Liman-von-Sanders-Krise und die Dardanellen. (..Ein Versuch)

Aber im Moment geht es ja darum, das vor der schweren diplomatischen Krise Informationen geflossen sind und Sasnows Erregung hierüber nicht mehr so wirklich gerechtfertig erscheint. Der Zar hat den deutschen Botschaftsrat Lucius gegenüber auch bestätigt, das er von Wilhelm im Mai informiert worden war. Aber dieser Umstand wird m.E. nach zu wenig gewürdigt.

Welche Informationen denn genau?;)
Wie sieht die Quellenkritik in der Literatur aus?

Was wir von den Randglossen Wilhelms und einem Vermerk Berchtolds wissen (->Röhl, Wilhelm II, 1900-1941), sind Randgespräche zwischen den Monarchen über ihre "Aktivitäten" im Osmanischen Reich. George palavert etwas über die Ausbildung von Gendarmerie, Wilhelm etwas über deutsche Ausbilder für die Armee, und was hat Niki konkret davon aufgeschnappt?

Weder an Grey noch an Sazonow gelangten dazu Hinweise, die irgendwelche belegbaren Aktivitäten auslösten. Nichts.

McMeekin weist ergänzend auf die "Fehlanzeige" bei den diplomatischen Kanälen hin: Tage vor der Verkündung der Liman-Mission (das Entscheidende sind hier nicht ein paar Ausbilder, sondern die Ankündigung der Übernahme von Kommandostrukturen der Osmanischen Armee an der Meerenge - die Sperre der Meerengen, Einbruch der russischen Getreide-Exporte und zweimal bulgarische Truppen kurz vor dem Bosporus waren noch "frisch") reist Sazonow durch Berlin, und obwohl der deutsche Plan kurz vor der Verkündung steht, schweigt Bethmann sich völlig aus. Nicht die kleinste Andeutung, oder ein Verweis auf angebliche Information durch Wilhelm: "wie Sie ja wissen, wird übermorgen..." Ein deutliches Zeichen der Vorahnung über den kommenden Eklat.

Der (nachträgliche) Berchtold-Vermerk ist inhaltlich dürftig. Die (nachträglichen) Wilhelm-Glossen geben nichts Konkretes her.

Daraus ist nichts abzuleiten. Man kann höchstens hinterfragen, was da überhaupt von Wilhelm vorgetragen wurde. Als erstens müsste man mal fragen: was läßt sich aus diesem angeblich wichtigen Hinweis Wilhelms überhaupt - und zwar unmittelbar darauf! - in den Außenämtern von Berlin, Wien, Petersburg oder London im Mai und Juni 1913 finden? Nichts? Gar nichts für diesen europäischen Brennpunkt? Waren denn dann die Monarchen zu dämlich, die Brisanz zu kapieren oder war Wilhelm zu dämlich, das verständlich zu formulieren? Oder wollte er das gar nicht verständlich formulieren? Zugespitzt: Oder ist es eine nachträgliche Ausrede für die kaputte Fensterscheibe im Hof: "Wir haben doch gesagt, dass wir da Fußball spielen wollten"?
 
....
Übrigens sahen es die Russen überhaupt gar nicht gern, das der britische Admiral Limpus, als Oberkommandierender der osmansichen Flotte, dafür Sorge trug, das die türkische Flotte aufgerüstet wurde. Zu diesem Zwecke wurden u.a. ja auch die Dreadnoughts bei Vickers & Arnstrong bestellt. Nur da gab es keine so schwere diplomatische Krise

Es ist richtig, dass auch das für Russland als bedrohlich angesehen werden musste.
Ich will mal darstellen wie ich es verstehe und bitte bei Irrtümern um Korrekturen:
Bereits eine später auf dem Parkett erscheinende "Goeben", die man gerade noch in die untere Dreadnoughtklasse einreihen kann, verändert die Lage im Schwarzen Meer sehr zu ungunsten Russlands. Umsomehr musste es über bevorstehende Lieferungen eines echten Dreadnaugths wie der "Sultan Osman I" (mitsamt dem dazu notwendigen Hafenausbau) durch die Briten beunruhigt sein. Und es waren ,folgt man McMeekin, weitere Schlachtschiffe in Auftrag gegeben.
Den Russen standen solche Möglichkeiten nicht offen, da die Durchfahrt ins Schwarze Meer aufgrund internationaler Verträge für Kriegsschiffe gesperrt war. Die russische Schwarzmeerflotte konnte nicht einkaufen und war zurückgeblieben.
Und McMeekin meint auf Seite 69
Bei solchen Freunden brauchte Russland keine Feinde mehr.

