literarisch geformten Zeitgeschichtsschreibung." (D. Timpe)
 
Da die Diskussion ja so schnell weiterzieht wie römische Legionen auf der Via Aurelia hate ich mich kurz, oder versuche es zumindest.

Als einzige Quelle für ein vor dem immensum bellum bestehendes Treueverhältnis fand ich nur die "freiwillige" Wiederaufnahme der Cherusker bei V.Paterculus im Jahr 4 n.Chr. oder zurückgewonnen wurden (Vell II,105) zu beachten ist der Gegensatz der Formulierungen: Tiberius unterwarf und besiegte die Canninefaten*, Attuarier (Chattuarier?) und Brukterer: "subacti Canninefates, Attuari, Bructeri" - im Gegensatz zum folgenden recepti Cherusci - namhm die Cherusker wieder in die Obhut des römischen Volkes auf, so die Übersetzung von Marion Giebel. Rainer Wiegels meint (in Feindliche Nachbarn - Rom und die Germanen, 2008, dass die Chersuker wieder in ein vertragliches Verhältnis aufgenommen wurden, das offenbar schon vorher bestanden hätte - allerdings gelang es 1 n.Chr. dem römischen Statthalter L Domitius Ahenobarbus nicht, vertriebene Cherusker in ihren Stamm zurückzuführen (Dio 55,10a,2 f, ). Johne meint infolge des Großen Krieges wäre Rom von der indirekten Kontrolle zur direkten übergegangen - dafür spricht, dass Ahenobarbus erfolglos sich in die Rechtssprechung der Cherusker eingemischt hat, die offensichtlich eigenständig eine (römerfreundliche?**) Fraktion verbannt hatten, während Varus bei den Cheruskern Recht sprach (Johne, Die Römer an der Elbe, 2006, S.128). Kehne spricht von einer Amicata mit den Cherusci von 7 v.Chr. bis 1 n.Chr. bis zum Ausbruch des Immensum Bellum - ohne förmlichen Staatsvertrag - die geräumten Militärstandorte rechtrheinisch lassen darauf schließen, dass es bei den Cheruskern keine Besatzungstruppen gab, nach dem Krieg und der erfolgten Kapitulation (deditio) wurden die Cherusci nach Kehne Foederati, und nahmen damit eine zentrale Stellung in der römischen Germanienpolitik ein, entrichteten Abgaben) und stellten Hilfstruppen (Kehne, S.20-21, 2008).

Ich weiß, ihr diskutiert schon ein anderes Thema, ich trage daher in "eigener Sache" etwas nach. Inzwischen habe ich dank Lektüre weitere Hinweise gefunden, warum von einem foedus mit den Cheruskern ab 8 v.. Chr. zu rechnen ist. Ich schrieb in meinem o.g. Beitrag, dass ich dazu z.B. bei Peter Kehne nichts gefunden hätte.

Nun habe ich die Hinweise in den Quellen*:

Strabon ( VII, Kap. 1, 4)
:
"Angefangen hatten den Krieg die in der Nähe des Rheins wohnenden Sygambrer (Sugambrer), unter Anführung des Melo. Von da an nun folgten anderwärts andere nach, bald herrschend, bald bezwungen, bald wiederabfallend und sowohl ihre Geiseln als die Verträge verratend. Gegen diese nun ist Mißtrauen von großem Nutzen; denn diejenigen, denen man traute, schadeten am meisten, wie die Cherusker und deren Vasallen, bei denen drei römische Legionen mit ihrem Anführer Quintius Varus vertragswidrig von einem Hinterhalt aus vernichtet wurden."

Tacitus, Rede des Segestes* Ann.1,57-58,2:
Auch brachte man Raub aus des Varus Niederlage, der meist denen, die jetzt sich ergaben, als Beute zugefallen war; mit diesen erschien Segestes selbst,mächtig von Ansehen und im Beußtsein seiner Bundestreue unerschrocken. Seine Worte waren etwa folgende:
"Dies ist nicht der erste Tag, der meine Treue und Beständigkeit dem römischen Volke bezeugt. Seit ich von dem göttlichen Augustus mit dem Bürgerrecht beschenkt worden bin, habe ich Freunde und Feinde nach eurem Vorteil gewählt, und nicht aus Haß gegen mein Vaterland, _denn Verräter sind ja selbst denen verhaßt, für die sie arbeiten - nein, weil ich dasselbe den Römern und Germanen für vorteilhaft, und den Frieden für besser erachte als den Krieg. Darum klagte ich Arminius, den Räuber meiner Tochter, Bundbrüchigen an euch bei Varus an, der damals an des Heeres Spitze stand."


