Da ich derzeit in bestimmten Threads (noch?) nicht schreiben kann, sei mein beitrag hier eingestellt.
Der Julikrisenrevisionismus hinterläßt mich einigermaßen überrascht.
Halten wir noch einmal - unvollständig - die völlig unstreitigen Fakten fest, soweit sie das deutsche Agieren in der Krise betreffen:
28.6. - Attentat
29.6. - die Falken in Wien wollen Krieg. Sie werden sich durchsetzen.
5..7. - Hoyos Mission, Blanko-Check. Die post hoc Versicherungen, man habe an Lokalisierung geglaubt, sind wenig glaubwürdig.
9.7. - Konferenz Jagow, Bethmann, Delbrück. Die einzelnen Ressorts bereiten den Krieg vor (ob als Eventualität oder geplant, ist unklar - vermutlich war sich die deutsche Machtelite selber uneins darüber)
13.7. „Der Generalstab ist soweit fertig“ (Waldersee)
14.7. Bethmann spricht gegenüber Riezler von einem Sprung ins Dunkle (unsicher, da die erhaltenen Tagebücher nur Abschriften darstellen. Vermutlich ist das jedoch authentisch)
22.7. Berlin bekommt, noch vor Belgrad, den Text des Ultimatums (inhaltlich wusste man seit Tagen, welchen Schritt Wien unternehmen wird, nämlich: ein mit voller Absicht unannehmbares Ultimatum stellen mit dem Ziel „Krieg“)
24.7. erster Grey-Vorschlag (Konferenz), den er tags darauf wiederholt - natürlich abgelehnt.
25.7. Jagow insistiert beim kuk-Botschafter, Österreich müsse unbedingt die serbische Antwort ablehnen und sofort Krieg erklären (!!!). Gehts denn eigentlich noch deutlicher? Zumindest für den Serbien-Krieg ist das die smoking-gun, die Clark so schmerzlich vermisst.
26.7. Sasonow sucht mit dem deutschen Botschafter Pourtales einen „Dreh“ - alle Vorschläge werden von Berlin abgelehnt.
27.7. Wilhelm sieht keinen Kriegsgrund mehr. Österreich solle sich zufrieden geben (eine der typischen Wilhelm-Pirouetten)
28.7. Der deutliche Rat des eigenen Kaisers (!!!) wird von der deutschen Politik (Bethmann, Jagow, Zimmermann) nur verstümmelt und verfälscht nach Wien weitergereicht.
29.7. Wenninger (bayrischer Militärattache) nach München: Der Chef des generalstabes (Moltke) setzt seinen ganzen Einfluß darein, daß die selten günstige gelegenheit zum Losschlagen ausgenutzt werden solle“
30.7. - Bethmann drängt nun doch auf Vermittlung, Greys Vorschlag (der dem Wilhelms entspricht) wird nach Wien weitergeleitet - es bleibt aber unklar, wie ernst Bethmann es meint. An diesem Tag signalisiert Moltke (über den kuk-Militärattache) nach Wien: „Deutschland geht unbedingt mit!“ Das ist die smoking-gun für den ganz großen Krieg. Ob Moltke hier für einige Stunden einen kalten Staatsstreich durchexerziert, ob er sich vorher bei Wilhelm abgesichert hat, ob Bethmann Bescheid wusste...wir wissen es nicht. Allemal, die Realität beweist es, wird Moltkes Eigenmächtigkeit, wenn es denn eine war, hinterher klammheimlich abgenickt. In einer Stzung des preussischen Staatsrats am frühen Abend (das wird in der Diskussion zu wenig beachtet) räumt Bethmann ein, dass die russische Mobilmachung der deutschen (letztere hat bekanntlich einen eingebauten Automatismus, der zum Krieg führt) nicht vergleichbar sei. Am Abend wird die (ernst gemeinte?) Vermittlung abgebrochen. Spätestens an diesem Tag muss der Entschluß zum großen Krieg in Berlin gefallen sein.
