Helden, Mythos & Ethnogese
...Die Geschichte zeigt dass solche Versuche kleinere relativ egalitäre Gruppen zu unterwerfen ein zähes meist unmögliches Unterfangen war.
So haben die Spanier es auch nicht wirklich geschafft die Stämme im Amazonasbecken vollständig zu unterwerfen.
Auch hier waren es zumeist relativ egalitäre Gruppen, die einem Naturraum leben, der die Errichtung von Verwaltung etc, äußerst schwierig macht, fast ebenso wie der Naturraum auf dem Gebiet der heutigen BRD.
Also das Amazonasbecken war doch letztlich im Wesentlichen von den Portugiesen beansprucht, auch wenn die spanischen Konquistadoren sich da Anfänglich tummelten.^^
@Ethnogese:
Ich denke es gibt genug Linien die von „den“ Germanen zu den heutigen Deutschen führen. Genauso gibt es andere Traditionslinien die mindestens ebenso wichtig sind und das „Germanentum“ als integrierenden Faktor für die Ethnogese der Deutschen (welcher Zeit muss ich da ironisch fragen…) ist nur ein Faktor von vielen, wobei besonders der christliche Katholizismus der Ottonenzeit, sowie Rückgriff auf Traditionen römischer Stadtkultur und römische imperialer Kultur einmal besonders genannt werden sollten. Dabei ist festzustellen das die „germanischen“ Wurzeln der mittelalterlichen Deutschen gerade nicht zu den politisch wirksamen Faktoren der Ethnogese gehört! Es ist immer eine Frage der Prämisse und des Blickwinkels wenn abgewägt wird. Die Archäologie kann m.E. dazu nur ein unzureichendes Mittel bieten – ein Werkzeug von vielen. Das ist, als wolle man mit der Lupe im freien Gelände alleine den Verlauf antiker Straßenzüge rekonstruieren wollen! Komplexe Abläufe erfordern des Öfteren einen Perspektivwechsel, ohne dabei die mit der „Lupe“ zu Tage getretenen Fakten ignorieren oder verneinen zu wollen.
Archäologische Funde können etwas über die materielle Kultur früher lebender Menschen aussagen und Rückschlüsse auf ihre Lebens- & Gesellschaftsformen erlauben. Zu ethnischen Fragen können sie nur (eingeschränkt) im Zusammenwirken mit historischer Überlieferung beitragen, wenn sich durch die Ausgrabungen keine Schriftkultur erschließen lässt. Hypothetisch verdeutlichen möchte ich das an folgendem Szenario: Europa müsste aus irgendwelchen Gründen komplett von der Menschheit geräumt werden und die Überlieferung würde komplett ausfallen… Jahrhunderte später würde die Menschheit den „vergessenen Kontinent“ wieder entdecken und – ausgerechnet – nur Archäologen hereinlassen… Wenn dann Ausgrabungen über frühes- & hohes Mittelalter, sowie römischer Antike gemacht würden, könnte es sein das sie eine relative Kontinuität zwischen beiden Epochen postulieren könnten. Weil es in beiden Fällen nahezu ausschließlich lateinische Inschriften gibt und man meinetwegen die „frühe“ Christianisierung in Rom seit Konstantin ebenfalls feststellen würde… Wir wissen, dass diese Schlussfolgerung Unsinn wäre…
Das Phänomen der Romanisierung Galliens in der Antike ist ein weiteres Indiz dafür, dass Ethnogese auch fast unabhängig von größeren Bevölkerungsverschiebungen stattfinden kann. Aus Galliern wurden Römer. Würde deren spezifische Ausprägung im Vergleich zu Italikern es erlauben von einem Bruch der Kontinuität zu sprechen, obwohl die Bevölkerung im Wesentlichen keine allzu großen Verschiebungen erfahren hatte?...
Damit verlasse ich diesen Teil des Themas.