Andererseits aber durfte von Britanien erwartet werden, dass es die freie Durchfahrt für russische Handelsschiffe, mitsamt dem notwendigen Export für die Finanzierung der russischen Industrialisierungsvorhaben, schützen würde.

Und hier scheint mir der wesentliche Unterschied zu liegen. Das DR würde dies eben wahrscheinlich nicht tun, sondern stark versucht sein, eben das zu verhindern, da es sich offenkundig von einem Erstarken Russlands mehr bedroht sah, als durch irgendeine andere mögliche künftige Entwicklung.

Die Lage für Russland war aber in jedem Fall alles anderere als komfortabel, da die sich Entwicklungsmöglichkeit seiner rückständigen, jedoch kritisch entscheidenden, industriellen Wirtschaft in erheblichem Maß durch eben dieses Nadelöhr der Dardanellen zwängen musste.

Und hier finde ich diesen Gedanken McMeekin´s besonders interessant und erwägenswert:
..die Ängste der Russen waren wesentlich bedrohlicher für das empfindliche Friedensgleichgewicht in Europa, weil sie für alle anderen nicht sichtbar waren.
Man kann das in andere Muster des geschichtlichen Stoffes hineinweben und einen überraschenden Bildausschnitt erhalten.
Den kann man sich zu Recht bewundernd und verwundert anschauen.
.."mir wird von Alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum." ...

Bei aller Konfusion scheint es mir schon so zu sein, dass die Rolle Russlands mit seinen Zwängen und seiner inneren Verfasstheit stärker gewürdigt werden könnte.
 
McMeekin sieht in der dreadnought-Frage ein Argument für seine These, Russland wäre im "Sommer" 1914 ohnehin auf dem Balkan zur Tat geschritten.

Das ist nicht belegbar:
http://www.geschichtsforum.de/f62/r...ng-und-der-eintritt-den-ww1-48326/#post715270

Dazu einige Hinweise, die hier im Forum auch schon diskutiert wurden:

Bestellt waren zwei dreadnoughts bei Vickers und Armstrong ab 1911. Ein drittes war geordert, konnte nicht bezahlt werden aufgrund der Zerrüttung der Osmanischen Staatsfinanzen, die unter quasi-Kontrolle des Auslandes standen. Ein viertes wurde von der Marine gewünscht, ist mangels Finanzierung noch nicht einmal bestellt worden.

Die Bestellungen waren osmanische Reaktionen auf griechische Flottenrüstung. Die Marine-Mission von Limpus hatte damit nichts zu tun, opponierte vielmehr gegen die osmanischen Schlachtschiff-Wünsche, da derartige Kampfinstrumente von deren Marine nicht beherrscht werden könnten. Russland oppnierte seit 1911 gegen die britischen Lieferungen, und zielte letztlich auf Verzögerungen. Die Interaktion ist aber ein Musterbeispiel dafür, wie Rüstungsläufe an der Peripherie sich auf die Großmächte zurückspiegelten. Das Mittelmeer ist hier ein Faktor, der auch auf den dt.brit. Wettlauf, das angestrebte brit.-russ. Marineabkommen, die "Osmanische Frage", den Streit um die Meerengen etc. zurückwirkte. 1914 war da noch mehr in der Pipeline, Rumänien wäre der nächste "Besteller" gewesen.

Grund für die russische Verzögerungs-Strategie war das bereits laufende russische Bauprogramm von 4 dreadnoughts im Schwarzen Meer, dass mit den osmanischen "Bestellungen" verdoppelt wurde auf 8 (Duma-Flottenrüstungs-Beschlüsse von Ende 1912). Die Bauten waren russischerseits von der Finanzierung kein Problem, und bereits etatisiert.

Verbleibendes Problem von Sazonow und seinen Admiralen war also: die Auslieferung der russischen dreadnoughts sollte ab Mitte 1915 erfolgen. Befürchtung: temporäre Überlegenheit der Osmanischen Marine.
http://www.geschichtsforum.de/f58/zwei-kriegsschiffe-gehen-die-osmanische-marine-31611/#post713561

McMeekins Darstellung ist nicht einmal bei den technischen Aspekten fehlerfrei. Für Sultan Osman I. gibt er falsches, zu hohes Kaliber an, das Schiff galt bereits bei Stapellauf für die ursprünglich brasilianischen Besteller als überholt. Auf die Reshadije hatten die russische Marine bereits konstruktiv reagiert. Richtig ist, dass es für die russische Seite perspektivisch eine "Bedrohungslücke" Mitte 1914/1915 gab.
 
