War Luther schuld an Hitler?

Eine kausale Beziehung zwischen Luthers judenfeindlichen Pamphleten und der Judenvernichtung durch den NS ist unter Historikern eigentlich unumstritten.

Das Gegenteil ist der Fall. Nur weil diese Sau alle Jahre wieder durchs mediale Dorf getrieben wird, gibt diese Sau nicht die opinio communis oder den Forschungsstand wieder.


Hitler hat Luthers Text unmittelbar rezipiert, wurde davon in seiner Sicht auf das Judentum ganz entscheidend geprägt und propagierte Luther bei verschiedenen politischen Anlässen als geistiges Vorbild propagierte. Dass zwischen Luther und Hitler mehrere Jahrhunderte liegen, ist dabei irrelevant.

Wenn es stimmt, dass Hitler Luther rezipierte, dann hat er ihn allenfalls halb rezipiert und derselbe Vorwurf wäre auch dir zu machen, wenn du auch andere Motive als H. hättest. Bei Luther wechselten antijudaistische Phasen und nichtantijudaistische Phasen einander ab. Er hatte sich von der augustinischen Zeugenschaftslehre verabschiedet und wollte die Juden bekehren. Als diese auf sein "Angebot" nicht reagierten, reagierte Luther mit den bekannten antijudaistischen Texten, die ganz ohne Frage ziemlich ekelhaft sind.

Zudem spricht nichts dafür, dass Luther mit den konkreten NS-Maßnahmen gegen die Juden nicht einverstanden gewesen wäre
Es spricht jedoch einiges dafür, dass ein gewisser Chan in seiner christentumsfeindlichen Attitüde sich immer weiter radikalisiert.

Die Reichspogromnacht wurde übrigens gezielt an Luthers Geburtstag veranstaltet.
Die "Reichspogromnacht" vom 8. auf den 9. November wurde am Datum des Hitlerputsches veranstaltet. Luthers Geburtstag war der 10. November.

Dass spätere protestantische Antisemiten sich später bei Luther bedienten, ist ein anderes Paar Schuh.
 
Welche Historiker behaupten diese Kausalität?
Jaspers ist Philosoph, seine Meinungen zum Nationalsozialismus haben bereits Blücher und Adorno zerfetzt.

Deine gebrachten Gedankenbrücken zwischen Luther-Zitaten und den Nazi-Verbrechen sind aus meiner Sicht nicht geeignet, eine Diskussion auf dem Niveau des Geschichtsforums zu führen. Luther pflegte religiösen Antisemitismus, die Nazis rassischen. Das letztere natürlich versuchten, ihren Wahn (pseudo-)historisch zu legitimieren, ist auch keine Neuigkeit.
 
Dass auch Luther im ideologischen Flickenteppich des NS rezipiert wurde, steht außer Frage.

Dass es Versuche auch in der Geschichtswissenschaft gegeben hat, eine kausale Kette von Luther zum Holocaust zu ziehen, ist richtig. Mehr auch nicht.

Der eliminatorische, rassistische Antisemistismus des NS, auch in seiner Entwicklung, ist so ausreichend erforscht, dass diese bezeichnete Kette im Forschungsstand nicht gesehen wird.

Interessant ist, wer sich als einer der Ersten so wie von Chan vorgetragen, dieser These - hier apologetisch - bedient hat: Julius Streicher, Herausgeber des Stürmer. Geschehen in seiner Verteidigungsrede im Nürnberger Prozess 29.4.1946:

"Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde..."

Der absurde Versuch, sich auf Luther "entlastend" zu berufen, hat bei der Anklage zu Recht keinen Erfolg gehabt. Dass Luthers Aufruf, Synagogen zu verbrennen, durch den NS - wie alles antisemitische weltweit - rezipiert wurde, heißt keinesfalls, dass diese Schriften als Katalysator, notwendige Bedingung oder als "kausal" dargestellt werden können.

Im Übrigen bestätigt sich wieder einmal, dass Chans Hinweise auf "unter Historikern unumstritten", Mehrheitsmeinung etc. falsch sind.
 
