WK-1: "Deutschland trug zweifellos große Schuld am Kriegsausbruch"

Hier würde mich allerdings interessieren, gibt es denn Zahlen über die Wahlbeteiligung?
In den Rapporten zu den Wahlen am 8. Februar 1871 in den betroffenen Gebieten, gibt es tatsächlich nur im Bas-Rhin (Unterelsass) Zahlen zur Wahlbeteiligung. Demnach waren dort von 145183 eingeschriebenen Wahlberechtigten 83223 zur Urne gegangen, was einer Beteiligung von 70.1% entspricht.

Siehe documents complémentaires in:

Auf dieser Webseite wird eine Zahl von 72% für das ganze Elsass angegeben:
Comment les Alsaciens ont véritablement vécu la domination allemande (1871-1918)

Zahlen für Lothringen gibt es in:

Meurthe-et-Moselle: 120231 Wahlberechtigte / 83223 Wählende = 69.2% Beteiligung

im Vergleich dazu das ebenfalls zu Lothringen zählende, aber nicht betroffene Meuse: von 75000 Wahlberechtigten 40190 an der Urne = 53.6% Beteiligung
 
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, @Shinigami

Einen weiteren Grund habe ich auch genannt: youth bulge. Aufgrund der verbesserten Medizin starben in Europa ab der Mitte des 19. Jahrhundert nicht mehr so viele Kinder. Aber weil die Geburtenrate nicht sank - es wurden nach wie vor 5-10 Kinder pro Familie geboren, die jetzt fast alle das Erwachsenenalter erreichten -, gab es einen enormen Bevölkerungsdruck, der nur teilweise durch Auswanderung in die beiden Amerikas vermindert werden könnte - hier eine Übersicht der Einwanderung in die USA.

Und die Militärs aller Länder sahen die großen, nie dagewesenen Zahlen an jungen Männern und kalkulierten, ob sie für einen Krieg ausreichten. Ergebnis: Alle fühlten sich stark genug, zumal sie alle auch Verbündete hatten oder neu hinzugewannen. Und wenn man an der Spitze des Staates jemand hat, der heute das und morgen jenes sagt, und dazu einem Verbündeten einen Blankoscheck ausstellt, dann passiert eben, was passierte.

Es haben verschiedene Diskussionsteilnehmer schon darauf verwiesen, dass sich in Europa innerhalb einer Generation die Bevölkerung sich nicht explosionsartig vermehrt hat.


Die These, dass Militärs kriegslüsterner geworden sind, weil sie durch das Bevölkerungswachstum mehr Kanonenfutter zum verheizen bekommen haben ist aber auch Unsinn, selbst wenn man durchaus zustimmen mag, dass viele Militärs reaktionäre Ansichten vertraten.

Das gab es in Deutschland, in Österreich-Ungarn, in Russland, aber auch in Frankreich.

Das Militär war in vielen europäischen Armeen eine Domäne der gesellschaftlichen Elite, des Adels. In vielen Armeen hatte der Adel seine gesellschaftliche Exklusivität bewahren können. In vielen Staaten waren die höheren Offiziersränge dem Adel vorbehalten. Besonders in den prestigeträchtigen Garderegimentern waren vielerorts um die Jahrhundertwende die höheren Offiziersränge noch eine reine Adelsdomäne. Nur in der Artillerie oder in der Marine gab es einen größeren Anteil von Bürgerlichen.

Diese Dominanz des Adels und der alten Eliten wurde aber bereits durch die Massenheere und die höheren technischen Ansprüche an das Offizierskorps stark unterwandert. Die Anforderungen an Offiziere stiegen, und bei diesen Anforderungen mussten auch die Schnösel, mussten auch die Potsdamer Leutnants, die ostelbischen Junker an sich arbeiten, sich weiterbilden, um den Anforderungen an Bildung und technischem Know How überhaupt in Zukunft gewachsen zu sein.


Seine Exklusivität konnte das Offizierskorps schon in Friedenszeiten und vor der Jahrhundertwende nur schwer bewahren. Größere Armeen das hieß auch größere Zahlen an Offizieren und die konnte man nicht allein mit den Junkern und alten Eliten besetzen. Da rückten Bürgerliche auf.

Seit dem Kommunistischen Manifest wussten auch die beschränkteren Köpfe, dass ein Gespenst in Europa umging. Die Angst vor einer sozialistischen Revolution war durchaus ein Thema. Der Deutsch-Französische Krieg war auch ein Krieg gegen die Revolution, die Pariser Commune.

In Russland oder Österreich Ungarn gab es starke revolutionäre oder irridentatistische Bewegungen, und die zarentreue oder monarchietreue Elite auch eine ziemlich dünne Schicht.

Die starke Bedeutung der Technik bei der Ari oder Marine führte auch dazu, dass mehr Bürgerliche aufrückten, die Zunahme von Abitur-Abschlüssen trug dazu bei, dass mehr Leute Zugang zum Offizierskorps bekamen. Solange diese sich dem Verhaltens- und Ehrenkodex des Offizierskorps anpassten, mochte das angehen. Es konnte der Adel und die alten Eliten aber schon in den Friedensarmeen und vor der Jahrhundertwende seine Exklusivität aus genannten Gründen nur noch schwer oder gar nicht nicht mehr wahren. Er musste Bürgerliche in seine Reihen aufnehmen, und er musste sich selbst weiterbilden. Der wachsende Wohlstand sorgte auch dafür, dass mehr Söhne (seit der Jahrhundertwende auch mehr Töchter) das Abitur machten und damit auch Zugang zum gehobenen Dienst in Verwaltung und Militär gewannen.


In Russland, in Österreich-Ungarn war die kleine Schicht der Elite, die loyal zum Ancien Regime stand auch sehr dünn. Russland und Österreich sollten die zarentreuen und loyalen Offiziere noch sehr lebhaft vermissen, die 1914 bis 1916 auf den Schlachtfeldern Galiziens und Wolhyniens geblieben waren.