Noch eine Empfehlung an @hatl:

eine sehr gute Darstellung, weit über McMeekin hinausgehend, bringt Bobroff in seinem "Roads to Glory" zu der Mittelmeer-Situation und den Auswirkungen auf die russische Wahrnehmung. Die navalistischen Details bringt insbesondere (immer noch!) Halpern, The Mediterranean Naval Situation 1908-1914. Zur internationalen Lage ist der Sammler von Kent empfehlenswert, The Great Powers and the End of the Ottoman Empire, aus getrennter Sicht aller Großmächte.
 
[...]
Ich will mal darstellen wie ich es verstehe und bitte bei Irrtümern um Korrekturen:
Bereits eine später auf dem Parkett erscheinende "Goeben", die man gerade noch in die untere Dreadnoughtklasse einreihen kann, verändert die Lage im Schwarzen Meer sehr zu ungunsten Russlands. Umsomehr musste es über bevorstehende Lieferungen eines echten Dreadnaugths wie der "Sultan Osman I" (mitsamt dem dazu notwendigen Hafenausbau) durch die Briten beunruhigt sein. Und es waren ,folgt man McMeekin, weitere Schlachtschiffe in Auftrag gegeben.
[...]

Korrektur:
Die Goeben (Moltke-Klasse) ist nicht als untere Dreadnought einzustufen!
1. Es handelt sich um den Typ Schlachtkreuzer, der bei weiten besser konstruiert wurde, als britische Vergleichsmodelle bzw. der ersten Schlachtkreuzer der Invincible-Klasse!
2. Die Goeben als Kriegsschiff gehörte zum deutschen Mittelmeergeschwader, welches im Vorfeld nicht in die Waagschale eines Krieges um die Meerengen des Schwarzen Meeres ausgerichtet waren. Die Auflösung des Geschwaders bzw. einer Umstrukturierung stand im Sommer 1914 schon auf dem Plan, der durch den Krieg unmöglich wurde. Der Rest ist aus der Situation des Verlaufs des Krieges entstanden und war so nicht vorhersebar, daß hier auch eine ungünstige Verteilung zur Schwarzmeerflotte vor 1914 einsehbar war.
3. Die russischen 3 Dreadnoughts der Imperatrza-Marija-Klasse waren der Goeben überlegen (weniger in der Geschwindigkeit) und bei guter Führung sehr gut in der Lage, den deutschen Schlachtkreuzer zu versenken.

Also kein Grund, die Goeben als Kriegsschiff zu einer negativen Veränderung der russischen Seemacht um das Schwarze Meer zu bewerten. Die anderen Schiffe wurden nie in die osmanische Flotte eingereiht, obwohl hier ein größeres Potential zu suchen wäre, eine Übermacht der Türken als Gefährdung zu sehen. Das geschah aber vor dem Kriegsbeginn und sollte somit komplett unterschiedlich zur Goeben-Problematik bewertet werden.
 
Vielen Dank für die Hinweise.

@Köbi,
ich frag mich grad wie ich zu der falschen Einstufung der Goeben gekommen bin. :confused:
Danke für die Korrektur.

@Silesia
Danke für den Tip. Den Bobroff lese ich gerade. Ich hatte einen geschätzten Forumsteilnehmer um Empfehlungen gebeten. Da war auch der Bobroff dabei und ehrlich gesagt, war der gerade noch am wenigsten sauteuer. :D

Danke nochmal, es macht so wirklich Spass.

Grüße hatl
 
Welche Informationen denn genau?;)
Na, das Wilhelm ihn über die beabsichtige Militärmission im Mai 1913 informiert hat.



Wie sieht die Quellenkritik in der Literatur aus?
Quellenkritik?

Also ich habe das Werk von Uebersberger mit Interesse gelesen und mir ist nicht bekannt, das er aus der rechten oder revisonistischen Ecke kommt. Habe ich etwas übersehen?

Und ich bin vom Beruf, leider, kein Historiker, sondern nur ein hochinteressierter Laie.

Turgot schrieb:
Wenn unsere Kriegs- und Marineressort ihrerseits es für möglich ansehen, das Risiko ernster Verwicklungen zu übernehmen, unter der Bedinung natürlich der entsprechenden Entschlossenheit Frankreichs und Englands, dann solllten wir schon jetzt mit den beiden Mächten in einen vertraulichen Gedankenaustausch über diese Frage eintreten."

Was sagst du eigentlich zu diesem Zitat Sasonows? Ich habe es ja schon oben in #60 (ausführlicher) gebracht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Quellenkritik?

Also ich habe das Werk von Uebersberger mit Interesse gelesen und mir ist nicht bekannt, das er aus der rechten oder revisonistischen Ecke kommt. Habe ich etwas übersehen?