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1. Bereits über die Frage der "Kausalität" im Rahmen einer ideengeschichtlichen Verantwortung ließe sich streiten und wird von Historikern, die sich die Mühe machen, auch methodische Fragen zu diskutieren, kontrovers beantwortet.

2. Die Frage der "Schuld" ist noch viel weniger zu beantworten und gehört sicherlich auch nicht in den Kontext einer seriösen geschichtlichen Betrachtung und ist sicherlich auch keine Kernkompetenz der Disziplin, auch wenn es - leider - mehr als genügend Gegenbeispiele in der "historischen Forschung" gibt. Aber da bleibt ja auch immer die letzte Möglichkeit, nach dem "Erkenntnisinteresse" des "Moralisierenden" zu fragen.

3. Die Entwicklung faschistischer Bewegungen und der Spezialfall der NS-Bewegung ist sicherlich nicht in seiner Ideologie monokausal durch Luther zu erklären. Wobei auch zu klären wäre, welche Inhalte zentral sind (vgl. Payne für eine Darstellung der ideologischen Ursprünge)

https://books.google.de/books/about/A_History_of_Fascism_1914_1945.html?id=9wHNrF7nFecC&redir_esc=y

Von W. Smith (The ideological Origins of Nazi Imperialism) wird eine deutlich andere Akzentuierung der ideologischen Ziele von Hitler vorgenommen und dabei steht das "Lebensraum-Motiv" im Vordergrund.

Insgesamt ist die NS-Ideologie ein Amalgam aus vielen Sichten, die Hitler streckenweise auf groteske Art und Weise adaptiert hat und neu teilweise pseudowissenschaftlich "rekonstruiert" hat, wie beispielsweise die bereits damals vorhandenen Ergebnisse zur Evolutions-Biologie und der idiosynkratischen Anwendung auf die "NS-Rasselehre".

4. Betrachtet man abschließend die Frage, welche Bedeutung "Martin Luther" für Hitler hatte, dann ergibt sich eine deutliche und eigentlich auch nicht überraschende Antwort beispielsweise mit I. Kershaw (Hitler, 1889-1945, S. 134, 177, 184, 203).

Es ist vor allem eine Funktion für die Selbst-Inszenierung der "historischen Mission", die er explizit an "deutschen Heroen" anlehnt und erwähnt explizit Luther, Friedrich der Große und nicht zuletzt natürlich Bismarck.

Im Rekurs auf Luther geht es darum den Anführer einer neuen politischen Religion zu stilisieren wie L. Herbst es im Buch "Hitlers Charisma" aufgezeigt hatte.

5. Abschlie0end ist vielleicht noch darauf hin zu weisen, dass die Planungen von Hitler & Speer für die Stadtentwicklung im neuen NS-Deutschland keine Freiräume für Kirchen berücksichtigt haben. Ob das nur "Undankbarkeit" gegenüber seinem - angeblichen - "Stichwortgeber" war?
 
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Eine kausale Beziehung zwischen Luthers judenfeindlichen Pamphleten und der Judenvernichtung durch den NS ist unter Historikern eigentlich unumstritten.

Das Gegenteil ist der Fall. Nur weil diese Sau alle Jahre wieder durchs mediale Dorf getrieben wird, gibt diese Sau nicht die opinio communis oder den Forschungsstand wieder.

Die "letzte Sau", die da in diesem Sinne durch das Dorf getrieben wurde, waren die Thesen von Goldhagen.

Dieser Sicht von Goldhagen ist massiv widersprochen worden und kann im Moment als "erledigt" angesehen werden. Deswegen ist das Fazit von "Chan" absolut nicht zutreffend und es ist "El Quijote" und "Silesia" zuzustimmen.

Wie insgesamt die "Sonderweg-These" massiv unter Druck geraten ist, zu der die Thesen von Goldhagen gerechnet werden können. Trotz der Singularität des "Holocaust".
 