31.7. Belagerungszustand
ab dem 1. 8. erfolgen dann die deutschen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich, der Einmarsch in Belgien und Luxemburg, begleitet von vorfabrizierten, zum Teil absurden Tartarenmeldungen (Fliegerangriff auf Nürnberg, Brunnenvergiften, französische Offiziere in preussischen Uniformen, Franzosen würden belgische Neutralität verletzen etc, )
Die deutsche Kriegstreiberei geht bekanntlich soweit, dass die deutsche Marine Poincares Abfahrt aus St. Petersburg berechnet und den Österreichern nahelegt, die Übergabe des Ultimatums um eine Stunde zu verschieben, damit Poincare dann auch wirklich sicher in See ist und sich nicht mehr mit den Russen beraten kann (die Österreicher gehen auf diesen Vorschlag ein). Während der Rückfahrt Poincares (auf dem Dreadnought „France“, begkleitet von dessen Schwesterschiff „Jean Barth“) stören die deutschen Marinefunkstellen massiv den franzsöischen Funkverkehr. Die deutschen Handelsschiffe werden frühzeitig gewarnt.
Alle deutschen Schritte verliefen so klandestin, dass selbst die Bundesfürsten bzw ihre Ministerpräsidebnten oä sich die Informationen gleichsam zusammenbasteln mussten.
Schlussfolgerung: Österreich und Deutschland, und zwar diese beiden allein, haben agiert, wochenlang. Sie haben den Fehdehandschuh hingeworfen. Dass der dann aufgenommen wurde, ist für die Beantwortung der Frage, wer hier eskaliert habe, uninteressant. Österreich wollte den kleinen Krieg (und fühlte sich bald, vielleicht nicht zu Unrecht, von Deutschland in den Weltenbrand hineinmanipuliert), Deutschland wollte entweder Brinkmanship betreiben und nahm für den Fall einer gescheiterten Risikopolitik den großen Krieg gern in Kauf (den kleinen österreichischen wollte es sowieso und allemal!)...oder es war von Beginn an auf den großen Krieg aus, der ja „eh kommen würde“. Oder (und das halte ich für das Wahrscheinlichste), die Machtelite in Berlin war sich hier uneins, hat auch nicht offen miteinander kommuniziert. Vielleicht waren sogar einzelne Personen hier gespalten (Bethmann selber zB). Sei dem wie dem sei: Österreich und Deutschland haben eskaliert, und zwar sie alleine.
Dass die anderen Mächte auf diese eiskalte Eskalationspolitik reagieren, hat für die Frage nach den Urhebern der Krise und also des Kriegs nicht das Geringste zu bedeuten. Dass jetzt die Propagandalüge vom August 1914, Russlands Mobilisierung sei entscheidend gewesen - auch die Weimarere Republik hat sie sich in ihrem offiziellen Kampf gegen Versailles231 zueigen gemacht - allen Ernstes rehabilitiert wird (gegen alle sattsam bekannten Fakten, die genau zeigen, wer das Spiel eröffnet, wer eskaliert, wer jede Vermittlung torpediert hat!), ist in meinen Augen ein veritabler Wissenschaftsskandal. Im Prinzip liegen die entscheidenden Dokumente seit der Kautsky-Publikation vor. Und wenn ich dann lese, dass Sönke Neizel, der 2002 noch - zutreffend - von der Hauptverantwortung Deutschlands sprach, jetzt vor „Schuldstolz“ warnt und unverhohlen in diesem vorgeblichen Schuldstolz Hemnisse für eine kräftige deutsche Interventionspolitik sieht, wird mir ganz anders.
Belege für alles:
Geiss, Immanuel, Juli 1914, München 1965, 2te 1980 (vergl auch die große zweibändige Edition der Dokumente von 1964)
Stevenson, David, 1914-1918, London 2004, 2te 2012
Mombauer, Annika, Die Julikrise, München 2014
Pöppelmann, Christa, Juli 1914, Berlin 2013
Gasser, Adolf, Preussischer Militärgeist und Kriegsentfesselung 1914,Basel und Frankfurt/Main, 1985
Röhl, John, Vorsätzlicher Krieg? Die Ziele der deutschen Politik im Juli 1914, im Michalka-Sammelband
wichtige weitere Quellen: Die Tagebücher Wolffs, Wenningers und von Müllers (die ungereinigten!)
