Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

@dekumatland In Sachen "Königssippe" oder anders gearteten Herrscherfamilien sieht es bei den Sachsen aber doch auch nicht so gut aus. Im Kampf gegen Karl den Großen positioniert sich Widukind in einer Führungsposition. Man weiß nichts über seine Vorfahren. Er scheint auch keine Kinder gehabt zu haben. Heinrich I. als Stammvater der Ottonen taucht dann in der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert auf.
Aber in der Zeit, die wir ja eigentlich betrachten, das 6./7. Jahrhundert wüsste ich keine sächsischen Königs- Dux- oder Herzogsfamilien.
 
@Stilicho sind das nicht ein paar auffällige Unterschiede?

Zugegeben, das sind Unterschiede. Aber doch mehr auf der Zeitachse. Die anderen Gruppierungen hatten schon eine längere Tradition, ehe sie unter fränkische Herrschaft gerieten. Ob die Baiuwaren vor den Aigolfingern kurzzeitig schon so etwas wie Herrscher hatten, wissen wir schlicht nicht.
Apropos Alemannen: Hatten die wirklich Königssippen? Oder war es mehr die römische Großzügigkeit, jeden noch so unbedeutenden Warlord als "rex" zu bezeichnen?
 
@Ugh Valencia deswegen habe ich doch in meinem vorigen Beitrag den Sachsen auch keine Königssippe angedichtet, sondern nur darauf verwiesen, dass sie offenbar eine eigene sächsische Tradition hatten (Saxnot & Uuodan usw) - und so eine frühbairische Tradition kennen wir nicht.
 
Apropos Alemannen: Hatten die wirklich Königssippen? Oder war es mehr die römische Großzügigkeit, jeden noch so unbedeutenden Warlord als "rex" zu bezeichnen?
die verschiedenen Gruppen der Alemannen kriegten es wohl nicht hin, sich langfristig auf eine Herrschaftssippe zu einigen (kurzfristig soll es das gegeben haben) - immerhin kennen wir die Namen von ein paar Warlords, welche von den Römern als "Rex" bezeichnet wurden, und wissen, dass sie Verträge nicht wirklich gerne einhielten...
 
Die anderen Gruppierungen hatten schon eine längere Tradition, ehe sie unter fränkische Herrschaft gerieten. Ob die Baiuwaren vor den Aigolfingern kurzzeitig schon so etwas wie Herrscher hatten, wissen wir schlicht nicht.
Sehe ich eigentlich auch so - obendrein wissen wir nicht genau, seit wann man von Baiuwaren als eigenständiger politischer Größe reden kann (vermutlich ab Ende des 5. Jhs.)
Ziemlich übersichtlich und plausibel finde ich die Tante Wiki Artikel über die Provinzen Noricum und Raetien. hier aus dem über Raetien:
Pro forma beanspruchte noch der germanische Heerführer Odoaker, der den letzten römischen Kaiser abgesetzt hatte, Rätien für sein Königreich Italien. Ab etwa 500 setzte eine verstärkte Besiedlung durch Alamannen ein, wobei aber zumindest Teile der romanisierten keltischen Zivilbevölkerung im Land geblieben sein werden, da sich eine größere Zahl entsprechender Orts- und Flussnamen erhalten hat. Die Alamannen der nördlichen Gaue, die 496 durch die Franken unter Chlodwig I. besiegt wurden, stellten sich Chlodwig erneut im Jahre 506 entgegen, wo sie in der Schlacht bei Straßburg eine endgültige Niederlage erlitten. Ihre Gaue fielen nun unwiederbringlich an die Franken, was eine Flucht der dort ansässigen Alamannen mit sich brachte. Diese flohen nun nach Rätien, das zu jener Zeit dem Kriegerverband der Ostgoten unterstand; deren rex Theoderich nahm sie einer Notiz des Magnus Felix Ennodius zufolge im Jahr 506 n. Chr. in sein Reich auf, weil er sich von ihnen eine bessere Grenzsicherung gegen die vorrückenden Franken erhoffte. Theoderich wandte sich an seinen Schwager Chlodwig I. und legte für die Alamannen Fürsprache ein, erkannte jedoch den Zorn Chlodwigs für berechtigt an. Er bat darum lediglich die Schuldigen zu bestrafen und empfahl Mäßigung bei den Strafen. Theoderich versprach dafür, dass er dafür sorgen werde, dass sich die Alamannen, die sich im römischen Gebiet in Rätien befanden, ihrerseits ebenfalls ruhig verhielten. Zwischen den Zeilen machte Theoderich damit klar, dass er damit auf das strittige Gebiet Rätiens Anspruch erhob und die Alamannen als Druckmittel gegen Chlodwig einsetzen werde, falls dieser seine Vorherrschaft dort nicht anerkannte.[47]