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Die Nazis waren keine Aliens, und der Antisemitismus ist nicht vom Himmel gefallen. Judensäue, die jüdische Rabbiner in eine kompromittierende Beziehung zu einem Schwein stellten, waren nicht nur in Wittenberg auf Reliefs christlicher Kirchen zu sehen, und Ritualmordphantasien, Vorwürfe, die Juden würden Brunnen vergiften, Kinder abschlachten und seien an so ziemlich jedem Unheil schuld, das über die Christenheit hereinbrach waren sehr zählebig. In der europäischen Geistesgeschichte waren leider Gottes Philosemiten wie Lessing eher eine Ausnahme, als die Regel. In ihren Ausführungen zum Judentum waren sowohl Martin Luther wie auch Martin Bucer außerordentlich radikal. Wäre es nach Bucer gegangen, hätte Landgraf Philipp keine Juden mehr in Hessen aufgenommen. Die Frage nach der Verantwortung Martin Luthers an antisemitischen Vorstellungen innerhalb des Protestantismus ist daher legitim, und das Fazit das man daraus ziehen kann, fällt möglicherweise wenig schmeichelhaft für die Amtskirchen aus.

Der Antisemitismus war und ist Teil der europäischen Geistesgeschichte. So vielfältig wie die Persönlichkeiten, die ihm anhingen, so heterogen sind auch die Spielarten von Antijudaismus/Antisemitismus.

Die Frage nach der Verantwortung Martin Luthers an antisemitischen Traditionen innerhalb des Protestantismus ist eine überaus interessante Diskussionsfrage, Schuldfragen aber gehen mir achtern vorbei, denn in der Regel ist das Urteil schon gefällt. Im Grunde reanimiert Chan die These, dass die deutsche Geschichte nur die Vorgeschichte des 3. Reichs war und eine Konstante von Luther über Friedrich II bis zu Hitler führt.

Wenn wir dieses Labeling konsequent übertragen, muss man dann nicht auch William Shakespeare verurteilen und Charles Dickens, denn sind nicht die Figuren des Shylock im Kaufmann von Venedig und des Fagin in Oliver Twist literarische Verformungen antisemitischer Klischees? Was ist mit der Verantwortung Richard Wagners? Müsste man Nietzsche verurteilen, weil sich Himmler Übermenschen schaffen wollte?
 
Dass auch Luther im ideologischen Flickenteppich des NS rezipiert wurde, steht außer Frage.

Dass es Versuche auch in der Geschichtswissenschaft gegeben hat, eine kausale Kette von Luther zum Holocaust zu ziehen, ist richtig. Mehr auch nicht.

Der eliminatorische, rassistische Antisemistismus des NS, auch in seiner Entwicklung, ist so ausreichend erforscht, dass diese bezeichnete Kette im Forschungsstand nicht gesehen wird.

Interessant ist, wer sich als einer der Ersten so wie von Chan vorgetragen, dieser These - hier apologetisch - bedient hat: Julius Streicher, Herausgeber des Stürmer. Geschehen in seiner Verteidigungsrede im Nürnberger Prozess 29.4.1946:

"Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank, wenn dieses Buch von der Anklagevertretung in Betracht gezogen würde..."

Der absurde Versuch, sich auf Luther "entlastend" zu berufen, hat bei der Anklage zu Recht keinen Erfolg gehabt. Dass Luthers Aufruf, Synagogen zu verbrennen, durch den NS - wie alles antisemitische weltweit - rezipiert wurde, heißt keinesfalls, dass diese Schriften als Katalysator, notwendige Bedingung oder als "kausal" dargestellt werden können.

Im Übrigen bestätigt sich wieder einmal, dass Chans Hinweise auf "unter Historikern unumstritten", Mehrheitsmeinung etc. falsch sind.


Hitler sah sich ja allen Ernstes als eine Art Robert Koch, der der Welt ein gutes Werk tat, indem er Juden, "Asoziale", "Volksschädlinge", "unwertes Leben" ausmerzte. Bei dem was er in "Mein Kampf" das "granitene Fundament" seiner Überzeugungen nannte, taucht Luthers Pamphlet "Von den Juden und ihren Lüügen" allerdings nicht auf.
 
Bei Luther wechselten antijudaistische Phasen und nichtantijudaistische Phasen einander ab. Er hatte sich von der augustinischen Zeugenschaftslehre verabschiedet und wollte die Juden bekehren.


