Ad Boias, qui nunc Baioarii vocantur

Die Idee, wonach "Walagothi" als "fremde Goten" zu verstehen seien, wird schon von Goffart vertreten. Wie ich nun sehe, war sich aber Goffart völlig darüber im Klaren, dass es Unsinn wäre, solchermaßen verstandene "Walagothi" in die Zeit um 520 zu verorten.

Um seine Datierung zu retten, schreibt er die "Walagothi" (ebenso wie die Saxones) einer etwa 200 Jahre später erfolgten Redaktion zu.
Die von Goffart rekonstruierte Fassung gehört also nicht in die 520er Jahre, sondern in die karolingische Zeit...
In der Fassung, die @Clemens64 präsentiert, sind die Saxones ausgemerzt, die Walagothi jedoch dringeblieben.
Ich bin gerade unterwegs und habe die Texte nicht griffbereit, ich glaube mich aber zu erinnern, dass Goffart meint, ursprünglich (nämlich in den 520ern) habe es statt Walagothi Visigoti, also Westgoten geheißen. Und was die Saxones betrifft, ist es so, dass Goffart sie tatsächlich in seiner Rekonstruktion drin hat, nachher aber (meiner Meinung nach überzeugend) meint, sie seien auch später dazugekommen.
 
Ich spekulier mal: Könnten mit Eukier die Basken gemeint sein? Auf Baskisch heißt deren Land Euskadi oder Euskal Herria.

Ich kann zurzeit das nicht nachschauen, aber ich denke, die Euscari oder so werden noch in einem Gedicht von Fortunatus erwähnt, aus dem hervorgeht, dass sie in Jütland zu verorten sind. Sie stehen ja auch bei Theudebert neben den Saxen.
 
Ich bin gerade unterwegs und habe die Texte nicht griffbereit, ich glaube mich aber zu erinnern, dass Goffart meint, ursprünglich (nämlich in den 520ern) habe es statt Walagothi Visigoti, also Westgoten geheißen.
Das ist nun extrem unwahrscheinlich. Walagothos ist ein Hapax legomenon, aber es kommt in allen bekannten Fassungen des Textes vor. Die Annahme, dass alle bekannten Fassungen abweichend vom Urtyp eine andere dann aber gleiche Variante haben - und dann noch ausgerechnet ein Hapax!!! - ist (trotz Sepiolas scherzhaften Einwand) ist absolut unvernünftig, zumal es völlig schleierhaft ist, warum ein etablierter Stammesname durch einen anderen ersetzt wurde, der dann aber nie wieder verwendet wurde. Das Gegenteil ist viel logischer: Wenn der Text ostgothischen Ursprungs ist, dann muss man Walagothos als „mächtige Goten“ lesen und damit sind dann natürlich die Ostgoten gemeint.
 
Die erhaltenen Fassungen der Völkertafel stammen alle von einer Fassung aus der Zeit um 800 ab.
Gemeint ist natürlich "um 700".

Und was die Saxones betrifft, ist es so, dass Goffart sie tatsächlich in seiner Rekonstruktion drin hat, nachher aber (meiner Meinung nach überzeugend) meint, sie seien auch später dazugekommen.
Ja klar, das, was Goffart rekonstruiert, ist der Text um 700.
Und falls es die von Goffart postulierte Fassung von ca. 520 gegeben hat, wird da eher Visigothi gestanden haben, aber nicht Walagothi.

Und auch die Burgunder und Langobarden hingen ja der Konfession an, die man so landläufig als arianisch bezeichnet.

Teile des burgundischen Hochadels waren katholisch, darunter Sigismund, der ab 516 regierte. Mit dem Ende der burgundischen Selbständigkeit 534 kam auch das Ende der homöischen Reichskirche.

Das "Quartett" aus Goten, Visigoten, Vandalen und Gepiden erklärt Goffart recht einleuchtend unter Hinweis auf byzantinische Quellen des 6. Jahrhunderts, so heißt es z. B. bei Prokopios:
"There were many Gothic nations in earlier times, just as also at the present, but the greatest and most important of all are the Goths, Vandals, Visigoths, and Gepaedes."
https://archive.org/details/L081ProcopiusIIHistoryOfTheWars34VandalicWar/page/n19/mode/2up

Demnach wird die Konfession hier nicht das Kriterium gewesen sein.

Mit der Erklärung der anderen "Quartette" tut sich Goffart allerdings auch schwer.
 
