Ist schon erstaunlich, wie ernst manche dieses Thema sehen ;-)
Ich bleibe allerdings dabei, daß ich den zeitgenössischen Darstellungen wenig abnehmen kann und werde, was Keuschheit und Frömmigkeit angeht.
Ich erlaube mir, mich dazu selbst zu zitieren:
Ich sage es noch einmal mit Peter Dinzelbacher, den ich diesbezüglich bereits referenziert und auch zitiert hatte: "Wie weit die Laien diese Ausblendung oder Verteufelung eines zentralen Lebensbereiches ihrer Existenz mittrugen, läßt sich nicht pauschal beurteilen."
Anm. 1: Dahingehend stimmt ihm bspw. auch
Hans-Henning Kortüm grundsätzlich zu, der ansonsten bei weitem nicht alle Sichtweisen von
Peter Dinzelbacher teilt.
Anm. 2: Frömmigkeit ist - gerade in der Betrachtung des europäischen Mittelalters - eine vielschichtige Thematik (weil sie nahezu alle damaligen Lebensbereiche durchdrungen hat), hat aber nicht zwangsläufig mit Askese oder gar Asexualität o. dgl. zu tun.
Anm. 3: Keuschheit war i.d.S. nur für den Klerus und für Ordensleute verpflichtend; und daß dabei Ideal sowie Anspruch einerseits und Realitäten andererseits auseinanderfallen konnten, hat hier mW auch niemand bestritten.
Selbst die Darstellungen von Sex unserer heutigen Gesellschaft spiegelt zu 80 Prozent nicht das wieder, wie es wirklich abläuft. Man stelle sich nur vor, in 200 Jahren bekommt jemand ein pornografisches Produkt unserer Zeit in die Hand und dichtet uns allen eben das dort gesehene oder gelesene an. Wärd ihr damit zufrieden ?
Dazu nur folgende Anmerkung: Im Gegensatz zum Mittelalter gibt es bspw. für die 2. Hälfte des 20. Jh. mehrere Studien - welche übrigens alle die grundlegenden Schlußfolgerungen des
Kinsey Report nicht widerlegen konnten, sondern bei aller berechtigter Kritik im Großen und Ganzen bestätigten. Sicher ist es möglich, daß diese Aufzeichnungen in 200 Jahren alle verlorengegangen sind und aus unserer Epoche nur noch pornographisches Material bzw. ein derartiges Produkt übriggeblieben ist; ein solches Szenario erscheint aber äußerst unwahrscheinlich (die Medien, auf denen solche Arbeiten gespeichert sind, sind nämlich nicht weniger dauerhaft als die anderen).
Ebensowenig läßt sich natürlich sagen, inwieweit die Herangehensweise der Historiker in der Zukunft sein wird, aber vorausgesetzt, daß sich die allgemeine Vorsicht hinsichtlich möglicher Vermeidung pauschaler Beurteilungen nicht abschwächt, ließen sich selbst beim unwahrscheinlichen Fall, daß sämtliche Studien verlorengehen und lediglich pornographisches Material erhalten bleibt, nicht mehr als die folgenden Fragen einigermaßen beantworten:
1. Welche Praktiken waren (offenbar) bekannt?
2. Was war davon wirklich toleriert bzw. inweiweit lassen sich Aussagen bzgl. Tolerierung treffen (und dann für wen und vor allem in welchen Regionen)?
Selbst die Darstellungen von Sex unserer heutigen Gesellschaft spiegelt zu 80 Prozent nicht das wieder, wie es wirklich abläuft...
Dazu habe ich übrigens noch eine weitere Frage: Entstammen die 80% einer statistischen Erhebung, einer Studie o. dgl. oder ist das eher eine gefühlsmäßig-intuitive Abschätzung?