Ich weiß nicht, was die Frage nach Quellenkritik mit rechten oder revisionistischen Ecken zu tun haben soll. Ich fände es schade, wenn mir das als Vorwurf in einer kontroversen Diskussion gemacht werden sollte. Mit Quellenkritik - ich habe dazu oben bereits einige Literatur gebracht, die das Zitat bespricht - ist wie üblich im Forum bei strittigen Fragen das hier gemeint:
http://www.geschichtsforum.de/f82/schema-zur-quellenkritik-34009/

Etwas weniger anspruchsvoll geht es einfach darum, den Inhalt dieser Gespräche zu erforschen, was uns hier nur anhand der Hinweise in der Literatur möglich ist, neudeutsch: professional skepticism.

Na, das Wilhelm ihn über die beabsichtige Militärmission im Mai 1913 informiert hat.
Genau das wissen wir eben nicht. Was wir wissen:

Nach Röhl hat er seinen adligen Kollegen en passant über eine osmanische Anfrage nach einer "Militärmission" informiert, worauf George über Gendarmenausbildung sprach und Niki offenbar überhaupt nichts mitbekommen hat. Der Rest der Geschichte beruht auf Wilhelms unbelegter Darstellung, die an Berchtold gelangt ist, und auf einer Randglosse an einem Aktenvermerk. Ziemlich dürftig für so ein heißes Eisen. Offenbar hat er nicht mal seine eigenen Leute zeitnah instruiert, sondern nachträglich diese Information behauptet. Zusammenfassend:
Weder an Grey noch an Sazonow gelangten dazu Hinweise, die irgendwelche belegbaren Aktivitäten auslösten. Nichts.

McMeekin weist ergänzend auf die "Fehlanzeige" bei den diplomatischen Kanälen hin: Tage vor der Verkündung der Liman-Mission (das Entscheidende sind hier nicht ein paar Ausbilder, sondern die Ankündigung der Übernahme von Kommandostrukturen der Osmanischen Armee an der Meerenge - die Sperre der Meerengen, Einbruch der russischen Getreide-Exporte und zweimal bulgarische Truppen kurz vor dem Bosporus waren noch "frisch") reist Sazonow durch Berlin, und obwohl der deutsche Plan kurz vor der Verkündung steht, schweigt Bethmann sich völlig aus. Nicht die kleinste Andeutung, oder ein Verweis auf angebliche Information durch Wilhelm: "wie Sie ja wissen, wird übermorgen..." Ein deutliches Zeichen der Vorahnung über den kommenden Eklat.

Der (nachträgliche) Berchtold-Vermerk ist inhaltlich dürftig. Die (nachträglichen) Wilhelm-Glossen geben nichts Konkretes her.

Daraus ist nichts abzuleiten. Man kann höchstens hinterfragen, was da überhaupt von Wilhelm vorgetragen wurde. Als erstens müsste man mal fragen: was läßt sich aus diesem angeblich wichtigen Hinweis Wilhelms überhaupt - und zwar unmittelbar darauf! - in den Außenämtern von Berlin, Wien, Petersburg oder London im Mai und Juni 1913 finden? Nichts? Gar nichts für diesen europäischen Brennpunkt?

Der eigentliche Aufreger - oben breit diskutiert - ist die Kontrolle über die Armeeführung an den Meerengen, die 1. osmanische Armee mit ihren Korps und Divisionen, runter bis auf Divisionsebene teilweise deutscherseits geführt. Das ist der materiell-institutionelle "big point", der auch die deutsche Seite in Verzückung gerieten ließ, und nicht ein paar Waffenausbilder im armenischen Bergland. In der strategischen Bewertung, und alle Großmächte kalkulierten den bevorstehenden Zerfall des Osmanischen Reiches, waren sich die Großmächte auch einig: Kontrolle der osmanischen Armee für den Fall der Fälle, damit Kontrolle über die Dardanellen. Wie effektiv das war, zeigt die Militärführung Limans später in Sachen Gallipoli 1915.
Erickson, Ordered To Die - History of the Ottoman Army in World War One,
Tim Travers: Liman von Sanders, the Capture of Lieutenant Palmer, and Ottoman Anticipation of the Allied Landings at Gallipoli on 25 April 1915, JoMH 2001, S. 965ff.
Erickson, Strength Against Weakness: Ottoman Military Effectiveness at Gallipoli, 1915, JoMH 2001, S. 981ff.



Was sagst du eigentlich zu diesem Zitat Sasonows? Ich habe es ja schon oben in #60 (ausführlicher) gebracht.
Erneut: Quellenkritik, und da kann ich nur in der Literatur nachschlagen.

Ich beantworte das - strategische Auswirkungen der Liman-Krise - gern nacheinander, wenn zunächst die aktuellen Aspekte durch sind. Auch hier stehen sich McMeekin und die Literatur um Bobroff und anderen diametral gegenüber.
 