Antijudaistisch und nichtantijudaistisch ist vielleicht das falsch gewählte Begriffspaar. Denn auch die augustinische Zeugenschaftslehre war ja im Grunde antijudaistisch und auch Luthers freundlich gemeintes Angebot gegenüber den Juden sich taufen zu lassen waren natürlich antijudaistisch. Ich korrigiere mich daher:

Bei Luther wechselten aggressiv antijudaistische Phasen und bekehrerisch gesinnte antijudaistische Phasen einander ab.
 
Antijudaistisch und nichtantijudaistisch ist vielleicht das falsch gewählte Begriffspaar. Denn auch die augustinische Zeugenschaftslehre war ja im Grunde antijudaistisch und auch Luthers freundlich gemeintes Angebot gegenüber den Juden sich taufen zu lassen waren natürlich antijudaistisch. Ich korrigiere mich daher:

Bei Luther wechselten aggressiv antijudaistische Phasen und bekehrerisch gesinnte antijudaistische Phasen einander ab.


Im Gegensatz zu manchen Protestanten der Reichskirche, die sozusagen die Quadratur des Kreises versuchten und Jesus von Nazaret den kleinen Ariernachweis verleihen wollten, betonte Martin Luther, das sowohl Jesus wie die Apostel Juden waren. Das was er den Juden vorwarf, war, dass sie auch seine Theologie abwiesen und dem mosaischen Glauben treu blieben, obwohl sie Zeugen des Messias wurden, ihn aber nicht anerkannten.

Sobald ein Jude aber konvertierte, war es gut und die Sache geritzt. Genau das war eben der Unterschied. Was Christen und Juden unterschied, war das theologische Bekenntnis.

Für den rassistisch motivierten Antisemitismus war es wurst, ob ein Jude seine Religion praktizierte, ob er konservativ, liberal oder Atheist war. Er gehörte einer rassisch minderwertigen Volksgruppe an, und eine Konvertierung nutzte ihm gar nichts.
 
Bei einigen Texten, die Luther geschrieben hat, kommt mir das Verb 'poltern' in den Sinn. Wenn er alles ernst gemeint hätte, was er so über Papst und Katholiken geschrieben hat, wäre er nicht ernst zu nehmen. Das waren eben zu einem Teil politische Äußerungen, wie man es heute so nennt. Dazu eher im Bierzeltton gehalten, statt sachlich wirken zu wollen. Dazu habe ich zwar nicht soviel gelesen, aber auch seine Angriffe auf das Judentum hat er nicht immer sachlich verfasst.

Das muss man dann auf das wirklich gemeinte herunterbrechen, wie es meine Vorredner getan haben. Ich schreibe dass, da die Argumente hier doch etwas steril wirken. Man darf die Affekte, insbesondere die Affekte bei Hörern und Lesern nicht vergessen. Da wird bekanntlich gerne bis heute übertrieben, um eine Wirkung zu erzielen.
 
Bei einigen Texten, die Luther geschrieben hat, kommt mir das Verb 'poltern' in den Sinn. Wenn er alles ernst gemeint hätte, was er so über Papst und Katholiken geschrieben hat, wäre er nicht ernst zu nehmen.

Es ist mir zwar nicht klar, auf welche Passagen Du Dich beziehst, aber Weinberg führt zur Zielvorstellung des NS-Regimes / Hitler aus: "..Christianity was to disappear" (Hitler: Visions of Victory, S. 25)

Es hätte nach einem aus Sicht des NS-Regimes erfolgreichen WW2 eine weitere Phase der Verfolgung gegeben und diese hätte vor allem die katholische Kirche betroffen.

