Tirpitzhafen

Natürlich bietet das 19. Jahrhundert mehr als nur Nationalismus. Aber der Nationalismus ist eine der prägenden Ideologien des 19. Jahrhunderts, in seiner zweiten Hälfte verstärkt in seiner chauvinistischen Ausprägung. Wer wollte das in Abrede stellen?

Das kann wohl niemand. Wenn wir aber eine historische Person beurteilen, dann bitte im historischen Kontext und nicht nach heutigen Wertmaßstäben!

Beispiel:
Ernst Moritz Arndt ? Wikipedia

Im Jahr 2009 wurden an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität 1400 Unterschriften für eine Umbenennung der Universität gesammelt. Als Grund wurden seine antisemitischen Äußerungen genannt. In einer Urabstimmung vom 11. bis 15. Januar 2010 sprach sich die Mehrheit der Abstimmenden jedoch gegen die Umbenennung aus. Mit 49,9 Prozent (1.398 Stimmen) stimmte eine Mehrheit der abstimmenden Greifswalder Studenten gegen eine Änderung des Namens der „Ernst-Moritz-Arndt-Universität“. 42 Prozent (1.217 Stimmen) sprachen sich für eine Umbenennung in „Universität Greifswald“ aus. Schließlich beendete der Senat den Streit am 17. März 2010, als 22 von 36 Senatoren für die Beibehaltung des Namens stimmten.

Aha! Da wir heute wissen, dass Antisemitismus im historischen Kontext betrachtet kein Einzelfall ist, ist diese Diskussion um ihn eben keine geschichtliche Auseinandersetzung sondern eine Beurteilung und Verurteilung nach heutigen Maßstäben. Und dies noch selektiv, denn seine Verdienste werden damit wertlos. Na toll! Nach heutigen Maßstäben ließe sich wohl jeder Protagonist der damaligen Zeit "demontieren". Ist das wirklich Geschichtsaufklärung?
Wenn dies Regel wird:
Nicht einmal die beiden. Schweitzer kann man nach heutigen Maßstäben durchaus auch zumindest Chauvinismus vorwerfen. Und mit Mutter Teresa werden Antiklerikale und Abtreibungsbefürworter keine Freude haben.
oder dies:
Mit dem "Tirpitz-Argument" müßte man auch die ganzen Bismarck- ,Blücher-, Seydlitz-,Moltke-, Sedan- und Kaiser Wilhelm-Strassen umbenennen.
Wann ist dann Geheimrat Goethe dran?

Grüße
excideuil
 
Inzwischen habe ich Alfred von Tirpitz ? Wikipedia gelesen, über Tirpitz kann man sicher kontrovers diskutieren.
Besonders pikant wäre eine Umbenennung nach dem Kieler Matrosenaufstand ? Wikipedia

Bis jetzt habe ich noch nicht gefunden, wann und warum der Hafen nach Tirpitz benannt wurde, was ich zeitgeistgeschichtlich spannend fände.

Weiß ich auch nicht.

Sehe ich das richtig in der Diskussion, dass man aber den Politiker Tirpitz ( als Republikgegner) nicht vom Militär Tirpitz trennen kann?
 
Natürlich bietet das 19. Jahrhundert mehr als nur Nationalismus.
dann bin ich beruhigt :yes:

Aber der Nationalismus ist eine der prägenden Ideologien des 19. Jahrhunderts, in seiner zweiten Hälfte verstärkt in seiner chauvinistischen Ausprägung. Wer wollte das in Abrede stellen?
und die anderen Ideologien des 19. Jhs. verblassen gegenüber dieser einen?

Das ist mir zu einseitig, zu pauschalisierend geurteilt. Ich sehe keine Notwendigkeit, das 19. Jh. einzig an den ideologischen Strömungen zu messen, welche in das Desaster des 1. Weltkriegs führten. Eher als mit einem Etikett wie "das nationalistische 19. Jh." könnte ich mich mit "Kolonialismusepoche" anfreunden. Von dem, was das 19. Jh. kulturgeschichtlich gebracht hat mal ganz abgesehen.
 