Das Siedlungsgebiet der Alamannen dehnte sich spätestens jetzt von der Iller bis über den Lech aus. Östlich des Lech, davon gehen heute die meisten Historiker und Archäologen aus, entstand aus den verbliebenen keltischen Vindelikern, der römischen Zivilbevölkerung, den eingewanderten Alamannen sowie weiteren Gruppen (elb-)germanischer Stämme wie zum Beispiel der Markomannen ein neuer germanischer Großverband, die Bajuwaren oder Baiern (siehe Ethnogenese). Im Gegensatz zu älteren Meinungen gibt es dabei offenbar keine Anzeichen für eine Einwanderung eines schon vorher existierenden einheitlichen bajuwarischen Stammes aus dem heutigen Böhmen, da eine weitgehende Kontinuität der Bevölkerung im Alpenvorland auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches gegeben ist. Diese Entwicklung betraf jedoch über den Inn hinweg auch die (frühere) römische Provinz Noricum.

Ausgrabungen belegen, dass die zur Raetia I gehörenden Gebiete auch weiterhin enge Verbindungen mit dem italischen Mutterland unterhielten, sicher auch deswegen, da sie zwischen 493 und 536 zum Ostgotenreich gehörten. Trotz aller Ungewissheiten über die Übergangszeit von der Spätantike ins Frühmittelalter waren einige Kastelle, wie zum Beispiel Arbon, Bregenz und Konstanz, Keimzellen für die Entwicklung zu prosperierenden mittelalterlichen Städten. Die Verbindungen der transalpinen Raetia nach Süden waren aber von nun an, spätestens seit der Zerschlagung des Ostgotenreiches durch den oströmischen Kaiser Justinian um 540, nicht mehr politisch bestimmend, und so verlor die römische Kultur und lateinische Sprache nach und nach ihren Einfluss. Jedoch überlebten keltische und römische Begriffe und Ortsnamen im Wortschatz der verbliebenen Mischbevölkerung. Rund um den Bodensee fanden irische Mönche um Pirminius im 6. Jahrhundert stark verwilderte christliche Gemeinden. Es folgten die Neugründungen von Kirchen und Klöstern auf der Reichenau.

Im südlichen, alpinen Bereich der früheren Raetia (insbesondere der Raetia prima) blieb die politische bzw. vor allem kulturelle Verbindung zu Italien noch längere Zeit bestehen, und die lateinische bzw. romanische Sprache und der christliche Glaube überdauerten die Völkerwanderungszeit. Die Bezeichnung Raetia wurde später nur noch für Gebiete in der Raetia prima verwendet. Daneben erscheint auch die deutsche Bezeichnung Churrätien.
aus Raetia – Wikipedia
sieht so aus, als "entstanden" die Baiuwaren halt doch sehr spät (um die wende zum 6. Jh.) und es gab wohl keine einwandernden älteren Baierngruppen - kein Wunder, dass man ergo auch nichts über eine lange, alte Tradition samt Traditionskernen etc weiß: es hat wohl keine gegeben. Und der Name scheint - ob selbst gegeben oder von außen - mit der raetisch-norischen Gegend, nicht mit antiken Völkern zu tun zu haben.
 