Ein Krieg, selbst ein begrenzter Krieg musste dazu führen, dass Armeen, die vorher Hunderttausende von Soldaten hatten, nun Millionen umfassten. Für diese Millionenheere reichten aber die Offiziere aus den alten Eliten nicht mehr, dann musste man auf Reserveoffiziere und auf Offiziere aus beschleunigten Lehrgängen zurückgreifen, und die waren dann vielleicht weniger monarchie- oder zarentreu.
Das Zarenreich sollte all die zarentreuen Berufsoffiziere noch schmerzlich vermissen, die in der Revolution nicht mehr zur Verfügung standen.

Seit dem Kommunistischen Manifest ging auch ein Gespenst um in Europa, die soziale Frage ließ sich kaum ausblenden, und ein großer europäischer Krieg bedeutete, dass man Proletarier bewaffnen musste. Dass man es mit Millionenheeren zu tun haben würde, die schwerer zu kontrollieren waren.

Selbst ein bescheidener Krieg wie der 2. Burenkrieg sorgte für Verwerfungen im Offizierskorps. Der große europäische Kladderadatsch aber musste ganz erhebliche Auswirkungen auf das fein austarierte Herrschaftssystem haben, musste die Armee aufblähen, Reserveoffiziere oder solche aus beschleunigten Kursen ins Offizierskorps schwemmen, bei denen der Ehrenkodex oder die Loyalität nicht vorausgesetzt werden konnte.


Aus diesen Gründen konnten selbst die extrem reaktionären Kräfte in der deutschen, französischen, russischen oder k.k-Armee vielleicht Interesse an einem kurzen, begrenzten Krieg, einem größeren Manöver, keinesfalls aber am großen Kladderadatsch haben, denn der musste zwangsläufig zu all den beschriebenen negativen Folgen führen, die die Militärs keinesfalls wünschen konnten, und es war den Intelligenteren auch zweifellos bewusst.
 
Es haben verschiedene Diskussionsteilnehmer schon darauf verwiesen, dass sich in Europa innerhalb einer Generation die Bevölkerung sich nicht explosionsartig vermehrt hat.
Wer spricht hiert von einer Generation? Von der Mitte 19. Jahrhundert bis 1914 gab es 3 Generationen, in denen die Geburtenrate nicht signifikant sank. Ich habe hier die Zahlen der Auswanderer in die USA gebracht: Sie gingen in die Millionen, schon während des I. Weltkrieges und in den ersten 2 Jahren danach stürzten die Zahlen aber ins bodenlose. Warum? Weil der Aderlass des I. Weltkrieges und die sich anschließende Spanische Grippe nichts an jungen Männern übrig gelassen haben.
 
Ich bin nicht sicher, ob man das gleichsetzen sollte. Verletztes Ehrgefühl kann vielleicht einen einzelnen Menschen, hier den einzelnen Entscheidungsträger, beeinflussen, aber nicht ganze Völker.
Franzosen haben sich nach 1870/71 ungerecht behandelt gefühlt, die Deutschen nach Versailles ebenso. Russland fühlte sich 1908 bei der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn ungerecht behandelt - wie übrigens schon 1878 -, weil sie die versprochene freie Durchfahrt durch Bosporus nicht bekamen.
 
Wer spricht hiert von einer Generation? Von der Mitte 19. Jahrhundert bis 1914 gab es 3 Generationen, in denen die Geburtenrate nicht signifikant sank. Ich habe hier die Zahlen der Auswanderer in die USA gebracht: Sie gingen in die Millionen, schon während des I. Weltkrieges und in den ersten 2 Jahren danach stürzten die Zahlen aber ins bodenlose. Warum? Weil der Aderlass des I. Weltkrieges und die sich anschließende Spanische Grippe nichts an jungen Männern übrig gelassen haben.
Das die Zahlen der Auswanderer in die USA in den 2 Jahrzehnten nach dem 1. Weltkrieg massiv zurückging, hat erstmal was damit zu tun, dass sich die Verhältnisse in den USA selbst änderten.

Mit dem "Homestead-Act" hatte in den 1860er Jahren die Lincoln-Administration die Gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, dass bis dato noch nicht von europäischen Einwanderern erschlossene Gebiet (was mehr oder weniger den gesamten mittleren Westen der USA umfasste), zu Spottpreisen an Einwanderer zu verteilen.


Das war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein enormer pull-factor für Einwanderung, aber eben nur so lange, bis es kein Land mehr zu vertwilen gab, weil alles schon verteilt worden war.
Und es kommt hinzu, dass es in den USA selbst seit den 1920er Jahren eine zunehmende Skepsis gegenüber weiterer Einwanderung gab, erst recht, seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise und dass die USA anfingen, die Einwanderung gesetzlich einzuschränken und Einwanderer zunehmend nur noch nach Quoten aufzunehmen.
Damit änderte sich in dieser Zeit die Einwanderungspolitik der USA recht deutlich, im 19. Jahrhundert hatte es faktisch so gut wie keine Einwanderungsbeschränkungen gegeben und Areize brachen weg.

Außerdem veränderten sich die Bedingungen in Europa.
Der 1. Weltkrieg hatte die europäischen Gesellschaften von Grund auf auf den Kopf gestellt und im Nachgang eine große Modernisierungswelle ausgelöst, außerdem die Staatenordnung verändert.

Für Personen, die in ihren Heimatländern unter politischen Diskriminierungen gelitten hatten, etwa für Polen, die vorher in Deutschland oder Russland waren und für die Auswanderung von dieser Warte her attraktiv war, entfiel das mit dem Ende des 1. Weltkriegs zum Teil, weil sich die Bedingungen in Europa änderten.
Außerdem setzte sich in den Jahren nach dem 1. Wetkrieg in West und Mitteleuropa erstmals das allgemeine Wahlrecht, ein moderner Sozialstaat, der diesen Namen auch verdiente, humane Arbeitszeitregelungen in For des 8-Stunden-Tages etc. durch, die die Lebensqualität in Europa für große Teile der Bevölkerung durchaus verbesserten, so lange die wirtschaftliche Situation einigermaßen stimmte.
Viele Gründe, sich in Europa nicht mehr richtig wohl zu fühlen und die eigene Zukunft anderswo zu sehen, hatten sich damit faktisch aufgelöst.