Ich vermute mal,die Diskussion bezieht sich in erster Linie deshalb auf das späte 19nte und frühe 20.ste Jahrhundert ,weil dieser Zeitraum relativ nah und seine Auswirkungen noch relativ präsent sind.
Nach Personen aus früheren Jahrhunderten sind Strassen benannt, ohne daß es wen anficht,was die so getrieben haben.ei Tilly und Wallenstein,Barbarossa oder Karl (d.Gr.) haben wir merkwürdigerweise keine Umbenennungsdiskussionen.;)
 
Nein, daß man sich buckelnd bemüht das zu tun, was grad gut ankommt. Das ist peinlich.

Worin genau siehst du ein "Buckeln"? Darin, dass man Namen von Menschen, die für obrigkeitsstaatliche Ideologien stehen entfernt?

Nun fordern wir/die Historiker ja sonst auch immer gebetsmühlenartig, dass man geschichtliche Ereignisse und Zusammenhänge nicht unbedingt nur nach dem eigenen Wertesystem beurteilen darf, sondern aus ihrer Zeit heraus.

Das war der Historismus, bekannt ist vielleicht das Zitat von Ranke: "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott."

Bezeichnenderweise wird dem Historismus in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie der Relativismus vorgeworfen.
Die ursprünglichen Benennungen sind also selbst historische Zeugnisse,
Das ist richtig.
die man meiner Meinung nach grundsätzlich so akzeptieren sollte wie sie sind. Grundsätzlich bedeutet in diesem Zusammenhang allerdings, dass dies nicht für besonders krasse Fälle gilt (z. B. "Adolf-Hitler-Straße" "Carl-Peters-Weg" oder was man sich da sonst noch so vorstellen kann).

Ich habe gestern den ganzen Tag mit mir gekämpft diese Extrembesipiele nicht zu bringen, weil man mir zu Recht vorgeworfen hätte, Totschlagargumente zu bringen. Allerdings liegt genau hier der Hase im Pfeffer. Denn die Konsequenz wäre ja eigentlich, dass man Adolf-Hitler-Straßen so heißen lassen müsse, ist ja ein historisches Zeugnis. Nun will ich Tirpitz oder Hindenburg nicht in eine Schublade mit H. stecken, Gott bewahre, dennoch sollte man diese Wertediskussion führen.


Aber zurück zum Tirpitz. Natürlich war der ein Nationalist von einer Sorte, wie sie heutzutage hier nicht gerne gesehen sind, um es mal vorsichtig auszudrücken. Aber er war auch ein Kind seiner Zeit, in der Nationalismus nicht nur in Deutschland en vogue war und in der es z. B. als wissenschaftlich "erwiesen" galt, dass "der Neger" gegenüber dem "Weißen" minderwertig war. Frankreich war darüber hinaus der Erbfeind und England war sowieso immer gegen Deutschland. Da könnte man noch viele andere "Tatsachen" anbringen, die im Deutschen Reich als in weiten Kreisen geteilte Ansichten angesehen werden können.
Du verurteilst also einerseits diese Sichtweise, legitimierst sie aber wiederum dadurch, dass sie ihrer Zeit entsprechend waren?

Das kann wohl niemand. Wenn wir aber eine historische Person beurteilen, dann bitte im historischen Kontext und nicht nach heutigen Wertmaßstäben!

Man muss beides tun. Man muss die Menschen nach den Wertmaßstäben ihrer Zeit beurteilen und schauen, was sie wissen konnten und wie ihre tatsächlichen Handlungsoptionen waren, und man muss sie nach heutigen Wertmaßstäben beurteilen. Das erste ist ein Sachurteil, das zweite ist ein Werturteil.
Mich verwundert etwas die mangelnde Bereitschaft dieses Werturteil zu fällen, nur weil man damit "Größen" demontieren könnte.
Ich muss eines sagen: Die Väter der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte waren weiter, als so manche spätere Figur, die heute noch namentlich geehrt wird.


und die anderen Ideologien des 19. Jhs. verblassen gegenüber dieser einen?

Das ist mir zu einseitig, zu pauschalisierend geurteilt. Ich sehe keine Notwendigkeit, das 19. Jh. einzig an den ideologischen Strömungen zu messen, welche in das Desaster des 1. Weltkriegs führten. Eher als mit einem Etikett wie "das nationalistische 19. Jh." könnte ich mich mit "Kolonialismusepoche" anfreunden. Von dem, was das 19. Jh. kulturgeschichtlich gebracht hat mal ganz abgesehen.