Der Name der Bayern wirft ein paar Fragen auf, dito ihre Ethnogenese, gerade weil sie ab ovo eben nicht wie alle anderen oder die meisten völkerwanderungszeitlichen Gentes ihre eigenen Leute als Oberchefs und Traditionskern hatten (also wie Goten Amaler, Franken Merowinger usw usw), sondern die (vermutlich fränkischen? jedenfalls nicht urbairischen) Agilolfinger als Chefs vorgesetzt bekamen (!), sich als "Stamm" aber nicht nach diesen benannten.
Die ethnische Zugehörigkeit der völkerwanderungszeitlichen Warlords ist ziemlich schwammig, da es offenbar üblich war über Stammesgrenzen hinweg aber innerhalb dieser neuen Oberschicht zu heiraten. Garibald I. spielt anscheinend schon in der gleichen Liga wie die Merowinger und die langobardischen Könige.
Nach welchem Agilulf, die Agilolfinger benannt wurden, ist nicht überliefert. Aufgrund der weitreichenden Beziehungen kommt eigentlich jeder Agilulf als Stammvater infrage - egal ob es sich um einen König der Sueben oder Langobarden handelt.
Wenn die Agilolfinger in der Fredegar-Chronik ein fränkischen Geschlecht gehalten werden, ist das sicherlich nur eine Sichtweise von vielen.
Dass bajuwarische Adelsgeschlechter schon damals richtige Namen hatten, ist sehr ungewöhnlich. Das bajuwarische Recht ist auch, dass einzige Stammesrecht, dass namentlich die Adelsgeschlechter aufführt und für die Besetzung des Herzogtum ein ganz bestimmes Geschlecht vorschreibt.

Hier noch ein abschreckendes Beispiel zur unklaren ethnischen Identität völkerwanderungszeitlicher Warlords:
Edikon war Botschafter der Hunnen in Byzanz und Fürst der Skiren und galt verschiedentlich Skythe oder Turkilinger, wobei letzteres auch eine andere Schreibweise der Thüringer oder gar der Türken sein könnte.
Odoakers als Sohn Edikons und einer skirischen Prinzessin, Odoakers Gefolge als König von Italien bestand aus Turkilinger, Skiren, Herulern und "diversen" Stämmen.
Ich will jetzt gar nicht aufdröseln, warum Edokon und Odoaker von antiken Geschichtsschreibern und neuzeitlichen Historikern manchmal für dieses und manchmal für jenes gehalten wurden. Das soll viel mehr ein Beispiel sein für die Flexibilität bei des Stammeszugehörigkeiten sein.
Vor seinem Zug nach Italien war Odoaker wahrscheinlich in dem Gebiet aktiv, wo Jahrzehnte später die Bajuwaren auftauchen.

Im Gräberfeld von Regensburg-Irlmauth sind auch auch mehrere Skelette von Männern und Frauen mit Turmschädeln gefunden wurde, die eine stark hunnische Prägung andeuten. Eine Hunnenidentität wird den Regensburgern nach dem Ende Attilas nicht mehr gefallen haben. Der Ruf der Hunnen war einfach nur schlecht. Egal, ob man in der Ursula-Legende, der Gotengeschichte von Jordanes oder im Hildebrandslied nimmt - in allen fränkischen und gotischen Quellen werden die Hunnen regelrecht dämonisiert. Und jetzt hatte diese Leute in Regensburg um 500 immer noch hunnische Turmschädel, die zum Zeitpunkt ihrer Geburt, der Blütezeit der Hunnen, so angesagt waren. Da war es sicherlich besser sich eine neue Stammesidentität zu suchen.
Mit der Angliederung ans Frankenreich wurde es zur Hauptaufgabe der Leute Regensburg unter dem neuen Dux die Awaren abzuwehren, die die Franken meist einfach nur die Hunnen nannten. Da klingt es doch besser, wenn man sagt, man sei Bajuware, auch wenn der Vater augenscheinlich noch ein alter Hunne war.
Ob erste Dux jetzt ein zugereister Franke war oder ein Einheimischer war, ist nur eine Detailfrage.
Klar ist nur, dass Mitte der 6. Jahrhundert diese Bajuwaren und Agilolfinger plötzlich da sind und anscheinend fest zusammengehören.

Bezugnehmend auf die Nummer 22 oben - warum gab es dann in Passau die Kastelle Boiodurum und Boiotro?

Mir ist nicht klar, warum man hier eine Herkunft aus Böhmen braucht.
Bezüge zu "Boio" waren doch in der Gegend allgegenwärtig.
Wenn man sich Passau auf der Karte anschaut, fällt natürlich auf, dass es fast schon an der Grenze zu Böhmen liegt. Der Unterschied ist nicht so groß.

