Aus einer nicht zitier fähigen Quelle (Führung durch Hamburger Senat) habe ich gehört, dass der Kaiser dem Hamburger Senator Johann Heinrich Burchard den Posten des Reichskanzlers angeboten hat (an anderer Stelle habe ich keine Bestätigung gefunden). Gibt es irgendwelche Informationen welche außenpolitische Ideen die drei genannten zu Beginn der Regierungszeit Bethmann hatten? Welche Strategien wurden von anderen (Parteien, Journalisten) diskutiert? Ein wirkliches Konzept habe ich nur von Tirpitz gesehen.
Die Kommentare geben schon einen Eindruck von Alternativlosigkeit wieder, die besteht, wenn man in Kategorien London, Paris, Wien und St. Petersburg denkt. Ich denke, dass jeder Politiker die Interessen von London, Paris und St. Petersburg analysiert hätte und dann entsprechend dem Ergebnis den Hebel angesetzt hätte. Da der nächste Krieg wiederum im wesentlichen die gleiche Feindkonstellation zeigte, stellt sich schon die Frage, ob niemand einen weiteren Weg sah.
Die Marinepolitik war für Bethmann ein zentrales Thema. Er war der Auffassung, dass eine Verständigung mit England über eine Reduzierung der Kaiserlichen Flotte zu erreichen war.
Meine These ist, dass dies nicht richtig ist.
Warum brauchte das Reich nach überwiegender damaliger Ansicht damals eine Flotte?
Zunächst ein paar Zahlen nach Delbrück (zitiert nach Ritter, Das Deutsche Kaiserreich): Volumen der Einfuhren 1880 RM 2,8 Mrd., 1912 RM 10,69; Ausfuhren 1880 RM 2,92, 1913 RM 10,7. Zitat Delbrück Reichstagsrede vom 20.01.1914: „Ein Vergleich mit Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten zeigt, dass in seinem Gesamthandel noch im Jahre 1891 mit Frankreich und den Vereinigten Staaten auf einer Stufe gestanden hat, britischerseits um rund 75% übertroffen wurde. Heute hat Deutschland die beiden zuerst genannten Länder weit überflügelt und ist dem britischen Gesamthandel nahegerückt……..Der britische Gesamthandel übertrifft hiernach den französischen um 92%, den amerikanischen um 44% und den deutschen nur noch um 16%.“ Der Anteil des Außenhandels am Volkseinkommen betrug 1914 schon 34%, ein Wert, der erst in den sechziger Jahren wieder erreicht wurde. Das Deutsche Reich war in einem enormen Wandel begriffen und die Wirtschaft, Grundlage des Wohlstands, musste natürlich auch militärisch abgesichert werden. Es war der Außenhandel, der für Wohlstand sorgte. 1914 wurde das „Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft“ – heute Institut für Weltwirtschaft – in Kiel gegründet (die weltweit erste Einrichtung für die Erforschung internationaler Wirtschaftsbeziehungen). Dies zeigt die enorme Bedeutung, die man dem Außenhandel beimaß. Militärisch konnte dieser nur über eine Marine gesichert werden, da das Heer nur auf die unmittelbaren Nachbarn einwirken konnte.
Die Flottengesetze waren Rechtsakte des Reichstags und somit Willen des gesamten Volkes (bei der Abstimmung über das Flottengesetz am 26.03.1898 ergab sich eine fast eine Zweidrittelmehrheit, nämlich 212 zu 139 Stimmen, die Gegenstimmen kamen von Konservativen, die das Heer unterstützen wollten und – allerdings aus grundsätzlicher Opposition gegen das Kaiserreich - von der SPD).
Der Reichstag war vor der Abstimmung durch das Weißbuch "Die Seeinteressen des Deutschen Reiches" gut informiert. Und die Flottengesetze sprachen sich für das Tirpitz’sche Konzept der Schlachtflotte aus (es gab wohl auch keine ernsthafte Alternative zu dieser Zeit; das Konzept von Galster – Kreuzerflotte - wurde 1907 vorgestellt und konnte den Tirpitz’schen Einwand der nicht möglichen Kohleversorgung im Ausland nicht entkräften – siehe auch den „Bärenfell: Maltzahn“ thread, U-boote waren noch nicht wirklich brauchbar, die erste längere U-bootfahrt wurde in den ersten Kriegstagen 1914 durchgeführt – von Deutschen). Ein Verzicht auf den Flottenbau wäre nur möglich gewesen, wenn das Reich in entsprechende Allianzen (so wie heute die NATO) eingebunden gewesen wäre. Solche gab es damals nicht. Der Begriff der „Luxusflotte“ von Churchill anlässlich eines Werftbesuchs in Glasgow 1912 ist in Deutschland auf starken Widerspruch gestoßen.