Es ist wirklich erstaunlich, wie du in aussagen immer wieder Dinge hineinliest, die dort nicht stehen.


Nach Personen aus früheren Jahrhunderten sind Strassen benannt, ohne daß es wen anficht, was die so getrieben haben. Bei Tilly und Wallenstein, Barbarossa oder Karl (d.Gr.) haben wir merkwürdigerweise keine Umbenennungsdiskussionen.;)

Abgesehen davon, dass ich jetzt nicht so viele Ortsnamen kenne, die nach diesen Figuren benannt sind - es gibt allerdings den Karlspreis, der auf einer eher fragwürdigen Deutung Karls als Pater europae beruht (wobei pater europae durchaus ein zeitgenössischer Begriff ist, der in dem Gedicht Carolus Rex et Leo Papa vorkommt) - wird es also vielleicht Zeit, genau diese Diskussionen anzustoßen.
 
ich muss an eine Karikatur "Das deutsche Eck" von Wolfgang Hicks von 1950 denken, die zum Thema passt.

Da steht eine alte Frau vor ihrem Haus und wundert sich, wo sie schon überall gewohnt hat, ohne ein einziges Mal umzuziehen.

Zuerst war es die Kaiser Wilhelm Straße.
Die wurde umbenannt in Bebel Allee
Dann war es die Adolf Hitler Straße.
Darauf kam die Roosevelt Straße
und schließlich wohnte sie in der Hennecke Allee.


Das Thema scheint ein sehr deutsches zu sein im Spannungsfeld von Tradition und "Last der Geschichte". Doch es gibt auch andere Beispiele: In Francis Ford Coppolas The Godfather II macht Hyman Roth= Meyer Lansky gespielt von Lee Strassberg eine Hommage an seinen Freund Moe Greene = Bugsy Siegel, den Roth einen Visionär nannte, an den in Las Vegas nicht eine einzige Straße, kein einziges Denkmal erinnert.

Bugsy Siegel war tatsächlich der Vater des modernen Las Vegas, und es erinnert tatsächlich kein Straßenschild an ihn. Warum? Weil er ein Gangster war? Oder war es vielmehr so, dass Bugsy verschwinden musste und selbst Meyer Lansky ihm nicht mehr helfen konnte, weil er ein altmodischer Gangster aus der Prohibitionszeit war, der mit der Tommy- Gun argumentierte, statt mit Anwälten und der zuletzt wenig finanzielles Fortune hatte, so dass ein Syndikat annahm, Bugsy hätte sie über den Tisch gezogen.

Könnte man in Chicago eine Straße nach Al Capone benennen? Als Vertreter der "Dishwasher- Story, des rags to riches lebte Al den American Dream, war er ein Henry Ford der Kriminalität, der schließlich auf recht fragwürdige Weise, wegen Steuerhinterziehung eingebuchtet wurde. Wäre es denkbar, dass Chicago eine Straße nach ihm benennt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Abgesehen davon, dass ich jetzt nicht so viele Ortsnamen kenne, die nach diesen Figuren benannt sind - es gibt allerdings den Karlspreis, der auf einer eher fragwürdigen Deutung Karls als Pater europae beruht (wobei pater europae durchaus ein zeitgenössischer Begriff ist, der in dem Gedicht Carolus Rex et Leo Papa vorkommt) - wird es also vielleicht Zeit, genau diese Diskussionen anzustoßen.


Das finde ich auch, und ich muss in diesem Zusammenhang an die Bundeswehr und die Diskussion um Liedgut der Armee und Namen von Kasernen denken, die -na ja- ein gewisses Geschmäckle haben. Lange Zeit war die Wehrmacht Vorbild der Bundeswehr,in Punkto Truppenführung und militärische Effizienz und Leistungsfähigkeit war sie das wohl auch. Wenn sich aber die Armee eines Staates demokratisch definiert und das Beispiel eines Staatsbürgers in Uniform fordert, ist es schlicht ein Unding, wenn man sich an Ludendorff oder Tirpitz als Namensgeber orientiert, denn es hat ja Tradition eine Bedeutung, es stellt sich die Frage auf welche Traditionen eine Institution berufen soll oder kann.
 