Das "Quartett" aus Goten, Visigoten, Vandalen und Gepiden erklärt Goffart recht einleuchtend unter Hinweis auf byzantinische Quellen des 6. Jahrhunderts, so heißt es z. B. bei Prokopios:
"There were many Gothic nations in earlier times, just as also at the present, but the greatest and most important of all are the Goths, Vandals, Visigoths, and Gepaedes."
https://archive.org/details/L081ProcopiusIIHistoryOfTheWars34VandalicWar/page/n19/mode/2up

Demnach wird die Konfession hier nicht das Kriterium gewesen sein.

Γοτθικὰ ἔθνη πολλὰ μὲν καὶ ἄλλα πρότερόν τε ἦν καὶ τανῦν ἔστι, τὰ δὲ δὴ πάντων μέγιστά τε καὶἀξιολογώτατα Γότθοι τέ εἰσι καὶ Βανδίλοι καὶ Οὐισίγοτθοι καὶ Γήπαιδες. πάλαι μέντοι Σαυρομάται καὶ Μελάγχλαινοι ὠνομάζοντο: εἰσὶ δὲ οἳ καὶ Γετικὰ ἔθνηταῦτ̓ ἐκάλουν.
 
Γοτθικὰ ἔθνη πολλὰ μὲν καὶ ἄλλα πρότερόν τε ἦν καὶ τανῦν ἔστι, τὰ δὲ δὴ πάντων μέγιστά τε καὶἀξιολογώτατα Γότθοι τέ εἰσι καὶ Βανδίλοι καὶ Οὐισίγοτθοι καὶ Γήπαιδες. πάλαι μέντοι Σαυρομάται καὶ Μελάγχλαινοι ὠνομάζοντο: εἰσὶ δὲ οἳ καὶ Γετικὰ ἔθνηταῦτ̓ ἐκάλουν.
Bei mir hat es mit dem Kopieren des griechischen Textes nicht geklappt...
 
Und was die Baioarii betrifft, heißt das:
Sogar wenn es sicher wäre, dass die Urfassung in den 520er Jahren entstanden ist, wäre es immer noch unsicher, ob sie die Baioarii erwähnt hat oder nicht.
Wie schon gesagt ist da nichts völlig sicher. Dass die Baiern von Anfang an dabei waren, dafür soricht aber, dass sie, glaube ich, in allen Versionen dabei sind und zwar jeweils in der zweiten Gruppe auf Platz 4. Es scheint plausibel, dass in der Urfassung eine Symmetrie angelegt war: jede der drei Gruppen bestand aus 4 Stämmen. Auch dass die Baiern als letzte ihrer Gruppe vorkommen, scheint sinnvoll, denn sie waren, als die Völkertafel vermutlich erstmals geschrieben wurde, ein recht junger und wenig ehrwürdigen Verband. Das passt alles ganz gut.
 
Insofern ist es eher wahrscheinlich, dass die Erwähnung der Bayern in der Getica von Iordanes (um 550) nicht ein späterer Zusatz durch Iordanes ist, sondern den "geografischen" Stand der verlorenen Gotengeschichte Cassiodors wiedergibt.
So ganz verstehe ich das nicht.
Hier werden ja zwei ganz widersprüchliche "geografische Stände" wiedergegeben.

Wir schreiben das Jahr 469.
Die Goten siedeln in Pannonien, südlich und westlich der Donau. Die Suawen unternehmen nun einen Plünderungszug, der sie nach Dalmatien führt, wobei sie das Land der Goten durchziehen und ihnen en passant ihr Vieh rauben.
Kurze Zeit später, nach der Schlacht an der Bolia, beschließt der Gotenkönig Thidimir, mit den Suawen noch mal ein Hühnchen zu rupfen. Im Winter führt er seine Truppen (zu Fuß) zu einem Überraschungsangriff über die zugefrorene Donau.
Das ist also der geographische Rahmen: Dalmatien, Pannonien, die Donau, die Sueben (in der heutigen Slowakei).

Und nun kommt ein ganz und gar unpassender Exkurs, der den geographischen Stand aus späterer Zeit beschreibt: "Jenes Land der Suawen hat nämlich im Osten die Baiwaren, im Westen die Franken, im Süden die Burgundzonen, im Norden die Thüringer zu Nachbarn."

Das sieht doch ganz danach aus, als ob ein späterer Autor eine an sich schlüssige Vorlage verschlimmbessert hat, oder?
 