Die Bischöfe, so Hitler zu Goebbels, wären exekutiert worden. Die Begründung ist relevant, da es den zentralen Machtkonflikt betrifft. Der Nationalsozialismus, als politische Religion, ist grundsätzlich inkompatibel zu anderen Glaubensgemeinschaften und als totalitäre Herrschaftsform auch nicht angewiesen auf die integrative Funktion von Kirchen. (vgl. ebd. S. 29)
 
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@ thanepower:

Z.B. hatte Luther 1511 Rom besucht. Dort war man auch damals davon überzeugt, dass das Petrusgrab unter der Confessio des Petersdoms, resp. der Baustelle (Baubeginn 1506), liege. Dies hat man auch den Pilgern so gesagt, und es wurde auch beim Bau berücksichtigt. Aber später schrieb Luther, dass niemand wüsste, wo das Grab liege. Und das bekanntlich durchaus polemisch. Ein rhetorischer Kunstgriff, um nicht die kompliziertere, dafür aber korrekte Erklärung zu bringen, dass es eine Tradition gibt, die niemand beweisen kann und so weiter und so fort...

Daher würde ich auch bei anderen Äußerungen vorsichtig sein, und schauen in wie weit er seine "politisch" schreibt. Und wenn man es nicht berücksichtigt, ist man schnell dabei, Luther als Vorläufer der Nazis zu sehen. Dass sich jene Bewegung anders entwickelte, steht dabei natürlich außer Frage. Mehr wollte ich nicht sagen.

Ich verstehe gerade nicht, was der Beschluss, sich gegen die Katholische Kirche zu wenden, mit meinem Post zu tun hat. Vielleicht reden wir aneinander vorbei.
 
Und wenn man es nicht berücksichtigt, ist man schnell dabei, Luther als Vorläufer der Nazis zu sehen.

Nein, ist man sicherlich nicht. Wie schon bezogen auf die Literatur, Goldhagen etc., gezeigt wurde.

Die Anzahl und die Resonanz auf Historiker, die dieses in den Vordergrund stellen, ist überschaubar und haben das Verständnis des NS-Regime zwar erweitert, aber ihre Hypothesen haben keine breite Zustimmung erfahren.

Ich wiederhole mich gerne, weil es zentral ist und den aktuellen theoretischen Erkenntnisstand zu Faschismus / Nationalsozialismus berührt.

Luther war definitiv nicht schuld an Hitler. Dieses läßt sich an den breiteren Darstellungen der ideengeschichtlichen Voraussetzungen deutlich machen.

Betrachtet man ausgewählte Darstellungen zum Faschismus, von Nolte (Der Faschismus in seiner Zeit (S. 406ff), von Paxton (The Anatomy of Fascism), Saage (Fasschismus) oder Payne (A History of Fascism) dann wird der Einfluss von Luther zwar unter anderem erwähnt, aber beispielsweise bei Nolte in einer direkten Spannung zur Reformation, die Hitler als "bolschewistisch" ablehnt, da sie "judenfreundlich" war.

Das Kriterium war auschließlich und isoliert die Haltung zum Judentum, ohne andere Aspekte zu berücksichtigen. Wie beispielsweise im Fall von Luther sein Glaube.

Dass Hitler dabei überhaupt auf Luther rekuriert entspringt nicht der Originalität der Haltung von Luther zum Judentum, sondern dem Fakt, dass Luther als ein "großer Deutscher" galt, in dessen Kontinuität sich Hitler sah.
 
Hitler sah sich ja allen Ernstes als eine Art Robert Koch, ... Bei dem was er in "Mein Kampf" das "granitene Fundament" seiner Überzeugungen nannte, taucht Luthers Pamphlet "Von den Juden und ihren Lüügen" allerdings nicht auf.

Um das nochmal zu flankieren, bevor die Behauptung einer Prägung Hitlers durch Luther untergeht: über die Wurzeln seines Antisemtismus ist viel geschrieben und vermutet worden. Dass Luthers Schriften dabei in der Entstehungsgeschichte eine materielle Rolle spielen, wird nicht ernsthaft vertreten.

Ähnlich wie bei der hier auch im Forum auch schon behaupteten Rolle Wagners für Goebbels.

Das schließt nicht aus, dass es irgendwelche Radikalisierungen des Antisemistimus auch im NS (oder seiner Exponenten) gegeben hat, bei denen Luthers Schriften aus einem wie immer gearteten Verständnis (Dank an Riothamus, der diesbezüglich auf die Differenzierung hingewiesen hat, und auf das Verständnis der Schriften im zeitlichen Kontext) eine Rolle gespielt haben mögen.