Es ist wirklich erstaunlich, wie du in aussagen immer wieder Dinge hineinliest, die dort nicht stehen.
???
was soll es denn da:
Natürlich bietet das 19. Jahrhundert mehr als nur Nationalismus. Aber der Nationalismus ist eine der prägenden Ideologien des 19. Jahrhunderts, in seiner zweiten Hälfte verstärkt in seiner chauvinistischen Ausprägung. Wer wollte das in Abrede stellen?
groß hineinzulesen geben?
Um Deine Argumentation zu stützen, hast Du einen sehr selektiven Blick aufs 19. Jh. geworfen :winke:

Ich stelle Deiner Charakterisierung des 19. Jh. mal einen Ausschnitt Tante Wiki gegenüber:
Tante Wiki schrieb:
Aus verschiedenen Gründen kann das 19. Jahrhundert den Charakter einer eigenen Epoche beanspruchen. Es war die Zeit, in der sich die Industrialisierung und die kapitalistische Wirtschaftsweise vor allem in Europa und Nordamerika durchsetzten. Mit dem Imperialismus erreichte die direkte und indirekte Dominanz Europas in der Welt ihren Höhepunkt. Innerhalb der sich industrialisierenden Gesellschaften veränderten sich die Lebensweisen teilweise dramatisch. Der soziale Wandel zerstörte hergebrachte Verhaltens- und Denkweisen. Die Verkehrsrevolution und die Suche nach Arbeit erhöhten die Mobilität. Die Städte wuchsen nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern mit der Urbanisierung begann sich eine spezifisch neuzeitliche städtische Lebensweise durchzusetzen.
Das lange 19. Jahrhundert war in vieler Hinsicht das Jahrhundert des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft. Das Besitz- und Bildungsbürgertum prägte im Wesentlichen Kunst, Kultur, Geistesgeschichte, aber etwa mit dem Nationalismus und dem Liberalismus auch die politische Kultur.
Im weiteren Verlauf entwickelte sich auch die Arbeiterbevölkerung zu einer gesellschaftlich prägenden Schicht. Arbeiterbewegung und Sozialismus wurden zu zentralen Begriffen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dagegen verloren der Adel und die Landbevölkerung tendenziell an Bedeutung.
Gerade in Hinblick auf die dominierenden sozialen Gruppen spricht viel dafür, ein langes 19. Jahrhundert von einem kurzen 20. Jahrhundert abzugrenzen. Im Letzteren nahm der gesellschaftliche Einfluss des Bürgertums als Folge des Ersten Weltkrieges erheblich ab und in der zweiten Hälfte verlor auch die Arbeiterbevölkerung an Bedeutung.
Auch in Hinblick auf die dominierende politische Organisationsform des Nationalstaats unterscheidet sich das 19. Jahrhundert von der absolutistisch-feudalistischen Frühen Neuzeit auf der einen Seite und einem „postnationalen“ späten 20. Jahrhundert auf der anderen Seite.
da ist Tante Wiki nun doch etwas differenzierter...

Wenn ich Dich richtig verstehe, hältst du die Namensgebung "Tirpitzhafen" für den Kieler Marinehafen für keine gute Idee. Hier hätte doch genügt, auf Tirpitz politische Rolle nach dem 1. Weltkrieg zu verweisen. Ob das aber rückwirkend ein besonderes Licht auf Tirpitz Rolle in der kaiserlichen Marine bis 1916 wirft, will ich nicht entscheiden müssen. Aber ein derart selektiver Blick auf eine Epoche ist kein besonders geschicktes Argument.
 
Vielleicht kann man im Kontext noch einmal auf die Traditionsdiskussion in der Bundeswehr verweisen, und da ist im Verlauf auch einiges an Wandel zu verzeichnen:
Anfänge westdeutscher ... - Lutz Köllner - Google Bücher

Die Verwendung des Namens Tirpitz (zuletzt von Hitler anläßlich der Schiffstaufe des so benannten Schlachtschiffes) ist wohl auch nur in der frühen Phase und in der bis dato nur unkritischen Auseinandersetzung erklärbar.