@Thomas

Man bin wohl eindeutig ich.;)

Wir beide sind in diesem Forum seit nunmehr 8 Jahren unterwegs und ich glaube, das du mich mittlerweile gut genug kennst. :)

Meine Empfindlichkeit basiert darauf, das ich in der Vergangenheit hier mehrfach zu hören bekam, das dieser oder jener von mir bemühte Historiker als zu "wenig kompetent" bezeichnet wurde. So zumindest meine Wahrnehmung.

Meine Ausführung war daher überhaupt nicht als Unterstellung gedacht, sondern schon quasi vorbeugend als Hinweis, das mir nicht bekannt ist, das der genannte Historiker eben aus der rechten oder reviosonistischen Ecke kommt. Das ist auch schon alles. Kein Vorwurf, Angriff oder sonstiges dergleichen.
 
Die Sache scheint mir außerordentlich verzwickt zu sein.

Und um das Rätsel noch etwas verwirrender zu machen, sei ein bislang noch nicht erwähnter Aspekt hinzugefügt. (Falls doch schon vorher, und nicht beachtet, bitte ich um Nachsicht und Richtigstellung)
Ein Jahr nach seiner Thronbesteigung unternimmt Wilhelm mit großem Pomp, zum Schrecken seines noch amtierenden Kanzlers, einen pompösen Staatsbesuch beim Sultan Abdul Hamid.
(„what was a diplomatic nightmare for Bismarck, however, was for the young Kaiser very good fun“ - Sean McMeekin „The Berlin-Baghdad Express“ Kapitel 1)
Neun Jahre später 1898 wird sich KW2, bei einer zweiten Orientreise, selbst zum Schutzherren aller 300 Millionen Muslime der Welt erklären, unter dem Kalifat des umworbenen Abdul Hamid, der den weltlichen Titel „Sultan“, mit dem Anspruch eines „Kalifen“, also des höchsten geistlichen Würdenträgers, verbindet.
Eine diplomatische 'Meisterleistung' a la Wilhelm....
Denn das osmanische Reich hat weniger muslimische Untertanen als Russland und nicht einmal 1/5 der des britischen Empires.
Der genannte Historiker, der bei anderer Gelegenheit als Zeuge für die Aggressivität Russlands bemüht wird, geht soweit in seiner Analyse, dass der erste globale Jihad ein „Geschenk“ des DR gwesen sei (Kapitel 4 - „A Gift from Mars: German Holy War Fever“).

Folgt man dieser Vorstellung, so muss ein wesentlicher Unterschied zwischen den Militärmissionen Britanniens (Limpus) und denen des DR (Limann von Sanders) bestanden haben, insbesondere was eine vergleichende Wahrnehmung durch Russland angeht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Der genannte Historiker, der bei anderer Gelegenheit als Zeuge für die Aggressivität Russlands bemüht wird, geht soweit in seiner Analyse, dass der erste globale Jihad ein „Geschenk“ des DR gwesen sei (Kapitel 4 - „A Gift from Mars: German Holy War Fever“).

Folgt man dieser Vorstellung, so muss ein wesentlicher Unterschied zwischen den Militärmissionen Britanniens (Limpus) und denen des DR (Limann von Sanders) bestanden haben, insbesondere was eine vergleichende Wahrnehmung durch Russland angeht.

Das ist der wesentliche Punkt, der oben diskutiert wurde.

Oben wurden verschiedene Gründe genannt, die die im Ganzen "mäßigen" russischen Reaktionen auf diese Vorgänge bestimmten und plausibilisieren.

Nur um einiges aufzuzählen: die russische Reaktion der Marinerüstung im Schwarzen Meer, die kompensatorische Wirkung durch die gleichzeitige griechische Marinerüstung, die Glaubwürdigkeit der Begrenzung der britischen Unterstützung auf Friedenszeiten, der Kontext des britisch-russischen Interessenausgleichs mit diesen Disput überlagernden grundsätzlich abgegrenzten Interessensphären, der Abzug britischer Präsenz im Mittelmeeer 1892/1912 seit der fundamentalen Lageanalyse der Royal Navy 1892 (das nämlich Großbritannien im Fall der Fälle die Sperrung der Dardanellen gegen Russland nicht leisten könne), "Vertrauens"-Bildung durch die politischen Lösungen in früheren Krisen (insbesondere die Armenien-Krisen vor 1900), die Irrelevanz der Marinefragen (gegenüber Armeefragen) für die Machtlage im Fall des Auseinanderbrechens des Osmanischen Reiches und daraus ggf. resultierender territorialer Streitigkeiten der Großmächte.