Daraus eine Wirkmacht bei der Entstehung des NS oder seines Antisemitismus zu konstruieren, wird - wie hier von mehreren betont - abgelehnt. Selbst die Wahlerfolge des NS in protestantischen Gebieten werden inzwischen - wegen der Mixtur mit weiteren relevanten Ursachen - erheblich differenzierter gesehen als vor 40 Jahren, und sind nicht auf seinerzeit 400 Jahre alte Schriften oder geistige Strömungen zurückzuführen.

Vielleicht sollte man hier mal eine Literaturliste anhängen mit Empfehlungen, die sich auf diese Fragen zur Entstehungsgeschichte, den ideologisch-dogmatischen Kontext des NS beziehen. Jedenfalls die der derzeit relevantesten Werke.
 
In diesem Artikel der FAZ wird die Rezeption von Luthers Judenschriften im 19. und frühen 20. Jahrhundert näher beleuchtet. Die Debatte wurde meist von Enthüllungsrhetorik beherrscht.

Innerhalb der völkischen Bewegung wurde Luther durchaus rege und zum Teil falsch zitiert. Die Theologie setzte bei der Rezeption meist einen ganz anderen Schwerpunkt und bezog sich mehr auf den frühen Luther. Betont wird die hohe Bekanntheit des Maßnahmenkatalog aus "Von den Juden und ihren Lügen" im späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Zu den großen antisemitischen Luther-Zitierern gehören Treischke, Schönerer und insbesondere Theodor Fritsch mit seinem "Antisemiten-Katechismus". Es gibt Hinweise, dass Hitler diese Luther-Zitate aus den antisemitischen Pamphleten kannte. Ich sehe nicht den geringsten Anlass zu der Annahme, Hitler habe Luthers Schriften direkt rezipiert. Judenfeindliche Luther-Zitate waren im Grundrauschen der völkischen Bewegung latent vorhanden.
FAZ schrieb:
In dem seit 1887 erscheinenden „Antisemiten-Katechismus“ des Theodor Fritsch, einem bis 1944 in 49 Auflagen und mehreren hunderttausend Exemplaren verbreiteten Hassdokument abgründigster Art, war Martin Luther die wichtigste, am ausführlichsten zitierte Autorität. ...
Auch in den „Gesprächen“, die Adolf Hitler mit dem Publizisten Dietrich Eckart führte und 1925 unter dem Titel „Der Bolschewismus von Moses bis Lenin“ gedruckt wurden, tauchte dieses und anderes Zitatenmaterial Luthers wieder auf.
Dietrich Eckart war zwar auch Publizist, aber er gehörte zum direkten Umfeld Hilters und NSDAP und war maßgeblich an der Ideologisierung Hilters und der Partei beteiligt.

Das Verhältnis des NS zu Luther ist zwiespältig und widersprüchlich.
Hilters Verhältnis zu den Deutschen Christen, zu Rosenbergs Ideologie oder auch zu anderen völkischen Projekten ist eher distanziert bis ablehned.
Bemerkenswert ist, dass Hitler Luther eben nicht auf dessen Antisemitismus reduzierte, sondern Luthers Vermächtnis als eine Aufspaltung des Volks in zwei Konfessionen ablehnte. Er selbst stellte sich nicht in Luthers Tradition, auch wenn andere, insbesondere Deutsche Christen, genau dies mit ihm taten.
 
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thanepower, wir habe ja schon ein paar mal über Wortbedeutungen diskutiert. In dem Sinne auch hier: Was Du mir unterstellst habe ich nicht behauptet. Dass meine Posts nicht ganz unverständlich geschrieben sind, zeigt mir silesias Post.

