Die Marokko-Krisen

Der wilhelminischen Außenpolitik fehlte die Klasse der eines Bismarck. Aber darum geht es in meinem Beitrag nicht. Mir geht es in meinem Beitrag darum, das die Träger der französischen Außenpolitik offenkundig der Ansicht waren, sie könnten sich den Luxus erlauben, die Großmacht Deutsches Reich und auch Italien einfach ignorieren zu können. Und dieser Ansicht war man schon im Jahre 1902. Es war von den Verantwortlichen der französischen Außenpolitik alles andere als geschickt, so vorzugehen. Das man in Paris nicht auf den Gedanken gekommen war, sich mit den anderen Mächten abzustimmen, ist kaum zu begreifen. Es ging hierbei nicht nur um tatsächliche oder angebliche Interessen.
 
Auch das spanisch-französische Geheimabkommen zur Aufteilung Marokkos ließ erneut das Deutsche Reich außer Acht. Das war nach damaligen Verhältnissen schon eine Brüskierung Berlins. Das war eine Verletzung des Abkommens von Madrid, das eben vorsah, das der Sultan die volle Souveränität über Marokko behält. Die Meldungen, die man in Berlin erhielt, gaben darüber Auskunft, das Frankreich keineswegs dran dachte, Marokko den europäischen Handel offen zu halten, sondern dieses in seine ausschließliche Einflußsphäre einzubeziehen. Die französische Presse sprach ganz offen von einem Frankreich erteilten Mandat, „die Zivilisation in Marokko einzuführen.“

Seit Anfang 1904 tobte der russisch-japanische Krieg und der Verlauf entsprach nicht den Erwartungen des Zaren. Frankreich war nunmehr sehr verletzlich und es wäre nunmehr sehr sehr klug gewesen, Berlin bezüglich der Marokkopolitik ins Boot zu holen.
 
Rainer Schmidt untertitelt in Kaiserdämmerung die Außenpolitik nach Bismarck in der Wilhelminischen Ära ab 1890 mit 'Weichenstellung ins Nirvana - Die ersten Schritte des neuen Kurses in der Außenpolitik (1890-1896)'.

Bestimmt kannst Du aus Kaiserdämmerung die Brüskierung Berlins durch die französische Marokko-Politik ab 1902 gut belegen.
Während ich derweil die riskante und problematische Abkehr von der durch Bismarck geprägten und akzeptierten Nichteinmischung des neuen Deutschen Reiches in die schon lange tradierten Einflusszonen und Einflussambitionen in Nordafrika durch die französische und spanische Politik auch weiterhin betone....;)
 
Wieso gerade der Rainer Schmidt?

Das französisch-spanische Geheimabkommen über die Aufteilung Marokkos ließ Deutschland links liegen. (Raulff, Zwischen Machtpolitik und Imperialismus) Das war schon eine Brüskierung und eine geplante Verletzung des Abkommens von Madrid. In diesem Abkommen wird u.a. die Souveränität des Sultans und die Handelsfreiheit garantiert.

Die Liquidation Marokkos sollte gemäß Lansdowne in einen separaten Dokument geregelt werden, denn England habe sich immer an internationale Abmachungen gehalten und ist gegen die Mächte Stellung bezogen, die das nicht taten. Lansdowne war es wichtig, das nicht öffentlich wird, das man auf die Seite der Rechtsbrecher getreten und ein schwerer Schlag für die eigene Reputation wäre. (Schmidt, S426)

Delcassé führte vor dem Kabinett aus, was für schöne Horizonte sich auftäten, wenn man sich auf Russland und England stützen könne und wie stark man dann gegenüber Deutschland sei.

Die Gespräche zwischen England und Frankreich erstrecken sich über einen längeren Zeitrum; Gesprächsgegenstand war natürlich auch Marokko. Deutschland und die anderen 13 Signatarstaaten des Abkommens von Madrid ließ man außer Acht. Frankreich wollte Deutschland aus Marokko fernhalten und vor vollendete Tatsachen stellen. (Schmidt, S.425)

Um 1900 hatte Italien mit Frankreich ein Abkommen geschlossen, das Marokko als französische Einflusssphäre anerkannt und das lybischnolis als italiensiche. Das war nicht unbedingt Dreibundpolitik. Am 01.November 1902 hatte Italien dann mit Frankreich das bekannte Geheimabkommen geschlossen, in welchem die Einflusszonen in Nordafrika festgelegt worden waren.


Schmidt geht insgesamt auf die Vorgeschichte, also die Brüskierung Berlins, gar nicht umfänglich ein.
 
Ein Wort des Dankes

Ein kompetenter User hat mir zum Thema noch ein paar wertvolle Gedankenanstöße und Hinweise übermittelt. Dafür ein herzliches Dankeschön.