Der Julikrisenrevisionismus hinterläßt mich einigermaßen überrascht.
Halten wir noch einmal - unvollständig - die völlig unstreitigen Fakten fest, soweit sie das deutsche Agieren in der Krise betreffen:
28.6. - Attentat
29.6. - die Falken in Wien wollen Krieg. Sie werden sich durchsetzen.
5..7. - Hoyos Mission, Blanko-Check. Die post hoc Versicherungen, man habe an Lokalisierung geglaubt, sind wenig glaubwürdig.
9.7. - Konferenz Jagow, Bethmann, Delbrück. Die einzelnen Ressorts bereiten den Krieg vor (ob als Eventualität oder geplant, ist unklar - vermutlich war sich die deutsche Machtelite selber uneins darüber)
13.7. „Der Generalstab ist soweit fertig“ (Waldersee)
14.7. Bethmann spricht gegenüber Riezler von einem Sprung ins Dunkle (unsicher, da die erhaltenen Tagebücher nur Abschriften darstellen. Vermutlich ist das jedoch authentisch)
22.7. Berlin bekommt, noch vor Belgrad, den Text des Ultimatums (inhaltlich wusste man seit Tagen, welchen Schritt Wien unternehmen wird, nämlich: ein mit voller Absicht unannehmbares Ultimatum stellen mit dem Ziel „Krieg“)
24.7. erster Grey-Vorschlag (Konferenz), den er tags darauf wiederholt - natürlich abgelehnt.
25.7. Jagow insistiert beim kuk-Botschafter, Österreich müsse unbedingt die serbische Antwort ablehnen und sofort Krieg erklären (!!!). Gehts denn eigentlich noch deutlicher? Zumindest für den Serbien-Krieg ist das die smoking-gun, die Clark so schmerzlich vermisst.
26.7. Sasonow sucht mit dem deutschen Botschafter Pourtales einen „Dreh“ - alle Vorschläge werden von Berlin abgelehnt.
27.7. Wilhelm sieht keinen Kriegsgrund mehr. Österreich solle sich zufrieden geben (eine der typischen Wilhelm-Pirouetten)
28.7. Der deutliche Rat des eigenen Kaisers (!!!) wird von der deutschen Politik (Bethmann, Jagow, Zimmermann) nur verstümmelt und verfälscht nach Wien weitergereicht.
29.7. Wenninger (bayrischer Militärattache) nach München: Der Chef des generalstabes (Moltke) setzt seinen ganzen Einfluß darein, daß die selten günstige gelegenheit zum Losschlagen ausgenutzt werden solle“
30.7. - Bethmann drängt nun doch auf Vermittlung, Greys Vorschlag (der dem Wilhelms entspricht) wird nach Wien weitergeleitet - es bleibt aber unklar, wie ernst Bethmann es meint. An diesem Tag signalisiert Moltke (über den kuk-Militärattache) nach Wien: „Deutschland geht unbedingt mit!“ Das ist die smoking-gun für den ganz großen Krieg. Ob Moltke hier für einige Stunden einen kalten Staatsstreich durchexerziert, ob er sich vorher bei Wilhelm abgesichert hat, ob Bethmann Bescheid wusste...wir wissen es nicht. Allemal, die Realität beweist es, wird Moltkes Eigenmächtigkeit, wenn es denn eine war, hinterher klammheimlich abgenickt. In einer Stzung des preussischen Staatsrats am frühen Abend (das wird in der Diskussion zu wenig beachtet) räumt Bethmann ein, dass die russische Mobilmachung der deutschen (letztere hat bekanntlich einen eingebauten Automatismus, der zum Krieg führt) nicht vergleichbar sei. Am Abend wird die (ernst gemeinte?) Vermittlung abgebrochen. Spätestens an diesem Tag muss der Entschluß zum großen Krieg in Berlin gefallen sein.