Die Demographie der europäischen Staaten war vom Ersten Weltkrieg in unterschiedlichem Maße betroffen.

In Frankreich, wo bereits vor dem 1. Weltkrieg weniger als 3 Kinder die Norm waren, taten die Verluste an jungen Männern tatsächlich ziemlich weh und das bestimmte auch Frankreichs große Zurückhaltung und defensive Strategie im 2. Weltkieg mit.

In Deutschland, wo die Familien im Schnitt noch 3 Kinder hatten, waren die Bevölkerungsverluste binnen einer Generation mehr oder weniger aufgefangen.
Hätte Deutschland in den Jahrzehnten danach einen chronischen Mangel an jungen Männern gehabt, Hitler hätten die Grundlagen für einen weiteren Weltkrieg gefehlt.


Franzosen haben sich nach 1870/71 ungerecht behandelt gefühlt, die Deutschen nach Versailles ebenso. Russland fühlte sich 1908 bei der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn ungerecht behandelt - wie übrigens schon 1878 -, weil sie die versprochene freie Durchfahrt durch Bosporus nicht bekamen.
Ihnen war keine freie Durchfahrt versprochen worden, das konnte die Donaumonarchie kaum, weil die Meerengen ja nicht auf ihrem Staatsgebiet lagen.
Was von österreichischer Seite versprochen war, war, dass man Russland in diesen Bestrebungen gegenüber Konstantinopel unterstützen würde und so weit ich weiß, hatte Wien durchaus auch in diesem Sinne zu wirken versucht.

Es gab also technisch gesehen keinen Grund für Russland sich zurückgesetzt zu fühlen.

Mal davon abgesehen, dass es generell etwas fragwürdig ist, sich wegen Dingen gekränkt und benachteiligt zu fühlen, die einen eigentlich überhaupt nicht selbst betreffen.
 
Das die Zahlen der Auswanderer in die USA in den 2 Jahrzehnten nach dem 1. Weltkrieg massiv zurückging, hat erstmal was damit zu tun, dass sich die Verhältnisse in den USA selbst änderten.
Nein, die Verhältnisse in den USA änderten sich erst 1921 mit Emergency Quota Act – deswegen schrieb ich auch von den 2 Jahren nach dem ersten Weltkrieg. Was danach stattfand, steht hier nicht zu Debatte.

Es gab also technisch gesehen keinen Grund für Russland sich zurückgesetzt zu fühlen.
Russland hat sowohl 1878 als 1908 nicht das bekommen, was es wollte. Der kranke Mann am Bosporus war schwach, und wenn jemand schwach ist, auf den stürzen sich andere in der Hoffnung, Beute zu machen. Serbien und Bulgarien haben z.B. ihre Selbstständigkeit bekommen, und Österreich-Ungarn die Verwaltung über Bosnien. Dass Österreich-Ungarn 1908 Bosnien annektierte, war ein Bruch des Vertrages, denn Bosnien gehörte immer noch dem Osmanischen Reich. Außerdem spekulierte auch Serbien, einen Teil Bosniens zu bekommen, und war über das Alleingang ÖUs verärgert, schließlich war das ein abgekartetes Spiel der Großmächte. Besonders bitter für Serbien war, dass bei diesem Spiel auch Russland mitmachte, was als Verrat an der slawischen Sache verstanden wurde.
Daher die Wühlarbeit Serbiens in Bosnien, die in der Ermordung des Erzherzogs und seiner Frau gipfelte. Und diesmal konnte Russland nicht anders, als an der Seite Serbiens zu stehen – und das Deutsche Reich an der Seite Österreich-Ungarns.
Und das Unglück nahm seinen Lauf.
 
Nein, die Verhältnisse in den USA änderten sich erst 1921 mit Emergency Quota Act – deswegen schrieb ich auch von den 2 Jahren nach dem ersten Weltkrieg. Was danach stattfand, steht hier nicht zu Debatte.
Es ist relativ egal, was du zur Debatte stellen möchtest oder nicht, es ändert nichts an den Tatsachen.

2 Jahre sind erstmal kein valider Betrachtungszeitraum um langfristige Trends festzustellen, hinzu kommt, dass die Verwerfungen des Krieges in direkter Weise sich auch nachteilig auf die Möglichkeit der Auswanderung auswirken konnten.

- In Osteuropa gingen die Nachfolgeauseinandersetzungen zum Teil bis Anfang der 1920er Jahre weiter.
- Der Verlust an zivilem Schiffsraum wird die Kapazitäten für Personenverkehr in die Vereinigten Staaten ausgedünnt und die Preise erhöht haben.
- Die Trennung der europäischen Währungen von der Edelmetallbindung zur Krigsfinanzierung hatte das ganze Währungssystemm durcheinander geworfen, was Preise schwer kalkulierbar machen musste.
- Durch zusätzliche Besteuerung und Verknappung wurden Sparvermögen Auswanderungswilliger erstmal vernichtet (man will ja schließlich im Zielland nicht völlig mittellos ankommen).
- Große Teile der Bevölkerung hatten Sparvermögen in Kriegsanleihen investiert und dürfte in irgendeiner Form erstmal auf deren Einlösung gewartet haben.
- Was Deutschland betrifft, endete der Kriegszustand mit den USA durch den Versailler Friedensvertrag nicht de jure, weil die USA diesem Friedensvertrag nicht beitraten. Sondern offiziell wurde der Kriegszustand zwischen Deutschland und den USA erst im Berliner Friedensvertrag 1921 beendet:


Will heißen:

Wegen Mangels an Schiffsraum und Folgen für Währungssysteme und Sparvermögen, war Auswanderung unmittelbar nach dem Weltkrieg zunächst mal nicht einfach.
In Osteuropa waren die Kampfhandlungen noch nicht zu Ende, so dass da reguläre Auswanderung durchaus nicht so ganz einfach war.
Deutschland war bis 1921 offiziell Kriegsgegner der USA und du wirst dir ohne weiteres ausrechnen können, wie gerne man in den USA deutsche Auswanderer aufnehmen wollte, so lange das noch der Fall war und kein Friedensabkommen finalisiert war.