Zuletzt bearbeitet:
Es kommt ja häufig genug vor, dass der aus den erhaltenen Handschriften rekonstruierbare Archetypus nicht mit dem Original identisch ist, sondern mit einer späteren Fassung.
Das ist schon klar. Aber wenn alle Fassungen dasselbe geben (wobei ich jetzt sowohl die Fassungen Valagothus/Valagothi als auch Valagothos/Walagothus darunter subsumiere), - also wenn der Archetypus Valagothos ergibt - dann kann man eben nicht behaupten, dass ein Visigothos zu rekonstruieren sei. Allerdings hast du mit der Prokop-Stelle meine Skepsis erheblich erschüttert. Die Frage wäre nun: Hat hier evtl. jemand aus einer lateinischen Prokopius-Übersetzung zitiert? Dann hätten wir als tpq schon mal mindestens 550. (Hier hakt es natürlich daran, dass Prokop zwar im byzantinischen Bereich breit rezipiert wurde, ich vor dem 15. Jhdt. aber keine lateinischen Fassungen der Kriegsgeschichte ausmachen kann. Was nichts heißt, Grundlage ist nur eine mittelintensive Googlerecherche und Einblicknahme in DNP und das LexMA.)
Was natürlich hypothetisch auch sein kann, wäre, dass der Archetyp der überlieferten Fassungen auf eine Verlesung -isi->-ala- zurückginge. Aber da müsste der ursprüngliche Text schon arg verderbt gewesen sein und selbst dann, wenn ich V…gothos lese, dann mache ich doch die bekannten Visigothos daraus und nicht unbekannte Valagothos. Weder beim karolingischen noch beim halbunzialen langen -s- kann ich eine große Verwechslungsgefahr mit drm -l- erkennen, noch bei -i- und -a-.
 
Die Frage wäre nun: Hat hier evtl. jemand aus einer lateinischen Prokopius-Übersetzung zitiert?
Das Quartett findet sich nicht nur bei Prokopios, sondern bei einer ganzen Reihe von Autoren. Diese werden bei Johann Friedrich 1910 (wohl nicht erschöpfend) aufgelistet:
https://www.zobodat.at/pdf/Sitz-Ber-Akad-Muenchen-ph-ph-hist-Kl_1910_0001-0027.pdf
Er bemerkt dazu:
"Nun kann man freilich sagen, und es ist dies meine eigene Auffassung, daß der Verfasser der Völkertafel diese oströmischen Schriftsteller unmöglich kennen konnte. Das schließt aber keineswegs aus, daß nicht doch das Gotenschema — und dieses gibt der Verfasser — im Frankenreich ebenfalls bekannt war, wie ja auch bis auf die Wisigothi diese Völker sich in der Cosmographia des Julius Honorius beisammen finden."
 
Dass die Baiern von Anfang an dabei waren, dafür soricht aber, dass sie, glaube ich, in allen Versionen dabei sind ...
Und alle Versionen gehen auf die Fassung von ca. 700 zurück.

Dass sie in der Fassung von 700 zweifelsfrei dabei waren, besagt nichts darüber, ob sie in einer älteren Fassung auch schon dabei waren.
 
Und alle Versionen gehen auf die Fassung von ca. 700 zurück.

Dass sie in der Fassung von 700 zweifelsfrei dabei waren, besagt nichts darüber, ob sie in einer älteren Fassung auch schon dabei waren.
Ich habe noch immer nicht so ganz verstanden, wie eine Fassung auf den Zeitraum +/- 700 datiert werden konnte, wenn doch die älteste überlieferte Fassung aus dem 9. Jhdt. stammt.
 
Und alle Versionen gehen auf die Fassung von ca. 700 zurück.

Dass sie in der Fassung von 700 zweifelsfrei dabei waren, besagt nichts darüber, ob sie in einer älteren Fassung auch schon dabei waren.
Doch. Nehmen wir mal die Existenz der Zwischenfassung als gesichert an. Wenn sie da wahrscheinlich nicht drin gewesen wären, wäre es unwahrscheinlich, dass sie in der Originalfassung enthalten gewesen sind.
Dass sie von Anfag an drin waren, kann man nicht beweisen, sondern nur plausibel machen.
 
Doch. Nehmen wir mal die Existenz der Zwischenfassung als gesichert an. Wenn sie da wahrscheinlich nicht drin gewesen wären, wäre es unwahrscheinlich, dass sie in der Originalfassung enthalten gewesen sind.
Das ist kein Argument.
Die Romani waren auch "gesichert" drin, es ist trotzdem nicht wahrscheinlich, dass sie auch in der postulierten Originalfassung drin waren.

