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Die Absprache zum Mittelmeer ergab sich unmittelbar aus dem maritimen Rüstungswettlauf, als Zwischenlösung der laufenden Bauphasen und aufgrund der britischen Überlegungen, dass nur eine wirksame Blockade Frankreich helfen könne. Deswegen die Konzentration, "Control the narrow Seas".
Gravierende Veränderungen (Veschlechterungen) im Deutschlandbild kann man bei den vorlaufenden "Navy Scares" wohl nicht annehmen. Bzgl. des fiskalischen Verhaltens ist wichtig, dass die Militär-Budgets unter den Liberalen im Wettlauf gegen das Deutsche Reich schon vor der 2. Marokkokrise angezogen haben. Das geschah mit zahlreichen Friktionen, der innenpolitische Kampf war äußerst heftig und gefährdete die sozialpolitischen Reformen und Ausgaben-Umverteilungen. Da auch das bereits vor der Marokkokrise eingeleitet war, liegen hier längerfristige Trends im deutsch-britischen Verhältnis vor.
Die Balkankrisen zeigten dann eine ordentliche Zusammenarbeit und 1913/14 eigentlich eine Entspannung im beiderseitigen Verhältnis. Außerdem wurde klar, dass der maritime Rüstungswettlauf zugunsten GB entschieden war.
Völlig zutreffend ist natürlich, dass sich die 2. Marokkokrise relativ nahtlos in eine bereits lange vorher begonnene Verschlechterung der britisch-deutschen Beziehungen einfügt. Dennoch meine ich, dass hier nochmals ein besonderer Impetus zu verzeichnen ist, auch wenn dieser als solcher vielleicht nicht sonderlich auffällig ist. Ich hole noch einmal etwas weiter aus:
Mit Bethmanns Kanzlerschaft hatte ein neues Kapitel in der deutschen Politik begonnen. Zum einen hat sich Bethmann vergleichsweise dezidiert an einer Entspannungspolitik mit dem Vereinigten Königreich versucht. Entsprechende Gespräche wurden von ihm bereits 1910 initiiert. Dabei hatte Bethmannn durchaus auch ein Interesse daran, die deutsche Flottenrüstung einzudämmen, um zu einer positiven Einigung zu kommen. Problematisch für ihn war in diesem Zusammenhang das widerspenstige politische Umfeld und auch die Tatsache, dass er diese Ziele selbst nicht konsequent genug verfolgte und bereit war sie anderen eigenen (konservativen) Interessen unterzuordnen. Mit Bethmann kam dann auch der Wechsel im A.A. Das heißt, auch mit Kiderlen sehen wir einen personellen Neuanfang. Und auch Kiderlen war sich, was die England-Politik anging, mit Bethmann in den Grundzügen einig. Die Berufung Bethmanns zum Kanzler war weltweit sehr positiv aufgenommen worden. Und obwohl die Verhandlungen mit GB nur schleppend vorangingen, war der ernsthafte gute Wille Bethmanns deutlich spürbar geworden: Das letzte Flottengesetz lag drei Jahre zurück. Stattdessen gab es – mühsame – Verhandlungen über eine eventuelle Verständigung in der Flottenfrage. Ein Abkommen zum gegenseitigen Informationsaustausch war schon geschlossen worden.