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Russland hat sowohl 1878 als 1908 nicht das bekommen, was es wollte. Der kranke Mann am Bosporus war schwach, und wenn jemand schwach ist, auf den stürzen sich andere in der Hoffnung, Beute zu machen. Serbien und Bulgarien haben z.B. ihre Selbstständigkeit bekommen, und Österreich-Ungarn die Verwaltung über Bosnien.
Vergiss nicht zu erwähnen das Russland 1878 mit Bessarabien und Kars durchaus auch zwei Stücke vom Kuchen bekommen hatte und insgesamt durchaus mehr profitiert hatte, als die Donaumonarchie, Großbritannnien hatte sich bei gleicher Gelegenheit vom Osmanischen Reich Zypern geholt.

Ich kann da keine einseitige Benachteiligung Russlands erkennen, zumal die Berliner Konferennz, die San Stefano teiwelise rückabwickelte ja keine Veranstaltung war, auf der exklusiv Österreich mit dem Ausmaß der russischen Expansion nicht einverstanden war, sondern das war damals einhellige Meinung aller Großmächte.

Dass Österreich-Ungarn 1908 Bosnien annektierte, war ein Bruch des Vertrages, denn Bosnien gehörte immer noch dem Osmanischen Reich. Außerdem spekulierte auch Serbien, einen Teil Bosniens zu bekommen, und war über das Alleingang ÖUs verärgert, schließlich war das ein abgekartetes Spiel der Großmächte. Besonders bitter für Serbien war, dass bei diesem Spiel auch Russland mitmachte, was als Verrat an der slawischen Sache verstanden wurde.

Du hast einen sehr interessanten Umgang mit dem Thema der Souveränität des Osmanischen Reiches, muss ich sagen.

Einerseits willst du oben auf Verständnis dafür hinaus, dass dass man in Russland angefressen war, weil das restliche Europa perfider Weise nicht bereit war, zuzulassen, dass Russland das halbe Osmanische Reich eroberte und sich einverleibt, hier ist aber der vertragsmäßige Übergang Bosniens und der Herzegowina ein finsteres abgekarteetes Spiel der Großmächte, über das Russland und Serbien sich zurecht aufregen konnten, obwohl Russland selbst beteiligt war und sein Außenminister Iswolski eine mehr als zweifelhafte Rolle dabei spielte?

Sry, wenn ich dich darauf hinwese, aber auch wenn ich die Annexion Bosniens selbst immer wieder kritisch betrachtet habe, du überspannst den Bogen nun eindeutig.
Und in sich kohärent ist, was du da von dir gibst auch wie so häufig, nicht.

Daher die Wühlarbeit Serbiens in Bosnien, die in der Ermordung des Erzherzogs und seiner Frau gipfelte. Und diesmal konnte Russland nicht anders, als an der Seite Serbiens zu stehen – und das Deutsche Reich an der Seite Österreich-Ungarns.
Natürlich konnte es das. Genau so, wie Berlin den Grafen Hoyos als der den Blancoschek wollte ohne einen solchen wieder nach Hause hätte schicken können.

Russland hätte sich sehr wohl auf den Standpunkt stellen können, dass der Zar schon aus wohlverstandenem Eigeninteresse keine Königsmörder schützen könne und deswegen Belgrad alle österreichischen Forderungen zu schlucken habe, die keine dauerhafte beeinträchtigung der Souveränität des serbischen Staates beeinhalteten (und solche waren im Ultimatum nicht enthalten).

Das hätte das Verhältnis zwischen Serbien und Russland, vielleicht kurzfristig eingetrübt, aber nicht zu längerfristige Machtverlust Russlands am Balkan geführt, weil Serbien seine territorialen Wünsche im Bezug auf die Donaumonarchie ausschließlich im Bündnis mit Russland realisieren konnte, da es selbst zu schwach dazu war und es keine andere Großmacht gab, die daran ein Interesse haben konnte.
Den Serben, wäre also selbst wenn Russland sie hätte fallen lassen, sofern sie ihre Expansionswünsche nicht abschreiben wollten ohnehin nichts anderes übrig geblieben, als erneut Anschluss an Russland zu suchen.


Anders herum, hätte Berlin, Wien selbstredend die Unterstützung für einen Krieg verweigern können.
Wien wäre darüber vielleicht pampig gewesen, hätte aber nichts dagegen machen können.
Deutschland war die einzige Großmacht mit hinreichend großen Landstreitkräften um Österreich-Ungarn helfen zu können von der man sich ausrechnen konnte, dass sie bereit war sich mit Österreich zusammen zu tun und dafür die Gegnerschaft von Österreichs Rivalen Russland hinzunehmen.

Mit Russland selbst konnte sich Wien icht verbünden ohne St. Petersburg in allen Streitpunkten nachzugeben (d.h. aktive Balkanpolitik kompltt einzustellen), Frankreich, das selbst auf das Bündnis mit Russland angewiesen war, konnte es sich nicht leisten St. Petersburg dadurch vor den Kopf zu stoßen, sich mit Russlands Rivalen Österreich zu alliieren und Großbritannien hatte ebenso Übereinkommen Mit Russland, auf die man sicherlich nicht leichtfertig verzichten wollte, außerdem hatte Großbritannien kein adäquates Landheer um Wien bei Bedarf gegen Russland helfen zu können.
Mit so ziemlich allen anderen Nachbarn, lag Österreich ebenfalls im Konflikt. Mit Italien wegen des Trentino, mit Rumänien wegen Siebenbürgen und der Bukowina.
Österreich hätte es sich unter diesen Umständen nüchtern betrachtet nicht leisten können, aus dem Bündnis mit Deutschland auszuscheiden, weil es selbst in der Lage war das es keine Alternativen hatte.