Zum Hintergrund: Bis 1933 zog in der Marine - wie auch in den Fachpublikationen zum Weltkrieg ablesbar - eine "Tirpitz-Fraktion" die Strippen. 1933/45 ergab sich die Anknüpfung an die Tirpitzsche Flottenrüstung nebst Weltmachtstreben zwanglos und passte zur Politik. Bis 1945 fehlten in den Marine Auseinandersetzungen zur Person, und das ging in den 1950ern eher so weiter.

Sicher hätte man auch "militärisch-personelle" Alternativen der Namensgebung in der Marine finden können, die andere Bezüge als Tirpitz aufgewiesen hätten.

"Rommel, Mölders, Lütjens" & CO. in der Bundeswehr war eine weitere merkwürdige Kontinuität zu "Spee, Scheer, Hipper, Tirpitz, Bismarck".
 
Lieber Dekumatland,

in dem von Dir zitierten Wikipediaabschnitt werden im wesentlichen drei Ideologien benannt: Nationalismus, Liberalismus und Sozialismus.
Der Sozialismus wurde zwar im 19. Jahrhundert begründet, ich würde ihn aber nicht als prägende Ideologie des 19. Jahrhunderts bezeichnen, auch wenn er vielleicht in den Städten vor allem gegen Ende des Jahrhunderts große Anhängerschaften hatte. Der utopische Sozialismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts war deutlich weniger erfolgreich.
Den Liberalismus des 19. Jahrhunderts subsumiere ich unter den Nationalismus, da ich den Nationalismus des 19. Jahrhunderts selbst sehr wohl zu differenzieren weiß, zwischen dem antifeudalen und antikleinstaatlichen nach innen gerichteten Nationalismus der ersten Hälfte wie dem eher aggressiven und nach außen gerichteten Nationalismus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, insbesondere nach 1870. Dass man das im einzelnen noch weitgehender differenzieren könnte, ist mir - und wohl auch allen anderen - völlig klar. Doch hier ging es nun mal um den aggressiven und revanchistischen Nationalismus nach 1870 auf deutscher wie auf französischer Seite.
 
Um Deine Argumentation zu stützen, hast Du einen sehr selektiven Blick aufs 19. Jh. geworfen :winke:

Der smalltalk über die sonstigen Errungenschaften des Jahrhunderts oder sonstige Selektionen führt hier wohl nicht weiter.

Dass in Zusammenhang mit bestimmten Namens- und Traditionsdiskussionen der Bundeswehr diese eine Strömung betont wird, hat nichts mit Selektion zu tun, und ist auch in der Fachliteratur dazu (siehe zB oben) durchaus üblich.
 
Den Liberalismus des 19. Jahrhunderts subsumiere ich unter den Nationalismus,
das erscheint mir auf den ersten Blick überraschend, muss aber hier - Hafenbenennung - sicher nicht weitergeführt werden

Doch hier ging es nun mal um den aggressiven und revanchistischen Nationalismus nach 1870 auf deutscher wie auf französischer Seite.
Jetzt wird mir klarer, was Du gemeint hattest - Danke für die Erklärung.
 
Worin genau siehst du ein "Buckeln"? Darin, dass man Namen von Menschen, die für obrigkeitsstaatliche Ideologien stehen entfernt?

Das buckeln besteht eher darin, dem gerade aktuellen Zeitgeist hinterherhecheln zu wollen. ;) So würde ich es jedenfalls verstehen.



Das war der Historismus, bekannt ist vielleicht das Zitat von Ranke: "Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott."

Bezeichnenderweise wird dem Historismus in der Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie der Relativismus vorgeworfen.

Mag ja sein. Auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, aber der Vorwurf des Relativismus ist für mich auch oft (nicht immer) eine Art Totschlagargument. Wie es "richtig" geht, hast du ja weiter unten aufgeführt. :winke:

Ich habe gestern den ganzen Tag mit mir gekämpft diese Extrembesipiele nicht zu bringen, weil man mir zu Recht vorgeworfen hätte, Totschlagargumente zu bringen. Allerdings liegt genau hier der Hase im Pfeffer. Denn die Konsequenz wäre ja eigentlich, dass man Adolf-Hitler-Straßen so heißen lassen müsse, ist ja ein historisches Zeugnis. Nun will ich Tirpitz oder Hindenburg nicht in eine Schublade mit H. stecken, Gott bewahre, dennoch sollte man diese Wertediskussion führen.