In all dem sehe ich eine erste deutliche Besserung der britisch-deutschen Beziehungen. Und darüber hinaus Potential für eine weitere Entspannungspolitik, ein Umstand der von den Briten – angesichts der positiven Reaktionen auf Bethmanns Ernennung – wohl ähnlich gesehen wurde. Betrachtet man nun die anfängliche Entwicklung der zweiten Marokkokrise, dann erscheint es mir, dass hier tatsächlich durch den Panthersprung und vor allem das sich daran anschließende diplomatische Verhalten des deutschen Reiches wesentlich mehr zerstört und zugleich Potential zu weiterer Entspannung äußerst unnötig verschenkt wurde. Die bis dahin relativ positive Einstellung mancher durchaus einflussreicher Kabinettsmitglieder gegenüber Deutschland ging im Falle Churchills unwiderruflich und im Falle L.G.s zumindest eingeschränkt verloren. Und die Abberufung McKennas, der Massie zufolge stets ein Gegner des Abzugs aus dem Mittelmeer war, der eben zu den Gesprächen über eine „Arbeitsteilung“ zwischen Frankreich und GB unter Churchill führten, war insofern auch äußerst ungünstig. Ich teile Deine Ansicht, dass 1913/14 wir wieder eine Annäherung sehen – nicht nur bei der Balkanpolitik – auch hinsichtlich Bagdadbahn und koloniale Interessensphären. Aber es gibt durchaus Historiker, die das anders interpretieren. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass die Beziehung mit einer anders abgewickelten Marokkokrise noch besser gewesen wären. Zumal diese Verschlechterung wirklich ohne Not verursacht wurde. Wie Du selbst sagst: die roten Linien GBs waren bekannt und wurden ignoriert.
Für die "Beeinträchtigung" des Deutschlandsbilds hat schon die britsche Presse vor den Marokkokrisen Sorge getragen. [...]
Auch nicht uninteressant in diesem Zusammenhang ist sicher, das die Briten mit Reuters in vielen Regionen der Erde quasi eine Art von Monopol über die Nachrichten hatten. Es war sicher nicht auch zuletzt Reuters, das die Deutschen während der Konferenz in Algeciras in den Augen der Weltöffentlichkeit schlecht aussehen ließ.
Natürlich hatte ein Teil der britischen konservativen Presse einen erheblichen Anteil an der Verschlechterung des Deutschlandbildes sowohl in politischen Kreisen als auch der britischen Öffentlichkeit. „The Scaremongers“ von Morris ist eine recht differenzierte Studie zu diesem Themenkomplex. Man darf dabei aber natürlich nicht vergessen, dass die deutsche Politik auch hinreichend Material geliefert hat, um dieses negative Deutschlandbild zu rechtfertigen, wie Silesia zutreffend angemerkt hat (s. oben). Das gilt gerade auch für die zweite Marokkokrise. Dazu gehörte eben nicht nur der Panthersprung, sondern vor allem auch das Schweigen im Walde auf die britische Anfrage, was man denn nun genau wolle.
Die Mansion House Rede Lloyd Georges vom 22.06.1911 hatte in der britischen Presse ein gewaltiges Echo hervorgerufen. Die Antwort, ja der Volkszorn im Deutschen Reich blieb nicht aus. Das entging auch den Briten nicht, deshalb war man bemüht Dampf aus dem Kessel zu nehmen. Es erging an die Presse eine entsprechende Bitte und im Gegensatz zum Deutschen Reich klappte das Zusammenspiel zwischen Presse und Regierung in dieser Krise. Das war aber nicht der Einsicht geschuldet, dass man die deutschen Forderungen als berechtigt anerkannte. (1)
Ich glaube, hier liegt ein Tippfehler vor. Die Mansion-House-Rede war eine Reaktion von Lloyd George auf den Panthersprung und das sich daran anschließende deutsche Schweigen und wurde am 22.
Juli 1911 gehalten. Dass aber die führenden britischen Politiker durchaus eine generelle Berechtigung für deutsche Kompensationsforderungen annahmen ergibt sich aus ihrer Reaktion noch vor dem Panthersprung und schließlich auch noch in der Einwirkung auf die Verhandlungen danach. Die entsprechenden Quellen hatte ich ja schon in meinem obigen Beitrag zitiert, ergänze aber nochmals gerne:
Dockrill, aaO S. 275: „Grey firmly resisted the efforts of his officials to associate Britain with an intransigent French attitude towards what he regarded as Germany's legitimate right to some compensation should changes be made in the Moroccon status quo.“ S. 277: „After all, he [Grey] added, France had turned Morocco into a virtual protectorate, and Germany had every right to compensation if it was to recognise this fact.“ Grey hat auch nachfolgend während der Verhandlungen immer wieder Frankreich dazu gedrängt, größere Zugeständnisse an Deutschland im Kongo zu machen.