Sowohl Russland, als auch Deutschland, hätten sehr wahrscheinlich ihren Juniorpartnern die Unterstützung in dieser Sache ab einem bestimmten Punkt aufkündigen können, ohne dass sie davon langfristig ernsthafte Nachteile gehabt hätten.
 
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Die gewählten elsässischen und lothringischen Abgeordneten gaben am 17. Februar eine Erklärung ab, in der sie heftig gegen die drohende Annexion protestierten, und in der es heißt:

L'Europe, de son côté, ne peut ratifier cet attentat ; elle ne peut laisser traiter un peuple comme un vil troupeau ; elle sait, d'ailleurs, que l'unité de la France est une garantie essentielle de l'équilibre et de la paix de l'Europe.La paix moyennant une cession de territoire ne serait pas une paix durable, ce ne serait tout au plus qu'une trêve momentanée bientôt suivie d'une nouvelle guerre. Quant à nous, Alsaciens et Lorrains, nous sommes prêts à recommencer la guerre.
Die gewählten Abgeordneten samt Gambetta: welche Befugnis zur Entscheidung bei den Verhandlungen am 26.2.1871 (Vorfrieden) und beim unterzeichnen des Frankfurter Friedensvertrags am 10.5.1871 hatten diese? Verhandelt wurde dort (!), und den französischen Delegierten gelang eine Reduktion der Reparationszahlungen von 6 auf 5 Milliarden Franc und dass die strategisch/militärisch wichtige Region Belfort von der franz. Republik behalten werden konnte - mir ist nicht bekannt, dass Innenminister Gambetta bei diesen Verhandlungen, zu denen zwei Seiten gehören und an bei deren Abschluss beide Seiten verbindlich unterzeichneten, eine Position a la "Elsass/Lothringen bleibt französisch, wenn nicht, dann fechten wir es aus, denn diese Abtretung ist nicht hinnehmbar" durchgesetzt hätte.
Gambettas pathetische Worte, was Europa nicht ratifizieren könne (das "Attentat" namens Gebietsabtretung), scheinen keinen europäischen Entrüstungssturm bewirkt zu haben: hier vermute ich, dass im letzten Viertel des 19. Jhs. die Vorstellung, dass derjenige, der mutwillig einen Krieg beginnt und in diesem drastisch unterliegt, anschließend nach einer Kapitulation die Friedensbedingungen zu diktieren habe, nicht gerade Allgemeingut war (?!?)

Allerdings weiß ich nicht, wie und in welchem Ausmaß bei den Verhandlungen zum Vorfrieden über Elsass/Lothringen verhandelt wurde. Jedenfalls war es die unterliegende französische Seite, die gegen Ende Januar (Belagerung von Paris) um Waffenstillstand bat, was dann zum Vorfrieden führte.

Was mir schleierhaft bleibt: einerseits wird manchmal das Ergebnis des dt.-franz. Kriegs (Spiegelsaal Kaiserreich-Proklamation, Abtretung Elsass/Lothringen) als mitursächlich für den Ersten Weltkrieg betrachtet (was mir nicht plausibel erscheint), andererseits aber wird die Ursache des dt -franz. Kriegs - Frankreich war der Aggressor! - gerade dabei ausgeblendet.
 
Sry, wenn ich dich darauf hinwese, aber auch wenn ich die Annexion Bosniens selbst immer wieder kritisch betrachtet habe,
Ex-post betrachtet hätte man sich die ganze Annexionskrise vermutlich sparen können, wenn Österreich-Ungarn ein paar Jahre gewartet hätte. Als mehrere Balkanstaaten in den beiden Balkankriegen dem Osmanischen Reich einen Großteil seiner verbliebenen europäischen Besitzungen entrissen und sich dann selbst darum schlugen, hätte vermutlich kaum jemand (ausgenommen Serbien) ernsthaft etwas dagegen einwenden können, wenn sich auch Österreich-Ungarn seinen Anteil an osmanischem Territorium sichert. Es wäre geradezu widersinnig erschienen, wenn zu einer Zeit, als das Osmanische Reich in Europa auf Südostthrakien zusammengeschrumpft wurde, Bosnien und Herzegowina formal osmanisch geblieben wären.
1908 konnte man das natürlich noch nicht wissen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ex-post betrachtet hätte man sich die ganze Annexionskrise vermutlich sparen können, wenn Österreich-Ungarn ein paar Jahre gewartet hätte.
Ich verstehe offen gesagt nicht, warum man das Fass mit der Annexion überhaupt aufmachte.

Die K.u.K.-Behörden verwalteten das Gebiet und die Donaumonarchie hatte hier faktisch das Sagen, so lange die Provinzen de jure zum Osmanischen Reich gehörten, allerdings ohne im Gegenzug konkreten Verpflichtungen zu unterliegen und ohne den Serben die Illusionen zu nehmen, das vielleicht irgendwann erwerben zu können.

An und für sich war das doch ein recht angenehmer Zustand, wirtschaftlich war die Region ohnehin uninteressant, verkehrstechnisch allenfalls in der Hinsicht, das sich damit Süd-Dalmatien mit der Donauregion verbinden ließ.
Und einen wirklichen Plan, was man mit der Region anfangen wollte, scheint man auch nicht gehabt zu haben, man konnte sich ja nicht einmal auf eine Eingliederung in eine der beiden Reichshälften verständigen.

Ich sehe nicht unbedingt den großen Vorteil, der mit der Annexion gegenüber dem Zustand zwischen 1878 und 1908 verbunden gewesen wäre.
Das Osmanische Reich war nicht in der Position diesen Zustand zu eigenen Gunsten zu revidieren und damit hätte man eigentlich auch dabei bleiben können.

