Ich halte derartige mutmaßliche "Befürchtungen" für unrealistisch. Das Deutsche Reich und Russland hatten doch eigentlich keine gröberen Konflikte. Ein Präventivkrieg gegen Russland, nur um die latente russische Bedrohung für den Juniorpartner zu minimieren? Außerdem hätte sich in Zusammenhang mit dem Doggerbank-Zwischenfall (der garantiert hätte, dass Großbritannien nicht Russland unterstützt), der russischen Niederlage gegen Japan und den folgenden revolutionären innenpolitischen Verwerfungen in Russland eine gute Gelegenheit für einen kombinierten deutsch-österreichischen Angriff geboten. Wenn man damals nicht angriff, warum dann Jahre später, als sich Russland wieder konsolidiert hatte?
Ein Präventivkrieg gegen Russland nur um aus deutscher Sicht die Bedrohung für den Bündnispartner zu minimieren hätte sicherlich keinen Sinn ergeben. Einer um die Entente zu sprengen, bevor die einen nicht mehr einholbaren Rüstungsvorsprung erzielte oder einer um die Hegemonie über Europa zu erreichen (in der Interpretation der Entente jedenfalls, deren Mitglieder ja durchaus so etwas befürchteten) aber schon.
Natürlich wäre so zwischen 1905 und 1910 die Gelegenheit günstiger gewesen. Andererseits gab es da noch keine großen russischen Rüstungsprogramme, die Handlungsdruck auf Berlin ausüben konnten und ob die britisch-russische Verständigung von Dauer sein oder rasch scheitern würde, wusste damals auch noch niemand.
Wegen der krisenhaften Situation um die Irland-Politik, war aber auch im Juli 1914 durchaus fraglich, ob GB die Kapazitäten haben würde sich gerade in einen großen europäischen Konflikt einzumischen und dass London die eigenen Karten erst sehr spät auf den Tisch legte konnte der Vorstellung, GB würde sich ggf. heraushalten, während der Krise zuarbeiten.
Demgegenüber kannte man auf russischer Seite aber in groben Zügen den Schlieffenplan.
D.h. man wusste, dass Berlin militärisch mit Blitz-Feldzugsszenarien plante, auf so etwas vorbereitet und letztendlich bereit war in diesem Zusammenhang bis dato neutrale Länder nötigenfalls zu überfallen.
Außerdem wusste man, dass das Österreichische Vorgehen gegen Serbien bedeutete, dass Berlin hinter der Donaumonarchie stand, weil Wien sonst im Alleingang diesen Schritt nicht hätte gehen können.
Das aber bedeutet, dass St. Petersburg klar sein musste, dass Berlin im Machtpoker bereit war im Osten all in zu gehen und einen Krieg mit Russland zu riskieren.
Wenn Berlin wegen der Österreichisch-Serbischen Angelegenheiten einen möglichen Krieg gegen Russland billigend inkauf nahm, was es bereits zu verstehe gegeben hatte (obwohl es keine besonderen Probleme zwischen Deutschland und Russland gab), wäre es da aus St. Petersburger Sicht so abwegig gewesen zu befürchten, dass Berlin sich auch in einen direkten Krieg mit Russland einlassen würde?
Immerhin die Gefahr bestand bereits in der serbischen Angelegenheit und wurde von Berlin akzeptiert, was als hoch irrationaler und agressiver Schritt verstanden werden konnte.
Nicht wenn man die Berliner Interna kennt und weiß, dass die deutsche Regierung in Sachen Serbien von der Einkreisungspanik und der (aus meiner Sicht etwas irrationalen) Befürchtung den letzten wirklich verlässlichen Bündnispartner zu verlieren getrieben war.
Aber diese Interna dürften die russischen Militärs, als sie den Zaren zur Mobilisierung drängten eher nicht gekannt haben.
Bei den Westmächten, hatte sich ja bereits so ein wenig die (falsche) Einschätzung verfestigt, dass Österreich mehr und mehr zu einem Anhängsel Deutschlands geworden sei und dass hinter Wiens konfrontativer Balkanpolitik eigentlich Berlin als treibende Kraft steckte, der man eine einigermaße Dynamische Machtpolitik auf Grund der Kolonialen Aktivitäten und der Marokko-Kriesen eher zutrauen konnte und das deutsche Verhalten in der Juli-Kriese konnte diese Fehleinschätzung durchaus stützen.
Sollte St. Petersburg das Binnenverhältnis der Zentralmächte ähnlich eingeschätzt haben, wie London und Paris das taten und davon ausgegangen sein, dass am Ende vor allem Berlin aus imperialem Machtstreben heraus als Urheber hinter der Aktion stand, hätte das bedeutet, dass man davon hätte ausgehen müssen, dass Berlin gerade, wahrscheinlich mit dem Ziel einer Hegemonie in Europa volldampf vorraus in einen bewaffneten Konflikt im Osten steuerte mit dem Ziel in Russlands Interessenssphäre zu wildern und dass es dazu seinen Juniorpartner in Marsch gesetzt habe.
Wenn man das angenommen haben sollte, hätte man Deutschland durchaus auch zutrauen können aufs Ganze zu gehen und Russland direkt anzugreifen, wenn dieses keine Vorsichtsmaßnahen traf.
Es kommt da, denke ich, wirklich darauf an, wie viel von den realen Abläufen im Binnenverhältnis der Zenntralmächte die russischen Militärs tatsächlich richtig oder nicht richtig verstanden/einschätzten.
Und im Fall Russlands wird man berücksichtigen müssen, dass die Militärs, bei denen Einsicht in die politischen Vorgänge und deren richtige Beurteilung in weniger hohem Maße vorrausgesetzt werden können, als bei den Diplomaten, erheblichen Druck auf den Zaren ausübten die Mobilmachungsorder zu erlassen.
Hier wäre also auch zu fragen, war die Informationslage der Militärs vergleichbar mit der der russischen Diplomaten und Außenpolitiker, oder hatten die mittlerweile, möglicherweise aus mangelndem Verständnis der Vorgänge das Vertrauen in die eigene auswärtige Politik verloren und beschlossen die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?