Wilhelm erteilte die Genehmigung zum „Panthersprung“ am 26.Juni 1911. (2) Wilhelm hat sich hinterher noch über den Vortrag von Kiderlen beschwert, denn er hätte doch die Erlaubnis schon im Mai erteilt gehabt. Erst nachträglich, nämlich im September hatte er dann behauptet, dass er von der Aktion nur wenig gehalten hätte. (3)
Auch wenn die Quellen und die Sekundärliteratur hier kein vollständig einheitliches Bild liefern, so scheint der Konsens doch dahin zu gehen, dass der Kaiser zunächst nicht von einer militärische Aktion seitens Deutschlands überzeugt war. Erst Kiderlens Denkschrift und entsprechende Vorträge haben den Kaiser schließlich auf Kiderlens Linie gebracht. Das erscheint mir insofern auch unstrittig:
Röhl, Wilhelm II. - Der Weg in den Abgrund 1900 – 1914, etwa zitiert den Kaiser aus einem Telegramm an Bethmann vom 30. April 1911 wie folgt, S. 846: „[...] Uns kann es nur recht sein, wenn Franzosen sich mit Truppen und Geld tüchtig in Marokko engagieren, und ich bin der Ansicht, daß es nicht in unserem Interesse liegt, dies zu verhindern. Verstoßen die Franzosen dabei gegen die Bestimmungen der Algecirasakte, so können wir es zunächst den anderen Mächten, vor allem Spanien, überlassen, dagegen zu protestieren. Vermutlich wird bei uns wieder der Wunsch nach Entsendung vom Kriegsschiffen laut werden. Mit Kriegsschiffen können wir aber, da Tanger nicht bedroht ist, sondern das Aktionsfeld im Inneren liegt, nichts ausrichten. Ich bitte Sie daher einem etwaigen Geschrei nach Kriegsschiffen von vornherein entgegenzutreten.“
Röhl, aaO, schreibt ferner, S. 847: „Anders als Wilhelm II. war Kiderlen entschlossen, die bevorstehende französische Besatzung von Fes […] zu einem spektakulären Vorstoß zu nutzen.“
Etwas offener bleibt die Frage wie viel Widerstand der Kaiser diesen Ideen entgegengebracht hat als sie zuerst geäußert wurden und später am 25./26.6.1911, als Kiderlen sich die endgültige Bewilligung der Schiffsentsendung beim Kaiser holte.
Nach
Röhl, aaO S. 850, war Riezler noch am 29. Mai davon überzeugt, dass der Kaiser keine Schiffe schicken wolle.
Dem entgegen stehen Quellen wonach der Kaiser bereits am 3. Mai [wahrscheinlich ein Fehler im Datum s. u.
König] Kenntnis von Kiderlens Plänen erhielt und diese schließlich billigte,
Röhl, aaO, S. 850. Auch Anfang Juni soll der Kaiser nochmals seine grundsätzliche Einwilligung erteilt haben.
Röhl, aaO, S. 851.
Dem gegenüber behauptete der Kaiser später – wie Du auch erwähnst –, dass er der Aktion unsympathisch gegenüber stand. Wobei meines Erachtens das eine das andere nicht ausschließt.
Forsbach, aaO S. 440, weist darauf hin, das nach den Aufzeichnungen Müllers, Kiderlen erst beruhigend auf den Kaiser einwirken musste, da dieser (zurecht) negative Reaktionen seitens GBs befürchtete.
Forsbach, aaO S. 453, erwähnt auch nochmal die Skepsis, die der Kaiser der Unternehmung entgegenbrachte, allerdings zitiert er da nur Sekundärliteratur, die ich jetzt nicht weiter auf Primärquellen überprüft habe.