Ich gehe davon aus, dass Du weißt, was ein Homonym ist. 'Vorläufer' bedeutet in heutigem Sprachgebrauch auch, dass jemand ähnliche Ideen vorweggenommen hat, ohne dass eine Beziehung zur aktuellen Idee besteht. Dass diese Bedeutung gemeint ist, hättest Du im nächsten Satz erkannt, wenn Du den Post wirklich mit dem Vorsatz gelesen hättest, ihn zu verstehen. Der ergibt bei anderem Verständnis nämlich keinen Sinn, wäre ein Widerspruch. (Ich schreibe das mit dem 'Vorsatz' so deutlich, um deutlich zu machen, wie es auf mich wirkt. Aber natürlich entgeht mir selbst auch mitunter etwas, was ich überlesen habe. Daher will ich damit keine Absicht unterstellen, sondern ausdrücken, dass es auf mich, sagen wir, befremdlich wirkt, zumal ich auf die Möglichkeit eines Missverständnisses hingewiesen hatte.)

Dass Luther durchaus bekannt war, haben schon die Posts von silesia und Maglor gezeigt, besser als ich es gekonnt hätte.

Auch die Frage, warum solche Theorien immer wieder in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ist schon historisch. (Aber natürlich auch ein aktuelles politisches Problem, da die Vermittlung der Erkenntnisse zu dem Thema in Deutschland auch immer zur Staatsraison gehören müssen.) Und dazu gehört eben auch die Erklärung, dass trotz anderer Wurzeln schon vorhandene antisemitische Ideologien und Schriften ausgenutzt wurden. Aber natürlich auch die grundlegendere Erklärung, warum man keinen Stammbaum von Luther zu Hitler aufbauen kann. Alle drei Aspekte müssen aber berücksichtigen, dass man allgemeinverständlich reden muss. (Und diese Idee kann sich ja nun wirklich auf das "dem Volk aufs Maul schauen" Luthers berufen.) Auch dass geht den Historiker an, wenn er nicht im Elfenbeinturm bleiben will. Und hier gehört eben dazu, dass man erklärt, wie Luther seine Texte verfasste, wie die NS-Ideologie zustande kam und wieso Luther zwar zitiert wurde, aber nicht in den Stammbaum jener Bewegung gehört. Und dies ist ja eine Aufgabe der Geschichtsschreibung. Wichtige historische Werke, die aber für ein Fachpublikum geschrieben sind, oder aus anderem Grunde nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung verständlich sind, können nur dann wirksam werden, wenn sie in eine interessante und verständliche Sprache übersetzt werden.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre natürlich schon eine Leseliste, wie von silesia angeregt.
 
Ist eigentlich der Hofprediger Adolf Stoecker in diesem Zusammenhang schon erwähnt worden? https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Stoecker
Hitler erwähnt zwar in Mein Kampf, in dem Teil, der seinen "Wiener Lehrjahren" gewidmet ist namentlich nur Georg von Schoenerer und den Wiener Bürgermeister Karl Lueger als geistige Paten. Wenn es aber um antisemitische und antiemanzipatorische Strömungen im Protestantismus Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts geht, wird man den Hofprediger Adolf Stoecker mit weitaus größerer Berechtigung als Wegbereiter totalitärer Ideologien anführen können, als Martin Luther. Stoecker, der zeitweilig recht großen Einfluss auf Wilhelm II. schon zu seiner Kronprinzenzeit ausübte, versuchte mit seiner Christlich Sozialen Partei im Arbeitermillieu auf Stimmenfang zu gehen. Stoecker propagierte, lange vor Engelbert Dollfuß einen autoritären Ständestaat, der alle Errungenschaften der Aufklärung ablehnte und sich mit seinen antisemitischen Äußerungen sowohl gegen das "verjudete" Kapital wie gegen die Linke wendete, die er für jüdisch unterwandert hielt. Stoeckers Hoffnung, der Sozialdemokratie die Klientel zu entziehen scheiterte, seine Thesen stießen aber innerhalb großer Teile des Protestantismus auf Zustimmung, und zahlreiche Straßen sind heute noch nach ihm benannt. Der Historiker Walther Frank veröffentlichte 1928 eine Biographie Stoeckers, die er Adolf Hitler widmete. Von den Nationalsozialisten wurde er als Vordenker und Vorläufer in Anspruch genommen, und seine antisemitischen Thesen wurden von vielen deutschen Protestanten geteilt. Auch wenn die Kirchen als gegener des NS gesehen wurden und sie in Zukunft aufgelöst werden sollten, haben sich doch viele Protestanten vom Nationalsozialismus vereinnahmen lassen. Das geschah zwar in vielen Fällen, um wenigstens teilweise Organisationen der Gleichschaltung zu entziehen, Die Einführung des Arierparagraphen wurde aber von großen Teilen des deutschen Protestantismus nicht nur geduldet, sondern begrüßt, und die Ermittlung von "Halbjuden" und "Mischlingen" gelang nur dadurch, dass allzuviele protestantische Geistliche Kirchenbücher herausgaben. Der Überfall auf die Sowjetunion wurde vielfach als Kreuzzug begrüßt, und antisemitische Vorurteile waren auch in Kreisen der bekennenden Kirche weit verbreitet.