@Nationale Mythen und Nationale Helden:
Ein wichtiger Punkt für die Ethnogese früher Gesellschaften sind ihre Mythen, die vom Ursprung und Herkunft der Stämme und Völker berichten und ihnen Identität gaben. Mythen sind aber oft noch kurzlebiger als Sprachen und Völker. Dagegen können sie aber im Laufe der Zeit neuen Gegebenheiten angepasst werden und sind damit genauso „lebendig“ wie die Völker die sie benutzten. Wir kennen einige antike „Gründungsmythen“
So berichtet die Gründungssage der Langobarden davon, wie aus dem Stamm der Winniler das Volk der Langobarden geworden sein soll: Bedroht von ihren vandalischen Nachbarn mit Krieg, denen auch noch die Gunst des höchsten Gottes Wodan galt, erhielten sie Hilfe von dessen Frau Fria deren List ihnen die Gunst Wodans bescherte und ihnen gleichzeitig ihren neuen Namen gab: Langbärte/Langobarden eben. Auch die frühen angelsächsischen Könige leiteten ihre Herkunft auf Wirken Wodans her und die gotischen Königsgeschlechter leiteten den gotischen Namen vom Gotte Gaut (in späterer Edda als einen der Namen des Odin/Wodan genannt) ab und das amalische Geschlecht von den göttlichen Asen… Mythen sind Erzählungen welche Geschichte und Identität greifbar machen sollen und Identität stiftend zum Motor einer Ethnogese werden können. Das aber ist archäologisch gar nicht greifbar und lässt sich aus schriftlichen Quellen nur rudimentär unter günstigen Bedingungen erschließen. Es ist m.E. unwahrscheinlich dass die Taten des Arminius nicht Inspiration für Identitätsstiftende Mythen geworden sind. Auch ohne stringente Kontinuität… Die Taten des Arminius wurden sehr viel später zu einer der „Gründungsmythen“ der Deutschen, was unbestreitbar ist! Ob Arminius genetisch/ethnisch/politisch/wasweisichwas irgendwie etwas mit den späteren Deutschen gemein hat ist dabei völlig unerheblich. Ich denke die meisten Mitdiskutanten sehen auch Wodan/Gaut gewiss nicht als aktiv handelnde historische Persönlichkeiten für die Ethnogese der oben genannten Völkerschaften… Ethnogese ist rein wissenschaftlich m.E. niemals völlig widerspruchsfrei zu erklären!
Damit komme ich unweigerlich zu „Nationalen Helden“. Die Deutschen sind nicht die Einzigen, die auf diese mythische Weise ihre Helden aus grauester Vorzeit erküren!
Das Beispiel der romanisierten Gallier lenkt den Blick bei Helden zwangsweise zu Vercingetorix, den gescheiterten „Freiheitshelden der Gallier und heutigen Franzosen“! Man sieht östlich des Rheins diesen Kämpfer gegen Caesar recht ungezwungen meist als „ersten Franzosen“, obwohl hier die historische Kontinuität doch nicht weniger Angreifbar ist.
Die sehr junge belgische Nation vereinnahmt in ähnlicher Weise sogar den Ambiorix, einen ebenfalls tragischen Gegenspieler des Caesars und Führers der Eburonen, zu einer Art von Stammvater Belgiens.
Der römische Gründungsmythos beruft sich gar auf eine Abstammung von den Trojanern! Die vielleicht nur literarischen Erzählungen um den trojanischen Krieg aus den Geschichten eines griechischen (also fremdländischen) „Versschmiedes“ werden hier vereinnahmt eine Identität zu stiften! Homer hatte wohl für die alten Römer also in gewisser Weise einen ähnlichen Stellenwert wie im 16. Jht. der Römer Tacitus für die deutschen Humanisten als Begründer der germanisch-deutschen Kontinuität!
Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig verlängern, etwa um den „Helvetermythos“ bei den Schweizern, denen man die „Vereinnahmung“ Wilhelm Tells ganz gewiss nicht Verübeln kann. Dabei ist es doch vielleicht gar nicht so sicher, ob der Mann überhaupt je existiert hat. [Ketzermodus off]^^
Man sieht welche wichtige Rolle auch „Irrationales“ im „Bewusstsein“ von Völkern gespielt hat und offensichtlich immer noch spielt. Die Argumente der Wissenschaften mögen noch so stichhaltig sein, sie werden es nicht immer schaffen Mythen völlig zu entkräften. Dabei ist doch auch die spätere deutsche Geschichte voller Zäsuren und Mythen: Wälzte nicht auch die Reformation und der Dreißigjährige Krieg Deutschland stark um? Wie ist es mit den Folgen der französischen Revolution und Napoleons Ausgreifen nach Osten? Was ist mit dem Mythos der „Stunde Null“ von 1945 und die in den östlichen Teilen der BRD viel bewußtere „Friedliche Revolution von 1989/90“?