Dazu insbesondere: Neilson: Britain and the Last Tsar - British Policy and Russia 1894-1917
 
hatl schrieb:
Der genannte Historiker, der bei anderer Gelegenheit als Zeuge für die Aggressivität Russlands bemüht wird, geht soweit in seiner Analyse, dass der erste globale Jihad ein „Geschenk“ des DR gwesen sei (Kapitel 4 - „A Gift from Mars: German Holy War Fever“).

Folgt man dieser Vorstellung, so muss ein wesentlicher Unterschied zwischen den Militärmissionen Britanniens (Limpus) und denen des DR (Limann von Sanders) bestanden haben, insbesondere was eine vergleichende Wahrnehmung durch Russland angeht.
Und Nikolaus, mindestens genauso ein wenig befähigter Monarch, träumte, und nicht nur er, von der Inbesitznahme der Dardanellen. Kurz Mal eben in Konstantinopel ein Aufstand entfachen und somit ein Vorwand für die Landung russischer Truppen zu besitzen. Sultan Abdul Hamid sollte kurz und bündig vor die Alternative gestellt werden, entweder russisches Protektorat oder Krieg.

Admiral Limpus selbst konnte die Aufregung über die Militärmission jedenfalls nicht verstehen. Und er sorgte dafür, das die osmanischen Seestreitkräfte aufgerüstet und besser ausgebildet wurden. Das kann eigentlich kaum im Interesse der Russen gewesen sein, aber da gab es bestenfalls nur ein Gegrummel und Gemurmel.

Die Truppen längs der Meerengen übrigen sollten auch gar nicht unter dem Kommando von Liman kommen. Gemäßt Auskunft des türkischen Großwesir waren die Befugnisse bon Admiral limpus umfassender alsi die von Liman angedachten. Wollte bei limpus eigentlich eine andere Macht auch den Vertrag vorgelegt bekommen? Immerhinwar das Osmansiche Reich ja noch souverän.

Interessant ist mal wieder, das Frankreich am 30.12.1913, wie schon bei anderer Gelegenheit und nachher im Juli 1914, den Russen Unterstützung bis äußersten signalisierte. Und das zu einen Zeitpunkt, wo Berlin schon auf dem Rückzug war.
 
Und Nikolaus, mindestens genauso ein wenig befähigter Monarch, träumte, und nicht nur er, von der Inbesitznahme der Dardanellen. Kurz Mal eben in Konstantinopel ein Aufstand entfachen und somit ein Vorwand für die Landung russischer Truppen zu besitzen. Sultan Abdul Hamid sollte kurz und bündig vor die Alternative gestellt werden, entweder russisches Protektorat oder Krieg.

Admiral Limpus selbst konnte die Aufregung über die Militärmission jedenfalls nicht verstehen. Und er sorgte dafür, das die osmanischen Seestreitkräfte aufgerüstet und besser ausgebildet wurden. Das kann eigentlich kaum im Interesse der Russen gewesen sein, aber da gab es bestenfalls nur ein Gegrummel und Gemurmel.

Die Truppen längs der Meerengen übrigen sollten auch gar nicht unter dem Kommando von Liman kommen. Gemäßt Auskunft des türkischen Großwesir waren die Befugnisse bon Admiral limpus umfassender alsi die von Liman angedachten. Wollte bei limpus eigentlich eine andere Macht auch den Vertrag vorgelegt bekommen? Immerhinwar das Osmansiche Reich ja noch souverän.

Interessant ist mal wieder, das Frankreich am 30.12.1913, wie schon bei anderer Gelegenheit und nachher im Juli 1914, den Russen Unterstützung bis äußersten signalisierte. Und das zu einen Zeitpunkt, wo Berlin schon auf dem Rückzug war.

Turgot, ich kann mir das auch nicht erklären, denke aber, dass Silesia gute Hinweise gegeben hat.
Sichte ich die Literatur zu dieser Zeit (Bobroff, Clark, Geiss, Hirschmann/Krumreich, Lieven, McMeekin,Tuchman), soweit mir das gelingt, spielt Limpus kaum eine Rolle, im Gegensatz zur Liman-von-Sanders-Mission
Es scheint mir also naheliegend zu sein anzunehmen, dass hier wesentliche Unterschiede, zumindest in der Rückschau, bestehen.
Und offenkundig bestanden hier auch sehr unterschiedliche Wahrnehmungen auf russischer Seite zur damalig gegenwärtigen Zeit.
Nun könnte man sich darüber Gedanken machen ob solche 'Wahrnehnungen' auch rational begründet waren, oder emotional aufgeputscht oder auch bewusst instrumentalisiert.
Die unterschiedlichen Wahrnehnungen selbst jedoch, scheinen mir Konsense zu sein.