Das die Annexion so viel Ärger mit Russland bringen würde, war wohl nach dem Abkkommen von Buchlau nicht absehbar, aber weder das Osmanische Reich, noch Serbien, noch Italien konnten damit besonders glücklich sein.
In meinen Augen diplomatischer Schaden für nichts.
Davon abgesehen, demonstrierte es natürlich einmal mehr die Machtlosigkeit der Pforte und lud andere dazu ein, sich dann ebenfalls zu bedienen, was eigentlich, nachdem man im Bezug auf das Osmanische Reich den Status Quo seit 30 Jahren, was Europa betrifft mehr oder weniger erhalten hatte unnötig war.

Ich weiß nicht, inwieweit die Annexion Bosniens und der Herzegowina möglicherweise Rom triggerte, eigene Interessen in Libyien und der Ägäis zu forcieren, kann mir aber durchaus vorstellen, dass das durchaus zur Motivation für den italienisch-osmanischen Krieg 1911 beitrug.
 
Ich verstehe offen gesagt nicht, warum man das Fass mit der Annexion überhaupt aufmachte.
Es spielte wohl eine Rolle, dass der Verwaltungsvertrag über die Provinzen nach 30 Jahren auslief.

Man hätte den vermutlich verlängern können, aber jedenfalls musste man ohnehin in irgendeiner Weise tätig werden und wegen der jungtürkischen Revolution schien die Gelegenheit wohl günstig, den Status des Gebiets dauerhaft zu ändern.

Die K.u.K.-Behörden verwalteten das Gebiet und die Donaumonarchie hatte hier faktisch das Sagen, so lange die Provinzen de jure zum Osmanischen Reich gehörten, allerdings ohne im Gegenzug konkreten Verpflichtungen zu unterliegen und ohne den Serben die Illusionen zu nehmen, das vielleicht irgendwann erwerben zu können.
War es nicht eher ein Problem, wenn sich Serbien weiter Hoffnungen machte (ob nun zu recht oder unrecht), selbst einmal die Kontrolle über die Provinzen zu erlangen? Damit hielt man das Thema doch auf der Tagesordnung.

Im Übrigen zog sich Österreich-Ungarn im Gegenzug zur Annexion der Provinzen aus dem Sandschak Novi Pazar zurück, dessen Verwaltung beim Osmanischen Reich geblieben war, wo die Donaumonarchie aber Truppen stationieren durfte. Dadurch verkürzte sich die Verteidigungslinie der Monarchie in einem potentiellen Krieg erheblich.
 
Die gewählten Abgeordneten samt Gambetta: welche Befugnis zur Entscheidung bei den Verhandlungen am 26.2.1871 (Vorfrieden) und beim unterzeichnen des Frankfurter Friedensvertrags am 10.5.1871 hatten diese?

Ich verstehe die Frage nicht ganz. Die Abgeordneten der Nationalversammlung hatten die Befugnis, den Vorfrieden zu ratifizieren. Die Abstimmung darüber fand am 1. März 1871 statt, am selben Tag, als deutsche Truppen in Paris einmarschierten. Die große Mehrheit der Abgeordneten stimmte für die Ratifizierung.
 
Es spielte wohl eine Rolle, dass der Verwaltungsvertrag über die Provinzen nach 30 Jahren auslief.

Man hätte den vermutlich verlängern können, aber jedenfalls musste man ohnehin in irgendeiner Weise tätig werden und wegen der jungtürkischen Revolution schien die Gelegenheit wohl günstig, den Status des Gebiets dauerhaft zu ändern.
Da sich Konstantinopel ohnehin nicht dagegen wehren konnte, hätte man wahrscheinlich eine sehr langfristige Verlängerung des Vertrags durchbringen können.
Es gab für sowas ja Beispiele, etwa, wenn von den Großmächten die "Konzessionsgebiete" in China auf 99 Jahre gepachtet wurden oder ähnliches.
Das hätte man auch hier machen können, mit der expliziten Möglichkeit bei entsprechender Abfindung (Kompensation territorialer Art) diesen Vertrag auch vorher rückabzuwickeln.

Damit hätte man sich flexibler aufgestellt, etwas Manövriermasse gehabt und wahrscheinlich hätte es weniger Krach gegeben.


War es nicht eher ein Problem, wenn sich Serbien weiter Hoffnungen machte (ob nun zu recht oder unrecht), selbst einmal die Kontrolle über die Provinzen zu erlangen? Damit hielt man das Thema doch auf der Tagesordnung.
Das war doch wegen der teilweise serbischen Bevölkerung des Gebiets ohnehin nicht zu ändern.

Deswegen wäre es um Problem zu vermeiden von meiner Warte her sinnvoller gewesen, sich entweder dadurch Annexion zu unterlassen die Tür zu einem Rückzug aus dem Gebiet grundsätzlich offen zu halten, wenn die Abfindung stimmt oder die andere Möglichkeit wäre gewesen aktiv darauf hinzuarbeiten, die Serben dadurch zu beschwichtigen, sie in die Kontrolle des Gebiets mit einzubeziehen.

Man hätte z.B. alternativ zu einer Anexion auch auf die Schaffung eines Bosnischen Staates unter Österreichisch-Serbischem Kondominum hinarbeiten können.
Sagen wir mal in der Form den Kaiser von Österreich und den König von Serbien als Co-Fürsten (klingt komisch, aber schau dir mal die Verfassung von Andorra an) zum gemeinsamen Träger der Souveränität und in Fragen der Regierung und Verwaltung des Landes zu Veto-Playern zu machen, bei gleichzeitiger paritätischer Aufteilung der politischen Macht im Land selbst unter den vorhandenen 3 großen Volksgruppeen, bzw. deren Eliten.