Ganz allgemein vorausgeschickt:

Ein wichtiger, grundlegender Punkt, ist, dass sich mit der Entlassung Bismarcks, dessen außenpolitische Maxime, nämlich die außenpolitische Isolierung Frankreichs seit 1871, von den Männern im deutschen Auswärtigen Amte sofort aufgegeben worden war. Diese überaus unglückliche Entscheidung, die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages, veränderte natürlich, der Prozess war ja auch schon im Gange, das gesamte außenpolitische Gefüge Europas. Frankreich ergriff entschlossen die Gelegenheit, die die fehlende Achtsamkeit und Sorgfalt der deutschen Außenpolitik eröffnete, und brachte in kurzer Zeit eine Abmachung mit Petersburg zustande. Auch wurde durch die Nichtverlängerung das bündnispolitische Gewicht des Deutschen Reiches gegenüber London reduziert. (1) Über Deutschland hing fortan das Damoklesschwert eines künftigen Zweifrontenkrieges. Die verantwortlichen Männer des deutschen Auswärtigen Amtes haben Bismarcks Albtraum, der cauchemar des coalitions, war Wirklichkeit geworden.

Aber in der Wilhelmstraße war man der Auffassung auf eine Anlehnung an einer Großmacht, es konnte nach Lage der Dinge eigentlich nur Petersburg sein, 1890 verzichten zu können. (2) Als man diesen verhängnisvollen Fehler bemerkte und korrigieren wollte, da war es viel zu spät.

Der französische Außenminister Ribot schrieb im Jahre 1892, also kurze Zeit vor dem Bündnisabschluss mit Petersburg, an seinen Kabinettskollegen Mercier, „Wir dürfen nicht einen Augenblick den Krieg aus den Augen verlieren, den wir eines Tages gegen Deutschland zu führen haben werden und der für lange Zeit das Schicksal Europas entscheiden wird.“(3)

Zar Alexander III. führte aus, Wir müssen uns wirklich mit den Franzosen einig werden. Und bei einem Krieg zwischen Frankreich und Deutschland sofort über die Deutschen herfallen, um Ihnen keine Zeit zu lassen, zunächst Frankreich zu schlagen, um sich dann gegen uns zu wenden. Wir müssen die Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen und Deutschland bei der ersten Gelegenheit zu zerschmettern. ( ebenfalls 3)


Etwas zur Vorgeschichte der ersten Marokkokrise

Die innenpolitischen Zustände in Marokko ließen um die Jahrhundertwende einen baldigen Zusammenbruch des nordafrikanischen Sherifenreiches erwarten. Als im Mai 1900 der junge, unerfahrene und inkompetente Sultan Abdul Asis nach dem Tod des mächtigen Großwesirs Ahmed Ben Mussa die Regierungsgeschäfte übernahm, stand Marokko am Rande einer Anarchie. Das größte Interesse am Schicksal Marokkos hatten Frankreich und England. Aber auch Deutschland war nicht uninteressiert. Es stand im Außenhandel mit Marokko hinter Frankreich und England auf Platz 3. (4). Hinzukommen noch Italien und Spanien als Interessenten.

Im Juli 1902 hatte der französische Botschafter Cambon erstmals das Thema eines kolonialen Interessenausgleichs gegenüber den englischen Außenminister Lansdowne zur Sprache gebracht. Zuerst ging es um Marokko und dann sehr schnell auch um Siam. Cambon gab dem Gespräch gleich eine antideutsche Tendenz, denn er äußerte, Siam gehe Deutschland nichts an und es ist unsere Aufgabe Siam vor einer Einmischung Deutschlands zu schützen. (5,6)

Im September 1902 erhielt das Auswärtige Amt Kenntnis von seinem Vertreter in Tanger, das zwischen Frankreich und England Verhandlungen im Gange sind, die ein Protektorat Frankreichs über Marokko zum Ziele haben. England würde in Siam entschädigt werden. Der deutsche Vertreter hatte diese Information von dem englischen Journalisten der Times Harris erhalten und nach Berlin gemeldet. (7)

Anfang Oktober 1902 berichtete der englische Botschafter Monson in Paris über ein Gespräch mit dem Geschäftsträger Österreich-Ungarns Dumba. Dieser hatte Kenntnis über die Verhandlungen zwischen England und Frankreich bezüglich Marokkos und Siams. Zu Marokko bemerkte Dumba sinngemäß, dass er es nicht für wahrscheinlich halten würde, dass London Paris seine übermäßigen Ansprüche gewähren würde. Dumba könne sich auch nicht vorstellen, dass Rom sich durch eine Entschädigung damit einverstanden sein könnte, das Frankreich Marokko erhalten und das Mittelmeer ein französisches Gewässer werden würde. Auch äußerte er Bedenken hinsichtlich Spaniens. (8)


Am 31.Dezember 1902 meldete der deutsche Botschafter in London nach Berlin, das Lansdowne nicht daran glaube, dass eine europäische Macht einzugreifen wünsche. Aus den Gesprächen mit dem französischen Botschafter, hat der Minister den Eindruck, dass Frankreich nicht gewillt sei, an der marokkanischen Frage zu rühren. (9)

In Marokko war zwischenzeitlich der befürchtete Aufstand gegen den Sultan ausgebrochen.