Da stimme ich mit dir überein. Ich bin selber auch nicht unbedingt glücklich über meine "Totschlagbeispiele" aber mir war es wichtig, klarzustellen, dass es gewisse Grenzen gibt, deren Überschreitung ich nicht tolerieren kann.


Du verurteilst also einerseits diese Sichtweise, legitimierst sie aber wiederum dadurch, dass sie ihrer Zeit entsprechend waren?

Zunächst einmal stelle ich diese Sichtweise fest. Dann merke ich, dass ich sie nicht teile und dass sie - zumindest in großen Teilen - darüber hinaus bestimmten Werten, die mir wichtig sind, klar widersprechen. Insofern verurteile ich sie, auf jeden Fall wenn sie heute noch vertreten werden. Das "rückwirkende Verurteilen" ist immer so eine Sache. Mit unserem derzeitigen Kenntnisstand ist es leicht, aber ich frage mich immer, wie hätte ich das damals mit dem damaligen Wissen beurteilt... Aber ich schweife ab...

Was ich anders sehe als du, ist, die Legitimierung einer Sichtweise. Ich wäre mit dir soweit einig, wenn es um eine Neubenennung ginge.

In der Beurteilung der Notwendigkeit oder Nichtnotwendigkeit einer Umbenennung stellt sich für mich der Sachverhalt anders dar. Hier geht es nicht nur darum, ob es jemand verdient hat, dass nach ihm ein Ort benannt wird, sondern auch darum dass durch eine erfolgte Benennung bereits Fakten geschaffen wurden sind und bereits Überlegungen zur Benennung getroffen worden sind. Das ist eine ganz andere Abwägung. Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass die Argumente für die Beibehaltung eines Namens oder das Nichtanstoßen einer Diskussion dazu überwiegen, schlucke ich meine Bedenken halt runter. Legitimiert ist damit nicht unbedingt etwas.

Man muss beides tun. Man muss die Menschen nach den Wertmaßstäben ihrer Zeit beurteilen und schauen, was sie wissen konnten und wie ihre tatsächlichen Handlungsoptionen waren, und man muss sie nach heutigen Wertmaßstäben beurteilen. Das erste ist ein Sachurteil, das zweite ist ein Werturteil.

Da stimme ich mit dir überein.

Mich verwundert etwas die mangelnde Bereitschaft dieses Werturteil zu fällen, nur weil man damit "Größen" demontieren könnte.
Ich muss eines sagen: Die Väter der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte waren weiter, als so manche spätere Figur, die heute noch namentlich geehrt wird.

Ich glaube, es geht gar nicht darum einen Großen zu fällen. Und natürlich ist es nicht immer gerecht, wenn "verdientere" Personen nicht geehrt werden. Aber man muss auch akzeptieren, dass sich schon mal jemand Gerdanken gemacht hat und sein Werturteil in die Namensgebung einfließen lassen hat. Und da - dies wurde auch schon gesagt - jeder Mensch irgendwo Dreck am Stecken hat, könnte man in letzter Konsequenz nie einen Ort nach einer Person benennen, weil immer jemand Einzelaspekte dieser Person anders sieht und eine Umbenennung forden würde.

Selbst die Väter der Erklärung der Menschen und Bürgerrechte, die du angesprochen hast, haben z. B. wahrscheinlich ihre Kinder nach Maßstäben erzogen, die nicht den Erkenntnissen der modernen Pädagogik entsprechen. Je nachdem wie man das gewichtet, kann man sie dann durchaus als untauglich als Namensgeber ansehen.

Oder als besonders krasses Beispiel aus RTL Samstag Nacht vor vielen Jahren (sinngemäß): Jesus taugt nicht als Vorbild für die Jugend, wo er doch seit 2000 Jahren nur rumhängt. Selbst wenn es hier nur "Comedy" war, zeigt es doch, dass man wirklich an jedem etwas finden kann...