Das hätte Serbien oder Serbiens Monarchen in eine Lage versetzt, wegen der bosnischen Angelegenheiten gegenüber Habsburg einigermaßen kooperativ sein zu müssen.
Und die Einbindung in den größeren politischen Zusammenhang einer multiethnischen Struktur, hätte Serbiens Regierung dann auch genötigt, allzu krassen nationalistischen Tendenzen entgegen zu wirken.
Glichzeitig hätten Wien und Budapest einen Teil ihres Einflusses dort gehalten.
Ich denke, da weder Wien noch Budapest eigentlich recht eine Ahnung hatten, was man mit diesem Bosnien nun eigentlich anfangen sollte, wäre auch so etwas eine Überlegung wert gewesen.

Im Übrigen zog sich Österreich-Ungarn im Gegenzug zur Annexion der Provinzen aus dem Sandschak Novi Pazar zurück, dessen Verwaltung beim Osmanischen Reich geblieben war, wo die Donaumonarchie aber Truppen stationieren durfte. Dadurch verkürzte sich die Verteidigungslinie der Monarchie in einem potentiellen Krieg erheblich.
Wozu (und gegen wen) hätte man den verteidigen sollen?
Das Osmanische Reich war nicht in der Lage sich einen Krieg gegen Österreich zu leisten, weil dass die Gelegenheit für Russland gewesen wäre nach den Meerengen zu greifen.
Und die einzigen anderen vorhandenen Nachbarn in dem Gebiet waren Montenegro und Serbien.
Montenegros risege Armee musste man jetzt wohl kaum fürchten und in Fall eines Krieges Serbiens gegenn die Donaumonarchie hätten die Serben ihre Streitkkräfte teilen müssen um gleichzeitig Belgarad zu schützen und im Westen den Sandschak zu besetzen.
Einen größeren Gefallen hätten sie den Österreichern dann gar nicht tun können.

Da sehe ich bei allem Respekt kein sinnvolles militärisches Argument.
 
Die Abgeordneten der Nationalversammlung hatten die Befugnis, den Vorfrieden zu ratifizieren. Die Abstimmung darüber fand am 1. März 1871 statt, am selben Tag, als deutsche Truppen in Paris einmarschierten. Die große Mehrheit der Abgeordneten stimmte für die Ratifizierung.
Ja so kannte ich das auch - die pathetische Rhetorik der Elsässer Abgeordneten samt Gambetta hatte also nicht die von Gambetta intendierte Wirkung.
Ich verstehe nun zweierlei nicht: erstens wozu überhaupt diese wirkungslose Rhetorik zitieren und zweitens leuchtet mir noch immer nicht ein, was der Ausgang des Kriegs 1870/71 mit dem Thema des Fadens zu tun hat.
 
Ja so kannte ich das auch - die pathetische Rhetorik der Elsässer Abgeordneten samt Gambetta hatte also nicht die von Gambetta intendierte Wirkung.
Ich verstehe nun zweierlei nicht: erstens wozu überhaupt diese wirkungslose Rhetorik zitieren und zweitens leuchtet mir noch immer nicht ein, was der Ausgang des Kriegs 1870/71 mit dem Thema des Fadens zu tun hat.
Man kann halt denken, dass die Annexion Elsass-Lothringens die Wahrscheinlichkeit eines weiteren großen europäischen Krieges erhöhte. Ich denke das beispielsweise.
Und nebenbei sehe ich mich in meiner Vermutung, dass die Mehrheit der Elsässer nicht ins neue Reich kommen wollte, durch die recht hohe Beteiligung an den französischen Wahlen im Februar 1871 bestätigt.
 
Und nebenbei sehe ich mich in meiner Vermutung, dass die Mehrheit der Elsässer nicht ins neue Reich kommen wollte, durch die recht hohe Beteiligung an den französischen Wahlen im Februar 1871 bestätigt.
Ja, auf den ersten Blick sieht das so aus.

Allerdings, setzt du jetzt vorraus, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten gleichzeitig auch die Mehrheit der Bevölkerung repräsentierte.
Bei allgemeinem Männerwahlrecht (lassen wir die Frauen-Thematik mal außen vor, das setzte sich in Europa ja erst ein knappes halbes Jahrhundert später durch), wäre das der Fall gewesen.

Die Frage wäre jetzt (und das ist jetzt keine Sophisterei von meiner Seite, ich weiß es tatsächlich nicht), wurden die Wahlen zur Nationalversammlung von 1871 nach allgemeinem Männerwahlrecht abgehalten, oder lief das unter irgendeiner Form von Zensuswahlrecht, das Teile der Bevölkrung ausschloss?
Den dann würde die Beteiligung womöglich nur etwas über die Tendenz der sozialen Oberschicht oder mindestens der durchschnittlich bis überdurchschnittlich begüterten Teile der Bevölkerung aussagen.

Gerade die besitzenden Teile der Bevölkeung und die in die französische Geschäftswelt involvierten Großbürger hatten sicherlich kein Interesse daran, aus dem Wirtschaftsraum, auf den sie sich ausgerichtet hatten auszuscheiden.
 
Allerdings, setzt du jetzt vorraus, dass die Mehrheit der Wahlberechtigten gleichzeitig auch die Mehrheit der Bevölkerung repräsentierte.
Bei allgemeinem Männerwahlrecht (lassen wir die Frauen-Thematik mal außen vor, das setzte sich in Europa ja erst ein knappes halbes Jahrhundert später durch), wäre das der Fall gewesen.

Die Frage wäre jetzt (und das ist jetzt keine Sophisterei von meiner Seite, ich weiß es tatsächlich nicht), wurden die Wahlen zur Nationalversammlung von 1871 nach allgemeinem Männerwahlrecht abgehalten, oder lief das unter irgendeiner Form von Zensuswahlrecht, das Teile der Bevölkrung ausschloss?