Ebenfalls am 31.Dezember 1902 schrieb Lansdowne an den englischen Botschafter Monson in Paris über sein Gespräch mit den französischen Botschafter Cambon in London. Es ging u.a. über den Aufstand in Marokko und das eventuelle Eingreifen der Mächte. Cambon führte aus:“ Deutschland habe mit Marokko nichts zu schaffen, obwohl es bei einer oder zwei Gelegenheiten erfolglos versucht habe, über einSpanien und es wäre höchst erwünscht, falls Deutschland dort zu irgendeinem Zeitpunkt auftreten und versuchen sollte dort eine ansehnliche Rolle zu spielen, ihm bedeutet würde, dass es keinen locus standi (Anmerkung von mir: Klagebefugnis) habe. (10)



(1) Interview Rainer F.Schmidt

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/historikertag2108

(2) Interview Rainer F.Schmidt

https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/historikertag2108

(3) Interview Rainer F. Schmidt

http://blog.klett-cotta.de/sachbuch...s-st-petersburg-und-der-weg-in-den-untergang/

(4) Winzen, Bülow, S.320 f

(5) BD Band 2.2, Dokument322

(6) Monger, Entente, S.96

(7) GP Band 17, Dokument 51882

(8) BD Band 2.2, Dokument 324

(9) GP Band 17, Dokument 5192

(10)BD, Band 2.2, Dokument 330
 
Ebenfalls zum Ende des Jahres 1902 begann sich dann abzuzeichnen, das die deutsch-französischen Beziehungen sich einzutrüben beginnen.. Grund hierfür war, das Berlin Kenntnis davon erhalten hatte, das Paris Gespräche mit Spanien und Italien, nicht mit Deutschland, über eine Teilung Marokkos führte. Darüber hinaus begannen die rechten Schreihälse im Reich für einen größeren Einfluss in Marokko zu trommeln. (11)

Im Februar 1903 will Reichkanzler Bülow von dem deutschen Botschafter Metternich in London darüber informiert werden, welche Aufnahme in Presse und Publikum die Erklärung des „Standard“ gefunden hatte, das Delcassé beabsichtige mit Lord Lansdowne in Verhandlungen bezüglich der Überlassung Marokkos an Frankreich mit Ausnahme eines neutralen Küstenstrichs bei Tanger? Zu treten“ (12)

Im Juni 1903 forderte der deutsche Unterstaatssekretär von Mühlberg den Geschäftsträger in Madrid von Humbracht auf, umgehend den Wortlaut der auf das Bündnis mit Frankreich bezüglichen Erklärung des Herrn Silvela zu berichten; desgleichen inhaltlich, die darauf bezüglichen Kommentare der hauptsächlichen ministeriellen wie oppositionellen Zeitungen.

Ministerpräsident Silvela hatte am 17.Juni in der spanischen Deputiertenkammer eine Rede gehalten, von der zwei verschiedene Versionen in Umlauf waren. Die von der „Havas“ gemeldete, besagte, das Spanien und Frankreich den Status Quo in Marokko aufrechterhalten bestrebt seien. Die andere, das Spanien eine Allianz mit Frankreich zwecks Wahrnehmung seiner historischen Interessen in Marokko geschlossen habe. Humbracht informierte Bülow darüber, Silvela hätte nur das intime Einvertändnis Spaniens mit Frankreich betont, das im Hinblick auf die gemeinsamen Interessen und Wünsche hinsichtlich der Erhaltung des Status Quo in Marokko solange als möglich aufrechterhalten werden müsse. Angeblich sei es schon im November 1902 zu einem Abkommen zwischen Frankreich und Spanien über Marokko gekommen. (13)

Im Spätsommer 1903 erhielt Berlin dann Kenntnis davon, dass Spanien und Frankreich sich im März über eine Teilung Marokkos verständigt hatten. Die Information kam über die spanische Königin Maria Christine, die sich Ende September 1903 in Wien aufgehalten hatte. (14)