Ich weiß es nicht - wie bezeichneten die Ostgoten zu Theoderichs Regierungszeit diese Region? Schon wie um 550 von Iordanes Baiovari oder noch als Noricum?
Jordanes nennt die Bajuwaren nur, um die "Suavia", das Suebenreich des Hunimund zu lokalisieren. Für die Bajuwaren interessiert er sich gar nicht.
Nach Jordanes bewohnen die Alamannen nur die Alpen, nördlich davon sind diese Sueben. Westlich der Sueben sind bereits die Franken, nördlich die Thüringer und östlich die Bajuwaren, über die Jordanes ansonsten nichts weiß.
Dieser König Hunimund ist mit seinen Sueben laut Jordanes aus Pannonien eingewandert, müsste dafür Bayern durchquert haben.

Noch verwirrender sind die Angaben bei Paulus Diaconus über die Wanderung der Langobarden. Die Langobarden hätten erst Burgundaib, dann Bainab und Anthaib durchzogen, um sich dann in Rugiland niederzulassen. Diese Gebiete sind wahrscheinlich nach irgendwelchen gentes benannt. Welchen Land der Burgunden gemeint sein soll, ist natürlich unklar. In Bainab kann man vielleicht das rätselhafte *Baia sehen, nach dem die Bajuwaren benannt sind. Die Anten sind vermutlich ein slawischenr Volkstamm, denn auch Jordanes kennt. Rugiland ließe sich noch am leichtesten als ehemalige Rugier-Königreich an der Donau lokalisieren. Rugiland und Bainab können eigentlich nicht identisch sein, wenn die Wanderungsgeschichte einen Sinn ergeben soll.
 
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---- off-topic---
mit Turmschädeln
@Maglor diese "Mode" scheint sich nicht nur auf die Hunnen zu beschränken (?!) ich meine gelesen zu haben, dass man die Turmschädel auch in als burgundisch eingeordneten Gräbern gefunden hat (und nicht nur dort) - weißt du mehr über diese Mode und lohnt sich ein extra Faden dafür?
upps, gerade darüber gestolpert:
Diese Sitte entstand im 1. Jahrhundert in Zentralasien. Sie gelangte im 5. Jahrhundert mit den einfallenden Hunnen nach Zentraleuropa. Es finden sich Nachweise von Turmschädeln in den Gräbern von Alamannen, Awaren, Burgunden, Franken, Goten und Thüringern, wo diese Sitte etwa zwei bis drei Generationen lang in Mode war.
Turmschädel – Wikipedia
und "das Rätsel der Turmschädelfrauen. Bayern im Mittelalter":
Bayern im Mittelalter: Das Rätsel der Turmschädel-Frauen | BR.de


----ok, genug davon-----
 
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Ich entnahm dem Museumskatalog des Historischen Museums Regensburg "Regensburg im Mittelater" von 1995 (Herausgeber Martin Angerer), die Information in Irlmauth (Landkreis Regensburg) seien Turmschädel von Männern und Frauen gefunden worden. Hier wurde ausdrücklich daraufhingewiesen, dass Turmschädel bei Männern in Mitteleuropa noch sehr ungewöhnlicher seien als bei Frauen. Ferner wurde darauf hingewiesen, die die Frau mit Turmschädel "ostgotische" Fibeln als Beigabe habe. Allerdings würden die Ostgotinnen in Italien die Fibeln an den Schultern tragen, während die Frau aus Irlmauth sie an der Hüfte trug.
Diese Infos sind inzwischen vielleicht auch komplett überholt.

Wichtiger als die genetischen Untersuchungen finde ich die Aussage des antiken Autors Sidonius Appolinaris, dass die Hunnen Schädeldeformationen durchführen. Durch die Schriftquelle ist eindeutig nachgewiesen, dass die Praxis der Schädeldeformation als typisch hunnisch galt. Jordanes berichtet hingegen, dass die Hunnen die Gesichter ihren Kinder mit Narben übersehen.
Die archäologisch nachgewiesene Turmschädel in Mitteleuropa fallen weitestgehend in die Attilzeit.
Die Gene sind mir ganz egal.
 
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Übrigens schreibt Wolfram: "Unter der Herrschaft Theoderichs des Großen kamen die Ostgoten nach Westen, und zwar sowohl nach Spanien als auch ins westgotische Restgallien. Dieser sprachliche Import könnte eine vorübergehende Unterbrechung oder zumindest Verlangsamung der vollständigen Romanisierung der Westgoten bewirkt haben."
... was nur heißt, dass die Goten im westgotischen Restgallien zu diesem Zeitpunkt noch zweisprachig war.
Das möchte ich gar nicht bestreiten. Mir geht es nur darum, dass die Romanisierung der Westgoten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts weiter fortgeschritten war als die der Ostgoten.
Da darf ich vielleicht eine Frage anschließen: Stammt denn überhaupt irgendeines der schriftlichen Zeugnisse des Gotischen aus dem westgotischen Bereich? Neben dem codex argenteus gibt es ja noch ein paar andere.
 