Deshalb denke ich, dass Umbenennungen nur dann erfolgen sollten, wenn es neue Erkenntnisse (nicht andere Bewertungen!) gibt. Bei Neubenennungen darf man gerne strenger sein.

Vielleicht gibt es im Geschichtsforum des Jahres 2200 dann mal einen Thread, in dem spekuliert wird, weshalb nach 1950 kaum noch Straßen nach Tirpitz oder Kaiser Wilhelm benannt wurden. :D

Viele Grüße

Bernd
 
das Befestigungssystem des Reichskriegshafens Kiel bis 1918 schrieb:
[...]
Die Stadt Kiel prozessierte darum, die Eigentumsrechte an der Förde und ihrer Ufer nicht an die Kriegsmarine abtreten zu müssen, verlor aber im Jahr 1899. In der Wiker Bucht wurde der Stadt untersagt, einen Handelshafen zu errichten. Die Marine baute stattdessen den heutigen Tirpitzhafen.
[...]
aus: Erhalt und Nutzung historischer Großfestungen
Welchen Namen der wohl 1899 installierte Hafen in der Wiker Bucht hatte, geht aus dem Aufsatz leider nicht hervor.
 
Schau doch mal oben in die verlinkte Literatur: ich habe das so gedeutet, dass die Namensgebung eine Angelegenheit der Bundeswehr gewesen ist.

Und um den Hinweis gleich selbst zu korrigieren, hier eine Zeichnung aus den USSBS (No.95) von Ende 1946.

Danach liegen "Scheer-Hafen" und "Tirpitzhafen" nebeneinander am Ausgang des Kanals.

Die Namensgebung muss demnach doch vor 1945 erfolgt sein.
 

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Wenn wir von Namenswidmungen und Denkmälern sprechen, haben wir es vor allem mit Symbolen und Symbolik zu tun. Die Wahrnehmung dieser Symbole hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Wenn man vom Kapitol die Via Sacra hinunterschlendert, auf dem Weg zum Kolosseum passiert man den Titusbogen. was dem Einen eine glanzvolle Erinnerung an die Macht und Größe Roms ist, ist einem orthodoxen Juden eine schmerzhafte Erinnerung an die Zerstörung des Tempels und die Diaspora der Juden.

In Ostende erinnert die Strandpromenade und in Brüssel noch zahlreiche Denkmäler und das Völkerkundemuseum an Leopold II. und seine Vision von Afrika. Für einen Bewohner des Kongo, der sich mit der Geschichte seines landes auseinandergesetzt hat, ist diese in Stein gehauene Geschichtsklitterung nur schwer erträglich.

In Kinshasa hatte man Anfang der 1960er Jahre Leopold und seinen Agenten "Bula Matari" Stanley buchstäblich vom Sockel gestürzt. Sicher, ein Bildersturm ist undifferenziert und versperrt den Bick auf eine objektivere Sichtweise, doch es ist eine Revision geschichtsklitternder Symbolik nicht nur legitim, sondern auch notwendig, sich von Geschichtsrevisionismus zu befreien und Geschichtsklitterung als solche zu entlarven.

Es geht doch gar nicht darum, Größen der Geschichte Größe und Leistungen abzusprechen. Es stellt sich mir die Frage, ob es eine heuchlerisches Verbeugung vor dem Zeitgeist Political Correctness eines "Gutmenschentums" und Humanitätsduslertums ist, wenn ich George Armstrong Custer eher für einen selbstüberschätzten Indianerschlächter und skrupellosen Karrieristen halte, als ihn als tragischen Helden unbedingt auf seinem Sockel zu belassen, denn mit Custer würde vielleicht der ganze Mythos von der Gewinnung des Westens in Frage gestellt. Warum traut sich heute noch kaum jemand, öffentlich in Belgien zu sagen, dass Leopold II. sich millionenfachen Völkermordes schuldig gemacht hat, dass die Segnungen der Zivilisation, die im Kongofreistaat verbreitet wurden, für die indigene Bevölkerung verheerende waren.
Wie gesagt, Traditionen und Symbolik haben eine Bedeutung, historische Gesten haben eine Bedeutung.
 
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