Staatssekretär von Richthofen wollte nun Kompensationsverhandlungen eintreten(15). Die deutsche Reichsleitung war sich aber nicht gerade einig, was man eigentlich wollte. Wilhelm II. beispielsweise wollte ursprünglich Frankreich in Marokko keine Hindernisse in dem Weg legen; eine freundliche Einstellung, wenn man die französische Haltung bedenkt. Wilhelm II. lehnte gegenüber dem spanischen König im März 1904 deutsche territoriale Ambitionen wegen Marokko ab. Wilhelm II. beanspruchte lediglich Handelsfreiheit und die Berücksichtigung Deutschlands bei der Vergabe von Eisenbahnkonzessionen. Darüber hinaus empfahl Wilhelm II. den jungen spanischen König Alfons sich um gute Beziehungen zu Frankreich zu bemühen (16). Die eigentlichen Initiatoren und Macher der später schweren Krise waren ausschließlich Bülow und Holstein.

Um England aus einem künftigen möglichen Konflikt mit Frankreich herauszuhalten, meldete das Deutsche Reich im Frühjahr 1905 unter Berufung auf das Madrider Abkommen seinen Anspruch an, bei der Entscheidung über Marokko im Sinne einer Sicherstellung des Prinzips der Offenen Tür mitsprechen zu wollen. Die deutsche Seite bezog sich hier ausdrücklich auf die Erklärung von Lord Lansdowne, englischer Außenminister, die dieser im Sommer 1904 dem deutschen Botschafter Metternich gegeben hatten, wonach England in der marokkanischen Frage, „wo es sich nur um offene Tür und wirtschaftliche Gleichberechtigung handelte, wenn nicht auf unserer Seite, so doch zumindest neutral stehen würde.“ (17)

Unter diesen Vorzeichen stand der Besuch Wilhelms II. in Tanger, welcher auf massiven Drängen von Bülow und Holstein erfolgte, eben um zu demonstrieren, dass Deutschland Marokko für einen souveränen Staat hielt. (18)

Und ein weiteres deutsches Argument, welches man gegenüber dem Foreign Office bevorzugte lieber nicht zu erwähnen, war das machtpolitische. „Es sei notwendig gewesen, Deutschlands Gegenwart im Weltkonzert zu beweisen.“ So Bülow zu Lerchenfeld, der dies dann umgehend dem bayrischen Ministerpräsidenten Podewils mitteilte. (19)

Die Situation wurde für Deutschland aber auch nicht gerade besser geworden, als im Februar 1904 der russisch-japanische Krieg ausbrach. Als sich die russischen Niederlagen häuften, versuchte Wilhelm II. in dieser für Petersburg schwierigen Situation, ein Bündnis abzuschließen. Nikolaus war zunächst auch dafür zu haben, aber seine Regierung redete ihm dies wieder aus. Dann kam die Entente Cordiale zustande. Delcassé sprach von einem Abwehrblock gegen Deutschland. Die Lage für das Deutsche Reich wurde schwierig; es fühlte sich bedroht.

Frankreich hatte unter dem Strich also mit England, Spanien und auch Italien gesprochen und geeinigt. Mit Deutschland hatte man nicht gesprochen. Allerdings muss daraufhin gewiesen werden, das die Äußerungen Kaiser Wilhelms II. im Mai 1904 gegenüber den spanischen König dafür dann auch keinen Anlass mehr boten. Trotzdem wäre es wohl keine schlechte Idee gewesen, das Thema über die Kanäle des AA zu klären. Frankreich hatte ja auch kein wirkliches Interesse daran, Deutschland mit im Boot zu haben. Aber von einer Brüskierung Berlins, hier muss ich mich korrigieren, kann angesichts der Ausführungen Wilhelm II. nicht die Rede sein.


(11) Düffler, Vermiedene Kriege, S.558

(12) GP Band 17, Dokument 5193

(13) Düffler, Vermiedene Kriege, S.557 ff

(14) GP Band 17, Dokument 5199

(15) Düffler, Vermiedene Kriege, S.558

(16) GP Band 17, Dokument 5209

(17) GP Band 20.2, Dokument 6866

(18) Winzen, Ende der Kaiserherrlichkeit, S.29

(19) Winzen, Ende der Kaiserherrlichkeit. S.29
 
Hintergrund:

England hatte im Vertrag der Entente von 1904 sich verpflichtet sich der Inbesitznahme Marokkos durch Frankreich nicht zu widersetzten. Frankreich wollte diese Frage jetzt klären und London zwinge Farbe zu bekennen. Paris sah auch mit einer gewissen Beunruhigung, wie Berlon sich bemühte London und Petersburg an sich heranzuziehen und Frankreich drohte wieder in die Isolierung zu fallen. Diese Konstellation war der Hintergrund der sehr schweren Krise des Jahres 1911.

