Hatte schon registriert, daß Du Dich mit dem Raubes=Volck intensiv befaßt hast. Deine Einwände klingen sehr wirklichkeitsnah und lassen sozusagen in den historischen Alltag eintauchen.
Brissotins Frage ist damit etwas eingegrenzt: Man brauchte wohl mindestens eine nachweisbar bürgerliche Identität, um nicht von vorn herein als verdächtiges "Gesindel" angesehen zu werden. Die Grenze innerhalb derer man das Tragen von Degen hinnahm, mag sich tatsächlich im Breich Bürgerrecht, Zunftmitgliedschaft, Universitätszugehörigkeit ect. befunden haben. Ob etwa ein wandernder Geselle Degen und Pistole mitführen konnte (ohne wär mir bei den Verhältnissen da nicht wohl!), wo er immerhin ja Zunftpapiere vorweisen kann?
Das Gaunervolk legte sich zuweilen eine andere Identität zu. Einer Fahndungsliste von 1733 entnehme ich, wie sich einer gar als "abgedanckten Cammer=Diener/ zuzeiten aber ein Laqueien" ausgibt. Das war Fahndern offensichtlich erfahrungsmäßig bewußt und so werden sie recht genau auf Papiere gesehen haben. Was jene Wirte und Bauern, die außerhalb der Stadt logieren, angeht, so fällt in der Liste auf, daß diese bevorzugt Unterschlupf gewähren und obendrein noch Diebesgut aufkaufen. Schon diese Leute scheinen grundsätzlich verdächig zu sein. Unwiderlegt bleibt aber auch diese Überlegung nicht ganz: Abraham Dieprams (1622-1670) "Die Zecher" zeigt im Vordergrund einen barhäuptig hemdsärmligen Mann mit erhobenem Glase. Der Hut hängt an einem Dreibeinhocker. Direct daneben steht ein recht prachtvoller Degen. Dieser offenbar schon Angetrunkene "Zecher" macht auf mich einen durchaus bäuerlichen Eindruck. So wird denn auch über Diepram "Bauern- und Genremaler" vermerkt. Absolute Aussagen werden allzuleicht von derartigen Bildern widerlegt.
Daß ein Degen sonderlich behinderte, kann ich nicht nachempfinden - obschon ich alles andere als kraftstrotzend bin. Der IOD drückt recht unangenehm auf den Beckenknochen, aber am Schultergurt stört er mich über Stunden nicht. Im Laufschritt muß man ihn freilich ruhig halten, aber so kann man sogar einwandfrei sprinten. Ein Galanteriedegen ist kinderleicht aber mit dem Spielding eine Post=Chaise überfallen zu wollen, kommt mir nicht 'fachgerecht' vor.
Es könnte aber wohl doch sein, daß Waffentragen damals in einigen Aspecten eingeschränkter war als heute.
Was ich mit Gewißheit sagen kann, reicht wiederum in tanzmeisterliche Alltagsroutine hinein: Nämlich, daß zur Aufmachung eines Cavaliers - neben Justeaucorps, Peruque, Hut ect. - gleichwohl ein Galanteriedegen gehört. Und ein Cavalier wird an "Exterieur" (v.a. Kleidung) und "Qualification" (v.a. Benimm, "guthe Aufführung", Bildung) gemessen. Über Schuster- und Schneider-Menuets hat man gemeinerweise gewitzelt, aber diese Leute suchten auch Anerkennung und frequentierten mit den Tanzboden. Und ich glaube nicht, daß sie dabei ausnahmslos ein schlechtes Bild abgegeben haben. G.Taubert schreibt 1717, mancher Mensch hätte einen repräsentativen Anzug in seiner kargen Wohnstatt hängen - eben um anerkannt zu sein - obschon er ansonten ärmlich lebt. Und so war's ja auch mit der Bildung - solche Leute lasen oft, was sie kriegen konnten.
Ich bin wahrscheinlich letztens über das Ziel hinaus geschossen, zumal mein Erfahrungsbereich bei honorigen Druckergesellen so ziemlich aufhört. Was ich eigentlich nur relativieren wollte, ist die Einengung der Frühneuzeitwelt auf rosarote Hofwelten, was mir zu Zeiten des sogenannten "Barocktanzes" rasch zum Hals raus hing. Bei den Rotwelschen menschelt es wenigstens.
Aber wenn ich obgenannte "Jauner= Und Diebs=Lista" durchblättre, kommt sie mir wie eine Jammer- und Elends-Lista vor. Etliche von den darin Genannten werden anhand von Gebrechen beschrieben. So sieht die Welt jenseits aller Socialprogramme aus. Nach einem IOD kann man da wohl lange Ausschau halten.
Daß der Räuber seinen Arsenalbestand schwer in Ordnung halten kann, ist vielleicht ähnlich wie mit den Obdachlosen von Anno 2008. Man sagt: "Bitte steh hier nicht in der Kälte, sondern geh zum Jobcenter und nimm Dir eine kuschelige Wohnung!" - Wie er's nicht auf die Reihe kriegt, begreife ich nicht. Ich kann nur einsehen, daß er's nicht auf die Reihe kriegt. Genauso wenig kann ich nachfühlen, daß ein Räuber sein 'Handwerkszeug' nicht zusammen halten kann. Aber man kann's sich ja ausmalen: Degen versoffen und fröhlich drauf gepfiffen ... - Aber ich gebe die Hoffnung nicht ganz auf, daß es auch den einen oder anderen Desperado gab, der optimal organisiert und bewaffnet war.
Räuber sind meißt anders als Schneider und Schuster, die ihren Arbeitsbereich im Griff haben, um abends noch als galanter Herr über "M. Joh. Andr. Fabricii philosophische Oratorie oder vernünfftige Anleitung zur galanten Beredsamkeit" (1732 zu haben für 8 Groschen!) zu discurrieren. Und eben diese Leute kann ich mir ohne Degen schwer vorstellen.