Das römische Rechtsverständnis unterscheidet nicht trennscharf zwischen persönlicher Treue und dem Treueverhältnis eines Gemeinwesens,
sie war „immer zugleich amicitia publica und amicitia privata“ (Wolters, 1990) der Vertragsabschließenden. Daher kann die hier proklamierte Bundestreue von Segestes als Prinzeps der Cherusker übertragen auf eine politische Bindung des Stammes hinweisen.

Und dazu habe ich entdeckt, dass Reinhard Wolters ebenfalls die Okkupationspolitik in Gallien mit der in Germanien verglichen hat, alles ist zu diesem Thema schon gedacht, dikutiert, rezensiert, vorgetragen und zu lesen gewesen. :(

Römische Eroberung und Herrschaftsorganisation in Gallien und Germanien. Zur Entstehung und Bedeutung der sogenannten Klientel-Randstaaten (= Bochumer Historische Studien. Alte Geschichte. Nr. 8). Universitätsverlag Dr. Norbert Brockmeyer, Bochum 1990

*Ich habe noch einen HInweis auf Manilius I, 898 ud auf Orosius Hist. 6, 21, 13 gefunden, die Bücher habe ich jedoch nicht.
**Zu Reden bei Tacitus zitiere ich Stephan Berke: "
Gerade auch bei dem Inhalt der Reden, die Tacitus einzelnen Persönlichkeiten in den Mund legt, ist Vorsicht geboten.
Auch nach der Meinung des Verf. handelt es sich bei diesen konstruierten Reden um einen literarischen Kunstgriff, um Ereignisse, Meinungen und Überzeugungen kompiliert an

den (römischen) Leser zu bringen." (Fußnote im Prolog von Haltern und Germanicus, 2021)
 
Zuletzt bearbeitet:
  • Erstens müssen wir davon ausgehen, dass Tacitus wusste wovon er schrieb.
  • Zweitens wussten seine Leser wovon er schrieb.
Wer diese Texte zu lesen bekam, in einer teuren Abschrift, wusste von der Niederlage des Varus und den Feldzügen des Germanicus.
Das Publikum des Tacitus gehörte der Elite an.
Und an diese Elite wandte er sich, in Zuspitzung und Wertung, mit einer pointierten Zusammenfassung bekannter und andernorts dokumentierter Ereignisse.
Wer diese Schriftrollen besaß, las sie aufmerksam, und las auch zwischen den Zeilen.

@Sepiola, da ist nichts wirr und ungeordnet in den Annalen und der Germania. Wie hätte denn ein besserer Bericht aussehen können?

Ich sehe Dein Interesse an Kausalität und Nachvollziehbarkeit der Ereignisse, und Du hast ja auch nicht von Tacitus die geographischen Koordinaten der Ereignisorte verlangt, und ich mag wenn die Detailfülle eher nebensächlicher Ereignisse hier kritisch einer gewissen Schwammigkeit in anderen Punkten gegenüber gestellt wird.

In Sprache, Stil, Inhalt und Zuspitzung ist er aber das beste was ich unter den römischen Geschichtsschreibern kenne.
Gerade finde ich die Ausgaben der Annalen von Tacitus in meinem Chaos nicht. Würde ich die jetzt zu Hand haben und zufällig eine Seite aufschlagen, käme ich da auf Arminius oder Segestes? Oder würde ich Gnaeus Calpurnius Piso als erstes finden? Oder Seianus? Hätte man Tacitus vor seinem Tod gefragt, welches Thema war das wichtigste in deinem literarischen Schaffen, wären die Rachefeldzüge des Germanicus in Germanien von ihm genannt worden? Ich bezweifele das. Und wenn das Germanicus-Thema gar nicht so prominent in seinem Wirken ist, interpretieren wir in die Tacitus-Worte nicht zu viel hinein? Der Mann wollte ein Werk über die für ihn jüngere römische Geschichte schreiben und an Livius anknüpfen. Da konnte man sicherlich nicht monatelang an so einem Randthema wie die Germanicus-Feldzüge arbeiten. Er wird das Werk von Plinius über die nordischen Kriege noch einmal zu Rate gezogen und dann in überschaubarer Zeit dieses Thema in Wachs geschrieben haben. Er konnte ja nicht wissen, dass 1.400 Iahre später die Humanisten im fernen Germanien seine Worte wie Nektar aufsaugen würden. Und diese Begeisterung dann 500 Jahre anhalten würde. Er sah es als seine Chronistenpflicht an, über die drei Jahre zu schreiben, welche Germanicus in Germanien Krieg geführt hatte. Er sah es aber auch als seine Pflicht an, über die Parther zu schreiben. Deshalb sind die überschaubaren Zeilen von Tacitus sicherlich nicht in der Sorgfältigkeit einer Enquete-Kommission erstellt worden. Wir hängen diese Texte viel zu hoch.
 
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