Vorgeschichte:

Nach der Konferenz von Algeciras entspannte sich das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland. Im Februar 1909 wurde sogar ein Vertrag abgeschlossen, der die besonderen politischen Interessen von Paris in Marokko anerkannte. Frankreich sicherte im Gegenzug die wirtschaftliche Gleichberechtigung zu wahren und die freie Betätigung von Handel und Gewerbe zu garantieren. (1)

Im Juli 1909 war das Kabinett Clemenceau gestürzt worden; Außenminister Pichon behielt im neuen Kabinett seinen Posten. Der deutsche Geschäftsträger von der Lancken brachte Pichon hierüber anlässlich eines Diplomatenempfanges seine Freude zum Ausdruck. Pichon war hierüber sehr erfreut. Pichon äußerte auch, dass das deutsch französische Verhältnis nur dann Fortschritte machen könnte, wenn dies von der Öffentlichkeit unbemerkt bliebe. Das Abkommen vom Februar sei noch ein zu zarte Pflanze, die vor den französischen Nationalisten und ausländischen Nebenbuhlern geschützt werden müsste. (2)

Beide Seiten hielten sich zunächst an das Abkommen aus dem Februar 1909. Daran änderte sich auch nichts, als Kiderlen 1910 Schön als Staatssekretär nachfolgte. Kiderlen führte gegenüber den rumänischen Politiker Jonesco, „jedem Plan betreffs Marokko zu entsagen, der doch nur die englisch-französische Entente zusammenschmieden würde.“ (3) Dies hatte er wohl 1911 vergessen gehabt.

Im Sommer 1910 kamen in Frankreich neue Anzeichen chauvinistisch-revanchistischer Stimmung. Das Echo auf der anderen Seite des Rheins blieb nicht aus.

Noch im Oktober 1910 sprach Pichon von einer markanten Besserung des deutsch-französischen Verhältnisses auf Regierungsebene. (4)

Das tragende Element, das stabilisierende Element waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Auf dem Balkan, in der Türkei und Lateinamerika kooperierte deutsche und französische Banken. Die rheinisch-westfälische Schwerindustrie expandierte zunehmend in der Normadie und vor allem in das Becken von Longwy-Briey. (5)

In Frankreich wurde zunehmend Kritik an der schwerindustriellen Expansion der Deutschen laut, die von den Rechten getragen wurde und von jeder französischen Regierung nicht so ohne weiteres ignoriert werden konnte. Seit Sommer 1910 mehrten sich die Klagen der Deutschen über die zollpolitische Behandlung des deutschen Handels durch Frankreich.

Die Regierung in Berlin kam unter Zugzwang, als deutsche Firmen im Süden Marokkos umfangreich Erz- und Kupfervorkommen entdeckt hatten. (6)

Es war der in Frankreich permanent genährte Verdacht deutschen Vormachtstrebens, der seit 1910 auch in den wirtschaftlichen Beziehungen zu Reiberein führten. Die Behinderungen der französischen Behörden nahmen zu, Anträge auf Erzkonzessionen wurden nicht erteilt, ein neues Zolltarif erschwerte die Einfuhr deutscher Waren. Die französischen Nationalisten liefen Sturm, nicht nur gegen die deutsche schwerindurstrielle Expansion, sondern auch das eben französisches Kapital nach Deutschland wanderte. (7)

Nach dem Treffen mit dem Zaren im November 1910 in Potsdam und der englischen Angebote einer general political formula und eines Abkommens über die Bagdadbahn, glaubte man in der Wilhelmstraße ein Konflikt mit Frankreich bilateral beschränken zu können. Kiderlen zweifelte aber auch nicht an einer britischen Beistandspflicht gegenüber Frankreich. (8)

Bethmanns Reichstagsrede nach der Potsdamer Entrevue, das Deutschland und Russland keine gegeneinander gerichteten Kombinationen eingehen werden. Diese Rede schlug in Paris wie eine Bombe ein. (9)
 
Iswolsky berichtete seinem Chef Sasonow von einer verbreiteten Bestürzung in Frankreich. (10)

So gewann die eher zunächst nebensächliche Ngoko-Sangha-Affäre, es ging um die Gründung eines deutsch-französischen Konsortiums, welches auch von Frankreich angeschoben worden war, wurde nunmehr zu einem Prüfstein des Abkommens vom Februar 1909. Seit Januar 1911 war das Scheitern des gemeinsamen Ngoko-Sangha-Projekts abzusehen, das sich die Widerstände in Paris verstärkten und ein französischer Kurswechsel in der auswärtigen Politik bevorstand. Das Konsortium kam jedenfalls nicht zustande.