Cecil, Wilhelm II Bnd. 2, S. 162, ist der einzige Autor, der davon ausgeht, dass der Kaiser schließlich den Panthersprung von sich aus wollte. Aber auch er stellt fest, aaO S. 160, dass der Kaiser zumindest zu Beginn der Krise daran kein Interesse hatte.
König, Wie mächtig war der Kaiser, S. 178 f., gibt auch klar an, dass der Kaiser erst von Bethmann (Vortrag am 5. Mai s. o.) und dann nochmals von Kiderlen von der Schiffsentsendung überzeugt werden musste.
Oncken, Panthersprung nach Agadir, S. 139, geht davon aus, dass am 26. Juni das Einverständnis des Kaisers „erneut in der Schwebe“ lag. „In großem Kreise äußerte er [der Kaiser], Frankreich befinde sich in einem Dilemma, bei dem Deutschland gut tue, zuzuschauen. Bethmann weihte den Freund des Kaisers Ballin ein, damit dieser ihn vor dem Vortrag bearbeite.“
Wie und wann auch immer der Kaiser von dem Panthersprung überzeugt wurde, jedenfalls war es nicht seine eigene Idee und zumindest eine anfängliche Skepsis des Kaisers ist unstreitig nachgewiesen.
Im AA wurde nicht unbedingt derjenige Staatssekretär, der hierfür auch geeignet war, sondern der vor allem am Hof entsprechend angesehen war. Ein Beispiel ist die Beförderung Tschirschkys zum Staatssekretär des AA nach dem Tode von Richthofen. Bülow konnte sich mit seinem Wunsch nicht durchsetzten.
Wobei das gerade bei Kiderlen anders ablief. Kiderlen war beim Kaiser nicht sonderlich beliebt gewesen – mit ein Grund für sein „Exil“ in Rumänien.
Forsbach geht da relativ detailliert darauf ein. Bethmann suchte jemanden zur Entwicklung einer konkreten England-Politik, die seinem Ziel einer Annäherung entsprach. Und hier waren es letztlich wohl auch persönliche Animositäten, die Bethmann dazu veranlassten Kiderlen mit einer entsprechenden Denkschrift zu beauftragen, und nicht Eisendecher, der nicht nur besser qualifiziert gewesen wäre, sondern auch sein Freund war (und blieb),
Forsbach, Alfred von Kiderlen-Wächter, Bd. 1, S. 322 f..
Forsbach, aaO S. 350 ff., beschreibt recht deutlich wie sich Kiderlen bei Bethmann unentbehrlich machte und dieser schließlich gegen die Vorbehalte des Kaisers (S. 356) Kiderlen als Staatssekretär durchsetzte.
Hattersley schreibt dazu einiges in der Lloyd George-Biographie. [...] Hattersley gibt die Interpretation, dass die Warnung "pazifistisch" gemeint war in dem Sinne: "Ich mag die Deutschen, aber ich hasse die Junker."
Jedenfalls ist der Kontext wichtig, dass L-G der Rüstungswettlauf nicht nur haushaltstechnisch gewaltig auf den Magen schlug. Und in dem zeigte sich das Kaiserreich wenig einsichtig. Dazu kam dann diese politische Krise.
Hattersley, David Lloyd George: The Great Outsider, Kapitel 18: Ninepence for Fourpence.
Sehr interessanter Hinweis, Danke! Das deckt sich auch mit einem Aufsatz, der auch über jstor abrufbar ist:
Morgan, Lloyd George and Germany, in: The Historical Journal, Vol. 39, No. 3 (Sep., 1996), S. 755-766. Morgan kommt zu dem Ergebnis, dass Lloyd George vieles an der deutschen Effizienz, namentlich Bildungssystem und Sozialversicherungen, sehr schätzte, aber mit den imperialistischen, anti-liberalen Strömungen seine Probleme hatte.
Stimme voll zu.