Und ich vermute, dass diese insofern nicht irrational waren, als sie sich in die strategische Lage fügten. Und diese Lage war für Russland besonders schwierig.
Es musste hier schon einen Unterschied machen ob ein aussichtsreicher Verbündeter, der eben nicht das Nadelöhr der russischen Prosperität schließen konnte oder wollte, wesentlichen Einfluss auf dieses gewann,
.. oder eine mittlerweilen feindliche Macht.

Nikolaus, der ja, wie Du bemerkst, auch nicht der Weiseste war, „glaubte den von Spionen im österreichischen Führungsstab übermittelten Berichten militärischer [russischer] Geheimdienste, die berichteten, dass die Deutschen die Kontrolle über die Küstenbatterien übernehmen wollten“ (Dominik Lieven - Nicholas II – Seite 196. ..Übersetzung durch mich)

Auch scheint es mir Deine Aussage dass „das Osmansiche Reich ja noch souverän“ gewesen sei, nur eingeschränkt zu gelten. Seit der Staatspleite von 1875 hatte das „Osmansiche“ (Witzbold, das trifft es ja) nurmehr eine sehr eingeschränkte Kontrolle über die eigenen Staatsfinanzen und damit einen ganz wesentlichen Kernpunkt eigener Souveränität eingebüßt, was sich ja auch in den demütigenden 'Kapitulationen' ausdrückte.
Es ging, so wie ich es verstehe, auch darum welche Geier den künftigen Leichnam gewinnbringend fleddern würden.
Und da war es wohl so, dass der verzeifelte kranke Mann am Bosporus zum geeigenten Zeitpunkt, je nach Interesse, sterben, bzw. noch am Leben erhalten werden sollte.
Die Großmacht, die bei diesem bösen Spiel am deutlichsten mit Russland kollidierte, war wohl das DR.
 
Zuletzt bearbeitet:
hatl schrieb:
Auch scheint es mir Deine Aussage dass „das Osmansiche Reich ja noch souverän“ gewesen sei, nur eingeschränkt zu gelten.

In finanzpolitischer Hinsicht gab es sicher Einschränkungen, aber nicht in der Frage bezüglich militärischer Kommandostellen.

Und die Wahrnehmung, ist ja ganz überwiegend bis zum heutigen Tage so, ist in der Tat so, das die westlichen Allierten aber auch Russland deutlich freundlicher und vor allem verständnisvoller betrachtet werden. Es werden eben auch manl ein paar Gesichtspunkte übersehen, während beim Deutschen Reich eine sehr kritische Betrachtungsweise vorherrscht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hier ein interessantes Zitat von Grey zur Liman Krise:

"Ich glaube nicht, daß die Angelegenheit des ganzen Aufhebens wert ist, die Sazonow darum macht; aber solange er Aufhebens darum macht, wird es wichtig und sehr unbequem für uns sein, denn wir können Rußland nicht den Rücken zukehren. (1)

Grey in einen Schreiben an Buchanan vom 11. Feburar 1914. Außerdem vertrat er die Auffassung, das die eigentlich Bedeutung der Frage sehr übertrieben worden ist.
 
..Und den Russen hat das Prestige des Deutschen Reiches als Großmacht auch herzlich wenig interessiert...

Dabei stellt sich die Frage ob ein Status oder ein "Prestige" erheblich ist.
Das DR ist zur fraglichen Zeit kraftstrotzend und der Großmachtstatus ist unumstritten, im Inneren wie im Äußeren.
Für Russland selbst stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar.
Nach der ersten Russischen Revolution 1905/06 hat es sich kaum stabilisiert,
und während Poincaré Juli 1914 in St. Petersburg weilt, findet sich dieses wieder einmal in Aufruhr.

Betrachtet man die damaligen Einschätzungen russischer Kraft, so kann man annehmen, dass diese von den Russen selbst am geringsten gewogen wurde.
- William C. Wohlforth - perception of power

Russland ist rückständig.
Das betrifft fast alle Bereiche.
Russland ist pleite, wurde von einem weltpolitischen Underdog demütigend besiegt, ist innenpolitisch permanent instabil, industriell unterentwickelt und sieht sich der unmittelbaren Gefahr ausgesetzt im Rahmen eines agressiven Imperialismus seinen "Großmachtstatus" zu verlieren.
Wie die Konsequenz eines solchen Verlustes sich in diesem Umfeld gestalten würde, mag am Schicksal des Kranken Manns am Bosporus ablesbar sein,
der solange auf seinen wackligen Beinen gehalten werden soll, bis das Erbe der Leiche möglichst einvernehmlich verteilt ist.

Während der Großmachtstatus des DR so gefestigt ist, dass es sich nicht in der Situation befindet, diesen verteidigen zu müssen,
stellt sich für Russland die Lage völlig anders dar.
 