Die Potsdamer Entrevue und die damit verbundene Angst um den Bestand des Bündnisses mit dem Zarenreich, die deutsch-russische Persien- und Bagdadbahnpolitik und die Ngoko-Sangha-Affär ließen Pichon straucheln und schließlich stürzen. Es wurde nach einer „starken Persönlichkeit“ geschrien, die man meinte in Justin de Selves gefunden zu haben. (11) Am 27.06. 1911 wurde dieser schließlich Außenminister und war praktisch auf einen kontrastierenden Kurs verpflichtet. Die Rechten hatten ihr Ziel erreicht.

In Frankreich wurde darüber hinaus die Forderung nach einer Befestigung der Tripleentente laut. Die Nervosität in Frankreich stieg noch, als die liberale Daily News Ende Dezember 1910 meldete, die Triple Entente sei schlicht eine Fiktion. Eine Einigung Englands mit Frankreich und Russland gäbe es nur in engen Grenzen, aber es gebe keine gemeinsame Politik, schon gar nicht in feindlicher Richtung zu Deutschland. (12)

Der deutsche Botschafter Metternich berichtet an dem Reichskanzler Bethmann, Irgendein sichtbares Zeichen, das die Entente noch lebendig sei, werden die Franzosen von ihren englischen Freunden wohl fordern.

Die Vereinbarung des Jahres vom Februar 1909 hielt nur ganze 2 Jahre. So schrieb am 25.02.1911 der deutsche Gesandte von Seckendorff, von Casablanca bereits den Eindruck einer französischen Kolonie. Hier wie auch in anderen Atlantikhäfen von Tanger bis Mogador schieden die Franzosen nicht länger zwischen den wirtschaftlichen und politischen Bereich. Ihr Einfluss auf Polizei, Gerichte und Steuern greife in deutsche Interessen, schrieb Seckendorff. (13)


Anfang des Jahres 1911 schritten die Franzosen unter Missachtung der Akte von Algeciras mit politischen, finanziellen, wirtschaftlichen und militärischen Mitteln in Marokko zur Tat. Ex Außenminister Pichon betrachtete dies als Antwort auf Druck der französischen Öffentlichkeit. Französische Truppen hatten Casablanca besetzt, dort mit den Bau von Eisenbahnlinien in das Landesinnere begonnen, beim Sturz des Sultans Hilfe geleistet und dem neuen Sultan ein Programm an „Reformen“ und eine fette Rechnung für den Aufstand präsentiert. (14)

Das internationale Vertragsrecht lag auf deutscher Seite.

Marineminister Delcassé erklärte im März 1911 vor der Kammer, die gegenwärtigen Bündnisse nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch praktisch in Anwendung zu bringen. (15) Das war schon so was wie eine Kriegsdrohung.

Am 19.April entschloß sich die französische Regierung die Aufstandsbewegung in Marokko militärisch einzudämmen. Dies wurde in London, Petersburg und Berlin mitgeteilt. Frankreich hatte schon wieder einen neuen Außenminister; das war Crupppi. Dessen Ziel war die Stabilisierung der Entente.

Im Mai 1911 schrieb der österreichisch-ungarische Botschafter Szögyény an seinen Außenminister Aehrenthal: Im Auswärtigen Amt ist man vollkommen darüber im Klaren, dass das aggressive Vorgehen Frankreich gegen die offenkundigen Bestrebungen Deutschlands zur Annäherung an St.Petersburgs und an London anzusehen ist. (16)

(1) GP, Band 24, Dokument 8499

(2) GP Band 29, Dokument 10463

(3) Jäckh, Kiderlen, Band 2, S.233

(4) GP Band 29, Dokument 10477

(5) Oncken, Panthersprung nach Agadir

(6) Schmidt, Kaiserdämmerung, S.457

(7) Canis, Der Weg in den Abgrund, S. 407

(8) Düffler, Vermiedene Kriege, S.618

(9) Canis, Der Weg in dem Abgrund, S.407

(10) Stieve, Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskys, Band 1, S.26

(11)Oncken, Panthersprung nach Agadir, S.44

(12)Berliner Lokalanzeiger vom 29.12.1910, der den Artikel bespricht

(13)GP Band 29, Dokument 10522

(14)Schmidt, Kaiserdämmerung, S.456

(15)Stieve, Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis, Band 1, S.35

(16)Canis, Der Weg in den Abgrund, S.406
 
Dazu durchaus passend ein Gespräch Aehrenthals aus dem September 1910 mit dem türkischen Großwesir Hakki Pascha. Hakki Pascha war gerade in Frankreich gewesen und berichtete u.a. über seine Eindrücke.

Hakki Pascha führt aus, das die französische öffentliche Meinung mehr als je sehr reizbar sei und das daher auch die äußere Politik manchmal von Tag zu Tag Schwankungen unterliege und von Stimmungen beeinflusst werde.