War die Flotte im Prinzip richtig, aber doch zu groß? Ein Vergleich ist wegen der verschiedenen Definitionen schwierig, aber gibt eine richtige Vorstellung wieder, wenn man sagt, sie hatte etwa 50 - 60% der Größe der englischen und war etwas größer als die französische Flotte. Da vermag ich angesichts der zu schützenden wirtschaftlichen Interessen keine zu große Flotte zu sehen. Als dann als Wettrüsten bezeichnet wird, war doch letztlich eine Folge des Dreadnought-Sprungs, die Konzentration auf ein Kaliber war derart vorteilhaft, dass man die Flotten umrüsten musste – und das war teuer, für beide Staaten. Wenn man dann noch sich die tatsächlichen Bündnisse der Zeit, also die Triple Entente ansieht und dann die Flottengrößen gegenüberstellt, ist die Kaiserliche Marine zumindest als Angriffswaffe ungeeignet (als Abwehrwaffe schon, aber das sollte sie auch sein).
Man wird einwenden, dass der Verlauf der Geschichte diese Auffassung widerlegte.
Dagegen ist zu sagen, dass Bethmann die Flotte nicht aktiv genutzt hat. Sie war für jeden interessant, der das Übergewicht Englands als zu groß empfand. Vereinbarungen müssen ja nicht gleich Bündnisse sein. Für Bethmann günstig war, dass sich das Spektrum der Mächte erweitert hat (Japan, USA). Insbesondere Japan hätte Ziel diplomatischer Schritte sein müssen (thread Geheimdienste # 4-21). Die Möglichkeiten gegenüber den USA wurden nicht genutzt (insbesondere Pressearbeit). Mit der Türkeipolitik hat er aber versucht die Einkreisung zumindest zu unterbrechen. Auch die Marinekonvention von 1913 mit Österreich-Ungarn und Italien bot gute Chancen im Mittelmeer (die vereinigten Flotten Österreich-Ungarns, Italiens und Deutschlands dürften zumindest so stark wie die der Entente im Mittelmeer gewesen sein), leider beachtete die Italienpolitik nicht genügend die inneren Verhältnisse Italiens (von der Seite finde ich es interessant, dass der ehemalige Botschafter in Italien Graf Monts als Reichskanzler im Gespräch war). Schweden war sehr deutschfreundlich und sehr Russland feindlich. Eine derartige Politik hätte deutlich bessere Spielräume bei Verhandlungen gebracht.
Hätte der Verzicht auf ein paar Linienschiffe auf deutscher Seite den Weltkrieg verhindert? Das deutsch-britische Flottenabkommen von 1935 (Stärkeverhältnis 1:3) legt den Schluss nicht nahe. Eine verlorene Seeschlacht auf deutscher Seite hätte den Kriegsgrund entfallen lassen (aber Bethmann hat die Marine zurückgehalten).
Der Konflikt zwischen England und Deutschland hatte tiefere Ursachen. England verlor seine Weltstellung und konnte nichts dagegen machen (es half nicht einmal, dass sie in zwei Weltkriegen auf der Siegerseite waren). Das führte zu permanenten Spannungen, die die Regierungen nicht gut in den Griff bekamen. Es entstand eine Kriegsstimmung. Von deutscher Seite ist das sprunghafte, nicht berechenbare mehr zu kritisieren als Einzelereignisse. Daran hatte in Deutschland die unklare Machtverteilung zwischen Kaiser und Reichskanzler (nach dem persönlichen Regiment) ihren Anteil. Besonders schlimm wurde dies bei Bethmann. Hätte er die Flottenpolitik fortgesetzt (mit der Flotte als Argument für Bündnisse), wäre die Politik zumindest berechenbar gewesen. Die Schiffslisten konnte jeder im Reichsgesetzblatt nachlesen.