Verfahren nach dem Krieg
Zu dem im Wiki-Beitrag angegebenen Verfahren vor dem New Yorker Appellationsgericht habe ich weder in den Büchern von Robert Ballard/Spencer Dunmore (Das Geheimnis der Lusitania, 1995,) noch in dem Buch von Patrick O´Sullivan (Die Lusitania. Mythos und Wirklichkeit, 1999) noch in der Enzyklopädie Erster Weltkrieg noch in dem Buch von Burkhard Jähnicke zur Tätigkeit der Mixed Claims Commission (Washington und Berlin zwischen den Weltkriegen, Die Mixed Claims Commission in den transatlantischen Beziehungen, 2003) noch im Wörterbuch des Völkerrechts (Hrsg. von Karl Strupp und Hans-Jürgen Schlochauer, 1964) irgendeinen Hinweis oder gar eine Erwähnung dieses Verfahrens gefunden. Vor diesem Hintergrund habe ich erhebliche Zweifel daran, dass es dieses Verfahren tatsächlich gegeben hat. Zudem enthält die Wiki-Version eine Schlussfolgerung („…und somit die deutsche Versenkung nicht als Seeräuberverbrechen, sondern als eine regelrechte Kriegshandlung anzusehen ist“) bei der nicht deutlich wird, ob diese vom Appellationsgericht stammen soll oder vom Autor des Wiki-Beitrages und ob mit dieser überhaupt ausgesagt werden soll, dass es sich um eine regelgerechte (= „regelrechte“?) Torpedierung handelte.
Tatsächlich hat es drei amtliche Untersuchungen zum Lusitania-Zwischenfall gegeben: Im Mai 1915 fand in Kinsale, einem kleinen Ort in der Nähe von Queenstown, unter Coroner John J. Horgan ein Gerichtsverfahren zur Feststellung der Todesursache von fünf Opfern der Lusitania statt. Im Juni 1915 kam es zur Untersuchung des Untergangs der Lusitania im britischen Handelsministerium, dem so genannten Havarieverfahren, unter Vorsitz von Lord John C. B. Mersey. Im Sommer 1918 fand in New York unter Vorsitz von Judge Julius M. Mayer ein zivilrechtliches Verfahren statt. Dieses Verfahren wurde von der Cunard Line, der Reederei der Lusitania, zur Begrenzung ihrer Haftung gegen 70 Amerikaner angestrengt, die der Reederei Fahrlässigkeit vorwarfen. In allen drei Verfahren wurde Kapitän Turner und die Cunard Line von jeglichem Fahrlässigkeitsvorwurf freigesprochen und Deutschland die alleinige Schuld angelastet. So brandmarkte Judge Mayer in seiner Entscheidung vom 23. August 1918 die Versenkung als: „… inexpressibly cowardly attack an unarmed passenger liner.” The Lusitania. In the matter of the petition of the Cunard Steamship Company, Ltd., as owner of the Steamship LUSITANIA, for limitation of is liability, 251 Fed. Rep. U.S. District Court, Southern District of New York, in: AJIL 12 (1918), S. 863. “The Lusitania was as helpless ... as a citizen suddenly set upon by murderous assailants” (Ibid., S. 881). “The cause of the sinking of the Lusitania was the illegal act of the Imperial German Government, acting through its instrument, the submarine commander (...) it is not to be doubted that the United States of America and her allies will well remember the rights of those affected by the sinking of the Lusitania, and when the time shall come, will see to it that raparation shall be made for one of the most indefensible acts of modern times” (Ibid., S. 888).
Vor diesem Hintergrund bestand mangels formeller Verurteilung weder für Kapitän Turner noch für die Cunard Line ein rechtlich erhebliches Interesse an einem Appellationsverfahren. Die von der britischen Admiralität erhobenen Sabotage-Vorwürfe lasteten auf Turner als moralischer Makel von dem er sich durch ein Gerichtsverfahren gar nicht reinwaschen konnte.
Auch für das Deutsche Reich gab es 1923 keinen Grund ein amerikanisches Appellationsgericht anzurufen. Es hatte bereits in einer Note vom 4. Februar 1916 dem State Department sein Bedauern über die Torpedierung der Lusitania ausgedrückt und sich ausdrücklich zur Leistung von Schadenersatz bereit erklärt.