Der Gedanke, der Frankreich wie eine Obsession beherrsche, sei Deutschland und die Angst vor demselben. Auf diesen Moment basiere die Allianz mit Rußland und die Entente mit England, ebenso wie die Versuche, Italien vom Dreibunde möglichst loszulösen. Jedes Vorkommen und jede Nachricht, welche diesen Grundgedanken der französischen Politik entgegenläuft und geeignet erscheint , die Machtstellung Deutschlands zu stärken, bringe die Öffentlichkeit in Frankreich aus dem Gleichgewicht.

Österreich-Ungarns Außenpolitik, Band 3, Dokument 2259
 
Ende Dezember 1910 sieht sich der belgische Botschafter in Wien auf die Wirkung der Potsdamer Entrevue nach Brüssel zu berichten:

Die Begegnung zwischen dem Zaren und dem Deutsche Kaiser in Potsdam hat zwischen den beiden Reichen eine Annäherung gezeitigt, die ernsthafter und wichtiger ist, als man in Berlin zu hoffen gewagt hatte. Dieses Ergebnis ist dazu angetan, einen günstigen Einfluß auf die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland auszuüben. Man legt in den deutschen amtlichen Kreisen Wert darauf, diese sich bessern zu sehen. Übrigens werden die Ersetzung des Herrn Iswolsky im Ministerium des Auswärtigen und die Ankunft eines neuen russischen Botschafters in Wien den Weg zum Erfolg zu ebenen.

Unter diesen Voraussetzungen scheint die Ersetzung des Grafen Aehrenthal nicht in gleicher Weise notwendig oder auch nur nützlich, um die Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland herzlicher zu gestalten.

Der gegenwärtige gegen den Minister des Äußeren der Doppelmonarchie geführte Pressefeldzug geht von Paris aus; und es ist leicht seinen Ursprung zu erkennen. Die Annäherung zwischen Deutschland und Rußland hat in Frankreich eine schlechte Aufnahme gefunden. […]

Die Belgischen Dokumente zur Vorgeschichte des Weltkrieges, Band 4
 
ie rheinisch-westfälische Schwerindustrie expandierte zunehmend in der Normadie und vor allem in das Becken von Longwy-Briey.

Die Regierung in Berlin kam unter Zugzwang, als deutsche Firmen im Süden Marokkos umfangreich Erz- und Kupfervorkommen entdeckt hatten. (6)

Was ich nicht kapiert habe: Welche Interessen hatte das DR in Marokko?

Eisenerz spielte sicher eine große Rolle im Denken der Regierenden und nach nur wenigen Jahren wird im Großen Krieg das „Becken von Longwy-Briey“ von Anfang an auf den Kriegsziellisten stehen und dort auch bis zum Ende bleiben. Die entwickelte Welt dieser Zeit ist ein Stahl-Junkie.
Oder hat man gemeint dort Kohlestationen nebst Flottenstützpunkt zu benötigen?
Oder Siedlungsgebiet, Absatzmarkt?
Oder ging es einfach nur darum imperialistische Größe zu zeigen, nach außen wie nach innen?

Oder gab es gar keine klare Linie?
 
Zunächst ist festzuhalten, das Frankreich gleich zwei Verträge gebrochen hatte. Die Akte von Algeciras und den Vertrag vom Februar 1909 mit Deutschland. Deutschland war also durchaus im Recht. Aber Paris hatte immerhin diesmal seine Aktion angekündigt.

Frankreich rechnete nicht mit ernsthaften Widerstand aus Europa und Kiderlen erwartete kein aktives Eingreifen Englands, da es ja auch nicht um marokkanisches Territorium ging.

Was ich nicht kapiert habe: Welche Interessen hatte das DR in Marokko?

Handelsinteressen. Man war der drittgrößte Handelspartner Marokkos.

Oder Siedlungsgebiet, Absatzmarkt?

Absatzmarkt sicherlich, Siedlungsgebiet eher weniger.

Oder hat man gemeint dort Kohlestationen nebst Flottenstützpunkt zu benötigen?

Kiderlen zielte nicht auf einen Krieg; er wollte die Franzosen daran erinnern, das Deutschland auch noch da sei. Im Zentrum der Überlegungen stand also der französische Alleingang und das für Deutschland nichts übrig bliebe. Als Erinnerungshilfe sollte der Panthersprung dienen. Für Kiderlen standen also Methode (Kriegsschiff und Pfand) und Ziel (französische Kompensation, konkret der Kongo) für den einseitigen Machtzuwachs Frankreichs im Maghreb fest.(1)

Al die französischen Truppen im Mai Fez besetzten, signalisierte Paris nach Berlin die Veträge nicht brechen zu wollen und brachte Kompensation ins Gespräch. England war hiermit sofort einverstanden, wie Nicholson Paris wissen ließ. (1)

Es ging nebenbei auch um innenpolitische Probleme, es sollten Auswirkungen der damaligen Finanz- und Wirtschaftspolitik überdeckt werden. Man erwartete für die nächste Reichstagswahl starke Zuwächse der Sozialdemokratie.