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Ob man im kriegsgebeutelten und teilentvölkerten Ufernoricum in den wenigen befriedeten Jährchen unter Theoderich die Muße hatte, sich gelehrsam Völkerlisten anzuschauen, die die Zustände rund 500 Jahre zuvor - noch vor den Römern - beschreiben, um sich daraus einen Namen nebst "Stamnestradition" zu basteln, kommt mir nicht ganz so plausibel vor.
Das Argument ist, dass es möglicherweise darum ging, den eigenen Herrschaftsanspruch dadurch zu untermauern, dass man sich in eine Tradition stellte, die unabhängig von den bis vor kurzem noch geltenden Verwaltungsstrukturen des Imperiums stand.
 
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kein Wunder, dass man ergo auch nichts über eine lange, alte Tradition samt Traditionskernen etc weiß: es hat wohl keine gegeben.

Um da mal eine andere Stimme zu zitieren: Jan Paul Niederkorn* meint, Reste einer Stammessage identifizieren zu können:
"Die teilweise auf einen Text des ausgehenden 8. Jahrhunderts zurückgehende, im 'Norikerkapitel' der Passio secunda S. Quirini überlieferte Version der bayerischen Stammessage entspricht dort, wo sie von der Vertreibung der Noriker und der Rückkehr ihrer Nachfahren, der Bayern, in die früheren Wohnsitze berichtet, der Herkunftsüberlierfung jenes Traditionskerns, der die Bildung des bajuwarischen Großstammes zustande gebracht hat, und diese Herkunftstradition geht auf historische Ereignisse zurück, die in spätantiken Quellen bezeugt sind: Die Niederwerfung der Nori rebellantes, die sich bei Einfällen der Juthungen nach Raetien und Noricum erhoben hatten, durch römische Truppen unter dem Kommando des Aetius in den Jahren 430 und 431."

Siehe dazu Alheydis Plassmann**:
Die Anfänge der Bayern in Chronik, Heiligenlegende und Geschichtsdichtung – Historisches Lexikon Bayerns
(Zu Niederkorns Thesen gäbe es noch einiges mehr kritisch anzumerken...)


* "Tum Bavvarica velut nova generatio venit vel rediit ...". Überlegungen zu Stammesage und Stammesbildung der Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 2005 (Band 68, Heft 1)
sowie
Noriker - Bajuwaren - Agilolfinger. Revistionistische Thesen zur Frühgeschichte Bayerns, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 2014 (Band 77, Heft 2)

** Ausführlicher zur Thematik: Alheydis Plassmann, Zur Origo-Problematik unter besonderer Berücksichtigung der Baiern, in: Hubert Fehr und Irmtraut Heitmeier (Hrsg.), Die Anfänge Bayerns - von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2012
 
Jetzt möchte ich noch auf eine meiner Meinung nach interessante, aber auch arg abenteuerliche Theorie zur Genese des Herzogtums hinweisen, die Irmtraut Heitmeier vor ein paar Jahren in dem von ihr und Hubert Fehr herausgegebenen Sammelband "Die Anfänge Bayerns" entwickelt hat. Sie geht von der Merkwürdigkeit aus, dass sich die Baiern schon sehr früh als Noriker sahen, obwohl, wie oben ja diskutiert wurde, nur der äußerste Osten des frühesten Baiern nach Noricum hineinragte. Außerdem sei auffällig, dass im Osten Baierns (also östlich des Inns) die Position des Herzogs viel stärker und die des Adels schwächer war als im Osten (was schon Friedrich Prinz festgestellt habe). Und schließlich weist sie darauf hin, dass Noricum anders als Raetia nicht zu Italia, sondern zum Illyricum zählte, und Ostrom deshalb auch zu der Zeit, als es die Herrschaft Theoderichs in Italien anerkannte, Anspruch auf die norischen Provinzen erheben konnte.
Aus diesen Auffälligkeiten leitet sie her, dass das ursprüngliche bairische Herzogtum bald nach 500 mit Unterstützung Ostroms in Ufernoricum und außerhalb der ostgotischen Einflusszone entstanden sein könne, getragen von einer möglicherweise sehr kleinen Kriegerelite, die im Zuge des Siegs über die Heruler mit den Langobarden aus Böhmen gekommen sei. Der Dux dieses Herzogtums sein souveräner gewesen als der dux, den die Franken einige Zeit später in Rätien eingesetzt hätten. Dieser rätische dux Garibald hätte dann auf das norische Herzogtum übergegriffen, und dessen Identität hätte sich im Lauf der Zeit auf den gesamten Herrschaftsbereich von Garibald und seinen Nachfolgern übertragen. (Hoffentlich habe ich das einigermaßen korrekt zusammengefasst.)
 