31.7. Belagerungszustand
ab dem 1. 8. erfolgen dann die deutschen Kriegserklärungen an Russland und Frankreich, der Einmarsch in Belgien und Luxemburg, begleitet von vorfabrizierten, zum Teil absurden Tartarenmeldungen (Fliegerangriff auf Nürnberg, Brunnenvergiften, französische Offiziere in preussischen Uniformen, Franzosen würden belgische Neutralität verletzen etc, )
Die deutsche Kriegstreiberei geht bekanntlich soweit, dass die deutsche Marine Poincares Abfahrt aus St. Petersburg berechnet und den Österreichern nahelegt, die Übergabe des Ultimatums um eine Stunde zu verschieben, damit Poincare dann auch wirklich sicher in See ist und sich nicht mehr mit den Russen beraten kann (die Österreicher gehen auf diesen Vorschlag ein). Während der Rückfahrt Poincares (auf dem Dreadnought „France“, begkleitet von dessen Schwesterschiff „Jean Barth“) stören die deutschen Marinefunkstellen massiv den franzsöischen Funkverkehr. Die deutschen Handelsschiffe werden frühzeitig gewarnt.
Alle deutschen Schritte verliefen so klandestin, dass selbst die Bundesfürsten bzw ihre Ministerpräsidebnten oä sich die Informationen gleichsam zusammenbasteln mussten.
Schlussfolgerung: Österreich und Deutschland, und zwar diese beiden allein, haben agiert, wochenlang. Sie haben den Fehdehandschuh hingeworfen. Dass der dann aufgenommen wurde, ist für die Beantwortung der Frage, wer hier eskaliert habe, uninteressant. Österreich wollte den kleinen Krieg (und fühlte sich bald, vielleicht nicht zu Unrecht, von Deutschland in den Weltenbrand hineinmanipuliert), Deutschland wollte entweder Brinkmanship betreiben und nahm für den Fall einer gescheiterten Risikopolitik den großen Krieg gern in Kauf (den kleinen österreichischen wollte es sowieso und allemal!)...oder es war von Beginn an auf den großen Krieg aus, der ja „eh kommen würde“. Oder (und das halte ich für das Wahrscheinlichste), die Machtelite in Berlin war sich hier uneins, hat auch nicht offen miteinander kommuniziert. Vielleicht waren sogar einzelne Personen hier gespalten (Bethmann selber zB). Sei dem wie dem sei: Österreich und Deutschland haben eskaliert, und zwar sie alleine.
Dass die anderen Mächte auf diese eiskalte Eskalationspolitik reagieren, hat für die Frage nach den Urhebern der Krise und also des Kriegs nicht das Geringste zu bedeuten. Dass jetzt die Propagandalüge vom August 1914, Russlands Mobilisierung sei entscheidend gewesen - auch die Weimarere Republik hat sie sich in ihrem offiziellen Kampf gegen Versailles231 zueigen gemacht - allen Ernstes rehabilitiert wird (gegen alle sattsam bekannten Fakten, die genau zeigen, wer das Spiel eröffnet, wer eskaliert, wer jede Vermittlung torpediert hat!), ist in meinen Augen ein veritabler Wissenschaftsskandal. Im Prinzip liegen die entscheidenden Dokumente seit der Kautsky-Publikation vor. Und wenn ich dann lese, dass Sönke Neizel, der 2002 noch - zutreffend - von der Hauptverantwortung Deutschlands sprach, jetzt vor „Schuldstolz“ warnt und unverhohlen in diesem vorgeblichen Schuldstolz Hemnisse für eine kräftige deutsche Interventionspolitik sieht, wird mir ganz anders.
Belege für alles:
Geiss, Immanuel, Juli 1914, München 1965, 2te 1980 (vergl auch die große zweibändige Edition der Dokumente von 1964)
Stevenson, David, 1914-1918, London 2004, 2te 2012
Mombauer, Annika, Die Julikrise, München 2014
Pöppelmann, Christa, Juli 1914, Berlin 2013
Gasser, Adolf, Preussischer Militärgeist und Kriegsentfesselung 1914,Basel und Frankfurt/Main, 1985
Röhl, John, Vorsätzlicher Krieg? Die Ziele der deutschen Politik im Juli 1914, im Michalka-Sammelband
wichtige weitere Quellen: Die Tagebücher Wolffs, Wenningers und von Müllers (die ungereinigten!)