(1) Canis, Der Weg in den Abgrund, S.412
(2) Düffler, Vermiedene Kriege, S.618
 
Zuletzt bearbeitet:
Du meinst wie groß der Anteil des Außenhandels mit Marokko im Verhältnis zum übrigen Außenhandel Deutschlands war?

Ich denke, es ist aus den Beiträgen klar geworden, das es tatsächlich eben nicht um die deutschen Handelsinteressen ging.
Bei dieser schweren Krise ging hier um die Vertragsbrüche Frankreichs, wie schon bei der ersten Marokkokrise, und das Frankreich erst marschiert war und dann informiert hatte. Frankreich wollte Marokko unter seiner Kontrolle bringen und damit den größten Teil der Mittelmeerküste. Berlin wollte hierfür eine Kompensation haben; eigentlich nichts großartiges außergewöhnliches im Zeitalter des Imperialismus.

Schade ist nur, das die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland nach dem Februarvertrag von 1909 verhältnismäßig entspannt gewesen waren und Paris hier unnötigerweise ein schwere Krise ins Leben gerufen hatte.
 
Es ist schon bemerkenswert, was sich in den diplomatischen Akten so alles finden läßt. Wilhelm II. hatte während seine Besuches in England mit dem englischen König auch über Marokko gesprochen.

Hintergrund war, das der schwedische König Georg V. darüber informiert hatte, das Wilhelm II. ihm , den schwedischen König, darüber aufgeklärt hätte, das Wilhelm II. Georg V., vor der Entsendung der Panther, hierüber vorher informiert hätte.

Der König erzählte hiervon den k.u.k. Botschafter Mensdorff. Knapp vor seiner Abreise, die von Wilhelm II., kam das Thema Marokko auf das Tapet. Wilhelm II. führte aus, wenn die Franzosen in Fez bleiben, Er einige Konversationen mit den Franzosen haben würde. Georg V. stimmte zu. Georg V. wolle nicht ableugnen, das Wilhelm II. etwas von einem Schiffe gesagt hätte; er (Georg) sei dabei von Mogador ausgegangen und den Namen Agadir nicht genannt.

Spannend wäre natürlich zu wissen, welche Version nun die zutreffende ist. Aber, Wilhelm II. hatte die Engländer also vorher informiert; das allein ist schon interessant.

Fundort: Die Außenpolitik Österreich-Ungarns, Band 3, Dokument 2669
 
Aber, Wilhelm II. hatte die Engländer also vorher informiert; das allein ist schon interessant.
Sorry, aber das geht ja aus dem Dokument nicht hervor.
Der Mernsdorff berichtet vertraulich über ein Gespräch mit dem König der sich so geäußert haben soll:

„Der deutsche Kaiser selbst habe Sich vor drei verschiedenen dem Könige gut-
bekannten Engländern — die Ihm [Georg V] jeder darüber berichteten — in der
heftigsten und drohendsten Sprache über England geäussert. Dem Könige
von Schweden habe Kaiser Wilhelm erzählt. Er habe vor Seiner Abreise
von London mit König Georg über die Entsendung eines Schiffes nach
Agadir gesprochen und „meine und meiner Regierung Zustimmung dazu
erhalten.““


Man kann schon vermuten, dass sich der Willy wieder mal als Quartals-Irrer profilierte.
Der Georg berichtet (durch den Mernsdorff), dass der Wilhelm ihn kurz vor seiner Abreise zu Marokko sprechen wollte.
„Ich will nicht abläugnen, dass Er vielleicht etwas von einem Schiffe gesprochen haben kann, obwohl es mir nicht erinnerlich ist.“
Es kann ja gut sein, dass der Georg gegenüber dem österreichischen Botschafter den Willy nicht geradeheraus als Lügner und Spinner bezeichnen wollte.
(Letzteres war der Willy sicher)
Georg V bestreitet die Version des Wilhelm II gegenüber dem schwedischen König im folgenden eindeutig.

P.S.: vielen Dank für Deinen Buchtipp, dem ich vor einiger Zeit versucht habe zu folgen, aber „nur“ Band 3 ergattern konnte. :)

P.S.2. Was heißt "informieren"? Ich liebe ja diese Definition: Information ist die Verringerung von Unsicherheit.
 
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