... was nur heißt, dass die Goten im westgotischen Restgallien zu diesem Zeitpunkt noch zweisprachig war.
Mir geht es nur darum, dass die Romanisierung der Westgoten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts weiter fortgeschritten war als die der Ostgoten.

Und woran machst Du diese These fest? Daran, dass keine eindeutig als westgotisch bestimmbaren Bibelfragmente erhalten geblieben sind? Für einige Palimpseste ist immerhin die Möglichkeit westgotischer Herkunft erwogen worden (Elfriede Stutz, Gotische Literaturdenkmäler, Stuttgart 1966, S. 21; ob das noch heutigem Stand entspricht, weiß ich nicht.)

EDIT:
Bei Wolfgang Griepentrog, Zur Text- und Überlieferungsgeschichte gotischer Evangelientexte, Innsbruck 1990, S. 28 finde ich folgende Fußnote:
"Daß ln westgotischen Metropolen mehrere gotische Bibeln existiert haben, ist uns indirekt in der Historia Francorum (III, 10) des Gregor von Tours überliefert. Er berichtet, daß dem Franken Childebert bei der Eroberung von Narbonne im Jahre 531 "viginti evangeliorum capsas" (d.h. 20 Bibelkästchen) ln die Hände gefallen sind. Daß sich in diesen Kästchen gotische Bibeln befanden, halte ich für sehr wahrscheinlich."
 
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Mir geht es nur darum, dass die Romanisierung der Westgoten in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts weiter fortgeschritten war als die der Ostgoten.
Und woran machst Du diese These fest?
Die schriftlichen Hinterlassenschaften sind natürlich schon Indizien.
Ich lese auch, dass man Westgoten archäologisch in Frankreich kaum nachweisen kann, weil sie sich schon so weit assimiliert hatten.

Außerdem, wie gesagt, schreibt Wolfram: "Unter der Herrschaft Theoderichs des Großen kamen die Ostgoten nach Westen, und zwar sowohl nach Spanien als auch ins westgotische Restgallien. Dieser sprachliche Import könnte eine vorübergehende Unterbrechung oder zumindest Verlangsamung der vollständigen Romanisierung der Westgoten bewirkt haben."
Aber das ist natürlich nur ein argumentum ad verecundiam.

Und dann haben die Westgoten viel länger in romanischen Gebieten gelebt, ab 408 ungefähr, davor ab ungefähr 378 auf dem römischen Balkan, wo unter anderen Sprachen auch Latein gesprochen wurde, die Ostgoten haben noch außerhalb des Imperiums 455 mit den Hunnen gefochten, danach waren sie bis 488 auf dem gemischtsprachigen Balkan, bevor sie nach Italien kamen.

Klar, alles keine handfesten Beweise!
 
Außerdem, wie gesagt, schreibt Wolfram: "Unter der Herrschaft Theoderichs des Großen kamen die Ostgoten nach Westen, und zwar sowohl nach Spanien als auch ins westgotische Restgallien. Dieser sprachliche Import könnte eine vorübergehende Unterbrechung oder zumindest Verlangsamung der vollständigen Romanisierung der Westgoten bewirkt haben."
Aber das ist natürlich nur ein argumentum ad verecundiam.
Das ist wie gesagt überhaupt kein Argument, eine Aussage über den Romanisierungsgrad ist hier nicht enthalten.

Und dann haben die Westgoten viel länger in romanischen Gebieten gelebt, ab 408 ungefähr
Das ist allerdings ein Argument.