Hier ein interessantes Zitat von Grey zur Liman Krise:

"Ich glaube nicht, daß die Angelegenheit des ganzen Aufhebens wert ist, die Sazonow darum macht; aber solange er Aufhebens darum macht, wird es wichtig und sehr unbequem für uns sein, denn wir können Rußland nicht den Rücken zukehren. (1)

Grey in einen Schreiben an Buchanan vom 11. Feburar 1914. Außerdem vertrat er die Auffassung, das die eigentlich Bedeutung der Frage sehr übertrieben worden ist.

Das Zitat ist vor allem im Kontext interessant (siehe Mulligan, "We Can't be more Russian than the Russians": British Policy During the Liman von Sanders Crisis, Diplomacy & Statecraft 2006, S. 261/282).

Grey fährt hier folgende Linie:
a) Beschwichtigung der russischen Seite zwecks Deeskalation
b) "Bändigung" seiner Mitarbeiter Crowe, Buchanan, Bertie etc. (Otte, Foreign Office Mind), die sich in wilden Warnungen vor Eskalationsszenarien austoben.

Hier wird konkret Buchanan gemäßigt und gebändigt (von dem ebenso wie von Bertie, Crowe, Nicolson usw. Warnungen bereits auf dem Tisch lagen), um exakt diesen (ruhigen) Standpunkt von Grey an die Russische Seite "durchzustechen". [*] Natürlich wird erwartet, dass Buchanan diese britische "alles nicht so wild"-Position an die russische Seite kommuniziert.

Zweck ist somit zweierlei:

a) sich nicht von den Russen unter Ausnutzung der Krise und der britischen Passivität in Fragen von Persien + Marine unter Druck setzen zu lassen,
b) Beistandshoffungen der Russen zu mäßigen, um dort die Eskalationsgelüste klein zu halten.

Noch etwas Material:
EDİP ÖNCÜ: The Beginnings of Ottoman-German Partnership: Diplomatic and Military Relations between Germany and the Ottoman Empire before the First World War.
recht umfangreiche Master-Thesis, Ankara 2003.
http://www.thesis.bilkent.edu.tr/0002417.pdf

NILES STEFAN ILLICH: German Imperialism in the Ottoman Empire: A Comparative Study, Dissertation 2007
http://repository.tamu.edu/bitstream/handle/1969.1/ETD-TAMU-2078/ILLICH-DISSERTATION.pdf?sequence=1



[*] zu den Brandbriefen und Memos, die bei Grey landeten, siehe Neilsson, Keith: Britain and the Last Tsar - British Policy and Russia 1894 - 1917.
 
Zuletzt bearbeitet:
silesia schrieb:
Grey fährt hier folgende Linie:
a) Beschwichtigung der russischen Seite zwecks Deeskalation
b) "Bändigung" seiner Mitarbeiter Crowe, Buchanan, Bertie etc. (Otte, Foreign Office Mind), die sich in wilden Warnungen vor Eskalationsszenarien austoben.

Punkt a) ist sicher zutreffend.

Zu b) ist hervorzuheben, dass die genannten Diplomaten bedeutend und auf wichtigen Posten waren. Und sehr wichtig: Sie waren samt und sonders antideutsch eingestellt. Wenn Grey sich also gezwungen sieht seine engsten Mitarbeiter in ihren Albtraumszenarien abzubremsen, dann stellt sich für mich die Frage, weshalb die Gruppe der wichtigsten diplomatischen Entscheidungsträger alle die, mehr oder weniger, die gleiche antideutsche Einstellung hatten und Grey nicht personal rekrutierte, welches in seiner Meinung ausgewogener war.
 
hatl schrieb:
Dabei stellt sich die Frage ob ein Status oder ein "Prestige" erheblich ist.
Das DR ist zur fraglichen Zeit kraftstrotzend und der Großmachtstatus ist unumstritten, im Inneren wie im Äußeren.
Für Russland selbst stellt sich die Situation jedoch ganz anders dar.
Nach der ersten Russischen Revolution 1905/06 hat es sich kaum stabilisiert,
und während Poincaré Juli 1914 in St. Petersburg weilt, findet sich dieses wieder einmal in Aufruhr.
Ganz sicher war es das. Der Wechsel von Lamsdorff zu Iswolsky markiert auch eine schrittweise entsprechende Änderung der äußeren politik Petersburgs. Die Engländer sollten wieder eine offensive russische Balkanpolitik ermöglichen, obwohl man noch alle Hände voll zu tun hatte, um mit den Japanern ins reine zu kommen. Aber da war ja auch Frankreich sehr hilfreich, da Tokio in Paris eine Anleihe auflegen lassen zu wünschte.
 
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