Wahlberechtigt waren alle (männlichen) französischen Bürger ab dem Alter von 21 Jahren (Artikel 4 des Dekrets vom 31. Januar 1871):

Ausgenommen waren Personen, die wegen eines Verbrechens zu einer Haftstrafe verurteilt waren (Artikel 3 des Wahlgesetzes von 1849):
 
Ich verstehe nun zweierlei nicht: erstens wozu überhaupt diese wirkungslose Rhetorik zitieren

Das ist nicht schwer zu verstehen: Ich hatte auf die Frage von @Clemens64 geantwortet: "Aber wie wäre eine faire Abstimmung darüber ausgegangen, ob das Elsass bei Frankreich bleiben oder ein Teil des neuen Deutschen Reichs werden solle?"

Die elsässischen (und lothringischen) Wähler haben im Februar 1871 mit sehr deutlicher Mehrheit Abgeordnete gewählt, die sich mit radikaler Rhetorik gegen eine Abtrennung von Frankreich positioniert haben. Leute wie Édouard Teutsch oder Émile Küss erhielten um die 95% der abgegebenen Stimmen.

Die Ablehnung der Annexion schlägt sich auch noch in den ersten Reichstagswahlen nieder (vgl. Beitrag #1404). Insbesondere die Reichstagswahl von 1887, die vor allem als Abstimmung über Bismarcks Heeresvorlage empfunden wurde (vielfach wurde befürchtet, ein neuer deutsch-französischer Krieg stünde unmittelbar bevor) sorgte für eine Rekordwahlbeteiligung; Hiery spricht in seiner Untersuchung über die Reichstagswahlen im Reichsland von einem "Plebiszit für Frankreich".

Erst die Wahlen ab 1890 zeigen einen deutlichen Umschwung:

"Dem Jubel der Begeisterung über das Wahlresultat, das in der Art der Fragestellung durch die Landesregierung und ihrer Beantwortung durch die Bevölkerung in der Tat einem Plebiszit für Frankreich nahekam, folgte das Trauma der Ernüchterung, als man erkennen mußte, daß Frankreich nicht bereit war, wegen Elsaß-Lothringen einen Krieg mit Deutschland zu riskieren. [...] Favorisiert wurde der Umschwung durch das Abtreten der alten Protestler, nicht ohne Einflußnahme der deutschen Behörden, das Fehlen eines protestlerischen 'Nachwuchses' und, nicht zuletzt, durch eine neue, jüngere Generation. Diese junge Generation, die ihre Erziehung auf der deutschen Schule genossen hatte, nahm 1890 zum ersten Mal an einer Reichstagswahl teil und bewirkte entscheidend das Ausscheiden der national-demokratischen Komponente des Protestes aus dem politischen Leben des Reichslandes. Die unterelsässische katholische Landbevölkerung von Zabern und Straßburg-Land stimmte in der Abschwächung des Kulturkampfes und einer Art von Gewöhnung und Anpassung an die im Reichsland eingetretenen Änderungen diesem Wandel zu und votierte zum ersten Mal mehrheitlich für einen 'deutschfreundlichen' protestantischen Kandidaten. Dieses Verhalten setzte sich 1893 in zwei anderen Wahlkreisen fort und ermöglichte sogar den Einzug altdeutscher Verwaltungsbeamten als elsaß-lothringische Vertreter in den Reichstag." (Hiery S. 437f)​
 
Die elsässischen (und lothringischen) Wähler haben im Februar 1871 mit sehr deutlicher Mehrheit Abgeordnete gewählt, die sich mit radikaler Rhetorik gegen eine Abtrennung von Frankreich positioniert haben.
Das hab ich auch begriffen - aber, wie du selbst auch geschrieben hast, die Nationalversammlung stimmte mit großer Mehrheit für die Ratifizierung des Friedensvertrags. Die Wahlen selber scheinen mir für ihre Zeitumstände fair und korrekt gewesen zu sein. Daraus folgt aus meiner Laienperspektive, dass Gambetta, Teutsch, Küss primär mit den Wahlergebnissen ihrer Landsleute (franz. Nationalversammlung) hätten hadern müssen, die sich ganz offensichtlich mit den künftigen "vergessenen Provinzen" (oder so ähnlich) abgefunden hatten und offensichtlich kein weiteres Kriegführen wollten.

Das sollten wir festhalten als Zwischenergebnis:
1. Frankreich unter Napoleon III hatte den Krieg als Aggressor begonnen, und das sträflich dilettantisch (keine gleichwertige Artillerie, hoffnungslos veraltete Fortifikation)
2. Napoleon III geriet in Gefangenschaft - hier hätte der Krieg beendet werden können (sowohl um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, als auch um früh genug günstigere Friedensbedingungen zu erzielen)
3. das aber wollte die frisch aus der Taufe gehobene franz. Dritte Republik nicht! Mit derselben unsinnigen Überheblichkeit (die militärischen Gegebenheiten hatten sich nicht geändert!) wollte diese den verlorenen (sic!) Krieg weiter führen und tat das auch, und das auf nicht eben edle Weise (da fand eine Entgrenzung des Kriegs statt)
4. wie Napoleon III verlor auch die Dritte Republik, was absehbar war. Die zusammen geschossene Festung Paris kapitulierte und der Krieg war beendet.
5. es fand noch ein innerfranzösisches Massaker mit Massenhinrichtungen statt: "blutige Maiwoche", an welchem kein deutsches Militär beteiligt war.
--- das alles zusammengezählt bietet keine sonderlich günstige Verhandlungsposition.

Zuletzt beschloss die franz. Nationalversammlung die Ratifizierung des Friedensvertrags. Mir leuchtet nun nicht ein, weshalb dieses komplette, von Frankreich verursachte (sic!) Desaster zu einer eventuellen künftigen, vom deutschen Kaiserreich verursachten Krise hingebogen werden sollte:
Man kann halt denken, dass die Annexion Elsass-Lothringens die Wahrscheinlichkeit eines weiteren großen europäischen Krieges erhöhte. Ich denke das beispielsweise.
Hätte man nach der Kapitulation von Paris etwa Frankreich mit Lorbeer, Gold und Ländereien überschütten sollen, damit es keinesfalls grummelt?? Und war das denn ein großer europäischer Krieg??
 
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