... davor ab ungefähr 378 auf dem römischen Balkan
... und zwar in Thrakien, wo Griechisch dominierte.
Die Ostgoten siedelten hingegen in Pannonien, wo Latein gesprochen wurde.
 
Das ist wie gesagt überhaupt kein Argument, eine Aussage über den Romanisierungsgrad ist hier nicht enthalten.
Das sehe ich anders. Nach Wolfram könnte der sprachliche Import von den Ostgoten die Romanisierung aufgehalten haben. Warum? Weil nach Meinung Wolframs bei den Ostgoten das Gotische noch eine größere Rolle gespielt hat.
 
Um da mal eine andere Stimme zu zitieren: Jan Paul Niederkorn* meint, Reste einer Stammessage identifizieren zu können:
"(...) der Herkunftsüberlierfung jenes Traditionskerns, der die Bildung des bajuwarischen Großstammes zustande gebracht hat, und diese Herkunftstradition geht auf historische Ereignisse zurück, die in spätantiken Quellen bezeugt sind: Die Niederwerfung der Nori rebellantes, die sich bei Einfällen der Juthungen nach Raetien und Noricum erhoben hatten, durch römische Truppen unter dem Kommando des Aetius in den Jahren 430 und 431."(...)
(Zu Niederkorns Thesen gäbe es noch einiges mehr kritisch anzumerken...)
zu kritischen Anmerkungen bin ich nicht berufen, aber eine komische gönne ich mir: das wäre dann eine innovative Variante, die man als tricky Herkunftsüberlieferung bezeichnen kann: "wir nennen uns nach den Boiern, weil wir tapfere Noriker sind, s´st mal bei uns so Sitte, pfüeti" :D (angenommen, man fände einen urbayrischen Runenstein anno domini um 500, der diese Geschichte erzählt, so wäre er der Nachweis, dass schon vor den Agilolfingern das Weissbier samt Maßkrügen erfunden war und in Strömen floss)

fas so kurios wie die Norikerbayern, die sich Boier/Böhmerbayern nennen, ist die nächste Variante:
Aus diesen Auffälligkeiten leitet sie her, dass das ursprüngliche bairische Herzogtum bald nach 500 mit Unterstützung Ostroms in Ufernoricum und außerhalb der ostgotischen Einflusszone entstanden sein könne, getragen von einer möglicherweise sehr kleinen Kriegerelite, die im Zuge des Siegs über die Heruler mit den Langobarden aus Böhmen gekommen sei. Der Dux dieses Herzogtums sein souveräner gewesen als der dux, den die Franken einige Zeit später in Rätien eingesetzt hätten. Dieser rätische dux Garibald hätte dann auf das norische Herzogtum übergegriffen, und dessen Identität hätte sich im Lauf der Zeit auf den gesamten Herrschaftsbereich von Garibald und seinen Nachfolgern übertragen.
Interessant ist die Überlegung, dass ein Herzogtum von Baiuvari außerhalb der ostgotischen Einflusssphäre entstanden sein könnte - aber hatte Theoderich auf der Höhe seiner quasi purpurmanteligen Macht peinlich darauf geachtet, keinesfalls die Grenze von Raetia nach Noricum ripense zu überschreiten? Zudem macht stutzig, dass das weiter östlich so starke Herzogtum der Frühbayern sich vom schwächeren raetischen Herzogtum der Agilolfinger hat annektieren lassen... so wirklich plausibel klingt diese Geschichte auch nicht (ein mächtiger, gar oströmisch protegierter Traditionskern mit starken Herzogtümern, der sich von schlapperen fränkisch eingesetzten Agilolfleuten dominieren lässt) - @Clemens64 du hast sie ja zutreffend als abenteuerlich bezeichnet.

Immerhin sehen wir an diesen Versuchen, eine Origo Gentis der Baiuvari zu rekonstruieren oder zu erfinden, dass für die Ethnogenese der Zeitraum spätes 5. bis Anfang/Mitte 6. Jh. communis opinio zu sein scheint, ebenso der geografische Raum, nämlich Raetien UND Teile von Ufernorikum. Letzteres ist insofern interessant, da scheinbar die Grenze zwischen ex-weströmischer und oströmischer Sphäre hierbei überschritten ist oder womöglich zu dieser Zeit in dieser Gegend keine sonderliche Rolle mehr spielte.
 
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