Das demographische, technische und politische Erstarken der Germanen hatte für Rom keineswegs nur negative Auswirkungen. Das Wort des Scipio Nascia, Rom brauche einen Wetzstein, gilt wie für die karthagische, so auch für die germanische Drohung. Das ihrethalben notwendige Heer war stets ein wesentliches Instrument der Romanisierung, der Zivilisation und der Integration der Völker ins Reich. Im Lauf der Zeit zeigte sich aber, daß der germanische Wetzstein härter war als das Schwert des Legionärs.
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Die durch den äußeren Druck erforderliche Vergrößerung des Heeres wurde überwiegend durch Einstellung von Germanen bewältigt. Das ersparte den Bauern den verhassten Wehrdienst, entzog dem Gegner Kräfte, führte aber zu einer Überfremdung des Heeres, das schließlich Politik auf eigene Rechnung machte. Zur Versorgung der Armee mussten Steuern erhöht, musste die Verwaltung ausgebaut werden. Sie entwickelte sich zu einem zusätzlichen Kostenfaktor. Je weniger der Staat die Sicherheit und den Wohlstand zu wahren vermochte, desto weiter verbreitete sich der Verdruß über eben diesen Staat. Immer mehr Menschen waren bereit, auf ihn u verzichten, ja der Welt überhaupt den Rücken zu kehren und ihr Heil im Himmel zu suchen.
Niemand wird bestreiten, daß eine pflichtbewußte Verwaltung, ein zufriedenstellendes Sozialgefüge und tüchtige Kaiser an der Spitze die vorhandenen Ressourcen wirkungsvoller hätten einsetzen können, als es geschehen ist. Männer wie Julian und Valentinian zeigen, was möglich war. Aber mit menschlichen Unzulänglichkeiten müssen wir ebenso auf der anderen Seite rechnen: Den Germanen haben Disziplin- und Planlosigkeit, Ehrgeiz und Zwietracht geschadet. Hätten sie den Kaisern ihre Kriegsdienste verweigert, wären sie ihnen in geschlossenen Verbänden gegenübergetreten, so hätten das Reich schon viel früher erobern können.(...)
Somit läßt sich die Auflösung des Reichs nicht nur als gescheiterte Abwehr, sondern ebenso als mißglückte Einbürgerung der Germanen auffassen. Ob den Römern daraus ein Vorwurf gemacht werden kann, ist schwer zu entscheiden, denn die Interationsfähigkeit eines zivilisatorisch noch so überlegenen, politisch noch so liberalen Systems findet irgendwo ihre Grenze. In der unterschiedlichen Lebens- und Denkweise kulturell eigenständiger, aber zusammen wohnender Gruppen ist immer Stoff zum Streit verborgen. Für sich betrachtet, ist das Verhalten beider Seiten verständlich: auf römischer Seite der Wunsch, was man hatte, zu behalten (das konservative Prinzip), auf germanischer Seite der Wunsch, die eigene Lage zu verbessern (das progressive Prinzip). Das Ende des Imperiums ist unter diesem Blickwinkel das resultat des mißlungenen Ausgleichs der beiden Prinzipien. Mißlungen deswegen, weil die Römer schließlich doch das verloren, was sie hatten, die Germanen aber nicht das gewannen, was sie suchten. Die ihnen so begehrenswert erscheinende römische Kultur vermochten sie nicht fortzuführen, das eroberte Land haben sie nicht zu halten verstanden. Mit Ausnahme des Frankenreichs sind die germanischen Staatsbildungen auf Reichsboden wieder verschwunden.
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Erstaunlicher als der Fall Roms ist das Nachleben der Kultur des Altertums. Was wäre Europa ohne die Antike?