"Die Veränderung des Begriffs Romani im Westen hängt eng mit der Umformung des Barbarenbegriffs sowie der Entwicklung der ethnischen Identitäten in den westeuropäischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches zusammen. [...] Durch den Prozess der Territorialisierung der ethnischen Identität im Verlauf der Merowingerzeit veränderte sich der Begriff Romani grundlegend. Dem antiken Verständnis zufolge bezeichnete er eine Rechts-, Glaubens- und Kulturgemeinschaft und wurde nicht ethnisch (im Sinne einer Abstammungsgemeinschaft) aufgefasst. Diese Bedeutung war bis zum Ende des 6. Jahrhunderts verbreitet. Erst im Laufe der Merowingerzeit ist eine Ethnisierung des Romanibegriffs in dem Sinne festzustellen, dass er analog zu barbarischen gentes als gleichartige Klassifikation, d. h. als eine natio, aufgefasst wurde. Mit dieser Veränderung der Qualität der Bezeichnung ging eine beträchtliche Bedeutungsverschiebung einher.
Während der Begriff Romani zunächst in allen Teilreichen des Merowingerreichs geläufig war, wurde er zunehmend auf die Bewohner Aquitaniens eingeschränkt, in der Francia und Burgundia verschwindet er ganz aus den Quellen."
Germanen und Romanen im Merowingerreich
 
Ich habe noch immer nicht so ganz verstanden, wie eine Fassung auf den Zeitraum +/- 700 datiert werden konnte, wenn doch die älteste überlieferte Fassung aus dem 9. Jhdt. stammt.
Die aus dem frühen 9. Jahrhundert erhaltenen Fassungen weichen schon stark voneinander ab. Es ist also in jedem Fall mit einem längeren "Vorlauf" zu rechnen.

Zwei Manuskripte enthalten eine Liste "römischer Könige" (ein weiteres nennt nur den ersten), bei denen es sich eigentlich um Warlords des 5. Jahrhunderts in Nordgallien behandelt; der letzte (Syagrius) unterlag Chlodwig I.

Es scheint eine spätmerowingische Idee gewesen zu sein, aus diesen Warlords eine Dynastie zu konstruieren, an welche die Merowinger dann angeknüpft hätten. Krusch und Goffart sind sich jedenfalls darin einig, dass diese Liste in die spätmerowingische Zeit gehört. Der Dissens liegt darin, dass Krusch die Königsliste als ursprünglichen Bestandteil der Völkertafel betrachtet und folglich die Völkertafel frühestens in die Zeit um 700 datiert, während Goffart die Königsliste als nachträgliche fränkische Hinzufügung betrachtet. Von dieser fränkischen Version stammen jedoch alle erhaltenen Manuskripte ab:
"Our examination of the manuscripts has shown that the textual tradition of the Völkertafel is basically northern or Frankish; even the Italian branch, including its earliest member, descends from a northern ancestor."

Wenn ich das richtig verstehe, hätte also die ursprüngliche, ostrogotische (oder gar im Kern oströmische) Version ihren Weg ins Frankenreich genommen, wäre dort überarbeitet worden und schließlich wieder nach Italien remigriert, wo die merowingischen Zusätze wieder teilweise verschwunden wären. Der Autor der Historia Brittonum (um 830) hätte eine der italienischen Versionen vor sich gehabt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ist soweit schlüssig.
Eine italienische Variante sehe ich im Codex Vaticanun mit Gualagothos und Guandalos.
 
Die Romani waren auch "gesichert" drin, es ist trotzdem nicht wahrscheinlich, dass sie auch in der postulierten Originalfassung drin waren.
Die Romani passen sehr gut in die Völkertafel, wenn diese einen Überblick über die geopolitische Lage im ehemals westlichen Teil des Imperiums um 520 geben sollte. Die dritte Völkergruppe ist ja die fränkische, und in der spielten die Romanen tatsächlich eine große Rolle. Die Ausführungen Prokops zu ehemals römischen Teilen des fränkischen Aufgebots habe ich schon erwähnt. Und es hatte ja auch seinen Grund, dass Chlodwig sich katholisch und nicht arianisch/homöisch taufen ließ. Das war wohl der entscheidende Schachzug, durch den die Romanen in den fränkischen Herrschsftsapparat integriert werden konnten.
 
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