Diese Antisemiten beriefen sich zum Teil auf Martin Luther, und auch in dem Propagandafilm "Jud Süß", in der der Antiheld Süß Oppenheimer der Tochter des Landschaftskonsulenten Sturm nachstellt (dargestellt von der "Reichswasserleiche Kristina Söderbaum), der sich gegen diese "Rassenschande" ausspricht, versucht der Obrist Röder, ein Kriegskamerad des Herzogs Karl Alexander von Württemberg diesem ins Gewissen zu reden indem er auf ein (angebliches?) Lutherzitat verweist. "Wisse du Christ, dass du keinen größeren Feind hast, als einen rechten Juden".

Wenn @Chan und andere nach der Verantwortung Luthers fragen, so ist das durchaus berechtigt. Legitimer ist es noch, nach der geistigen Ausrichtung und Verfassung eines nicht unbeträchtlichen Teiles des protestantischen Bürgertums zu fragen, den es wenig kümmerte, als jüdischstämmige Glaubensgenossen entrechtet und in Ghettos und KZs gesperrt wurden. Auf Martin Luther beriefen sich aber auch protestantische Christen wie Dietrich Bonhoeffer und Martin Niemöller, die erkannten, wohin die Reise gehen sollte und die sich der Vereinnahmung und Gleichschaltung widersetzten. Es geht um ein überaus vielschichtiges Thema, das eine differenzierte Betrachtung erfordert- ob wie der Threadersteller sagte, auch Schwarzbuchthread dazu passend ist, sei dahingestellt. Erfahrungen mit Schwarzbüchern und deren Autoren zeigen leider sehr oft, dass das Urteil schon vor der Rezeption historischer Quellen und Fachliteratur gesprochen ist.
 
Bei einigen Texten, die Luther geschrieben hat, kommt mir das Verb 'poltern' in den Sinn. Wenn er alles ernst gemeint hätte, was er so über Papst und Katholiken geschrieben hat, wäre er nicht ernst zu nehmen. Das waren eben zu einem Teil politische Äußerungen, wie man es heute so nennt. Dazu eher im Bierzeltton gehalten, statt sachlich wirken zu wollen. Dazu habe ich zwar nicht soviel gelesen, aber auch seine Angriffe auf das Judentum hat er nicht immer sachlich verfasst.

Das muss man dann auf das wirklich gemeinte herunterbrechen, wie es meine Vorredner getan haben. Ich schreibe dass, da die Argumente hier doch etwas steril wirken. Man darf die Affekte, insbesondere die Affekte bei Hörern und Lesern nicht vergessen. Da wird bekanntlich gerne bis heute übertrieben, um eine Wirkung zu erzielen.


Ich denke, das was du mit "poltern" beschrieben hast, trifft auf viele seiner Äußerungen und Tischreden durchaus zu. Luther kannte zwar noch keine "Political Correctness" und drückte sich manchmal sehr derb und holzschnittartig aus, aber ich glaube, dass er selbst sich vermutlich gehütet hätte, alles was ihm bei seinen Tischreden aus dem Gehege seiner Zähne purzelte, tatsächlich zu veröffentlichen. Oft widersprach er sich selbst. Die meisten seiner Tischreden haben seine Studenten und Bewunderer gesammelt, in der Hoffnung, sie irgendwann einmal zu veröffentlichen und zu Geld zu machen.
 
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