Möglicherweise hat jedoch der Autor des Wiki-Beitrages das New Yorker Appellationsgericht mit der Mixed Claims Commission, Washington D.C., verwechselt, die im Rahmen des deutsch-amerikanischen Friedensvertrages (Berliner Vertrag) zur Regulierung der kriegsbedingten Forderungen der Amerikaner und zur Gestaltung freundschaftlicher deutsch-amerikanischer Beziehungen eingesetzt wurde. Die MCC bestand aus einem Dreiergremium, zu dem je ein deutscher und amerikanischer Richter sowie ein Unparteiischer gehörten. Dieser Umpire, dem im Falle eines Dissenses der beiden nationalen Richter die ausschlaggebende Stimme zufiel, war eine hochstehende amerikanische Persönlichkeit. Zwischen 1922 und 1939 hatten zwei Richter des Supreme Court und zwei renommierte Rechtsanwälte den Posten des Umpire inne. Aufgrund des Schuldanerkenntnisses des Deutschen Reiches war keine weitere Untersuchung über die Umstände der Versenkung der Lusitania notwendig. Dennoch entzündete sich an zwei Punkten ein handfester Streit zwischen Amerikanern und Deutschen:
Zum einem fand sich im Gutachten des Umpire Parker die Formulierung, dass die Torpedierung ein „… illegal and inhuman act“ sei, „wich will for ever constitute an ugly, repulsive and ineffaceable blot on the history of civilication“ (zitiert nach Burkhard Jähnicke, Washington und Berlin zwischen den Weltkriegen, Die Mixed Claims Commission in den transatlantischen Beziehungen, 2003, S. 174). Die deutsche Seite lehnte diese Formulierung ab und drohte mit dem Ende der MCC. Man einigte sich schließlich darauf, diese Formulierung zu streichen, allein auf die eine deutsche Haftung anerkennende kaiserliche Note Bezug zu nehmen und von jeder weiteren Wiedergabe des Tatbestandes abzusehen. Die Entscheidung der MCC führt „wörtlich aus: »Die Umstände der Versenkung sind aller Welt bekannt; da die deutsche Regierung jedoch ihre Haftung für die Schäden amerikanischer Staatsangehöriger in ihrer Note vom 4.11.1916 anerkannt hat, hätte es keinen Zweck, diese Umstände nochmals hier zu erörtern.« – Diese Entscheidung dürfte, auch wenn eine deutsche Note zu ihrer Stützung nicht vorhanden wäre, der sonstigen Rechtsprechung der Gemischten Kommission über Neutralitätsschäden entsprechen. Nach § 4 der Anlage hinter Art. 298 Versailler Vertrag in Verbindung mit der in den Berliner Vertrag wörtlich aufgenommenen Sektion 5 der Knox-Porter-Resolution ist Deutschland zum Ersatz aller »Verluste, Nachteile oder Schäden« verpflichtet, die amerikanische Staatsangehörige seit dem 31.VII. 1914 »an ihrer Person oder ihrem Eigentum unmittelbar oder mittelbar … durch Handlungen der deutschen Regierung oder ihrer Vertreter erlitten haben«. Diese Vertragsverpflichtung ist nach der Rechtsprechung der Kommission »unabhängig von der Art, Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der schadenverursachenden Kriegshandlung«; die Kommission enthält sich somit in dieser Hinsicht jeglichen Urteils“ (Rüdiger Schleicher in: Karl Strupp/Hans-Jürgen Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Dritter Band [V-Z], 1963, unter Lusitania [Nachtrag zu Band I, S. 851], S. 1003).
Zum anderen wollte der Umpire Parker der Forderung der amerikanischen Staatsvertretung nach punitative damages zustimmen. Bei diesem Rechtsinstitut des common law handelt es sich um eine Art Strafschadenersatz, nach der einem Kläger über den Ersatz des tatsächlichen Schadens hinaus eine Geldsumme zugebilligt wird, wenn der Beklagte besonders verwerflich gehandelt hat. Auf Protest der deutschen Seite wurde der Strafschadenersatz wegen der friedensstiftenden Funktion der Kommission, die sich nicht mit einem Strafschadenersatz vereinbaren ließ, abgelehnt: „A sufficient reason why such damages can not be awarded by this Commission is that it is without the power to make such awards under the terms of its charter – the Treaty of Berlin. It will be borne in mind that this is a Treaty between the United States and Germany Restoring Friendly Relations’ – a Treaty of Peace. (...) There is no place in it for any vinidictive or punitive provisions” (zitiert nach Burkhard Jähnicke, Washington und Berlin zwischen den Weltkriegen, Die Mixed Claims Commission in den transatlantischen Beziehungen, 2003, S. 176).
Falls also im Wiki-Beitrag die Entscheidung der MCC vom November 1923 gemeint sein sollte, kann diese gerade nicht als eine Entscheidung aufgefasst werden, mit der über die Frage der Rechtswidrigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der Torpedierung der Lusitania entschieden wurde. Im Interesse besserer deutsch-amerikanischer Beziehungen vermied es die MCC gerade sich in dieser Frage festzulegen. Von einem „Freispruch für Schwieger“ kann also keine Rede sein!